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Siegesparade in Moskau
"Die Bundesregierung hat sehr klug reagiert"

Russland schreibe sich die Befreiung Europas von Nazi-Deutschland gleichsam alleine auf die Fahne, sagt der Historiker Gerd Koenen mit Blick auf die morgige Siegesfeier auf dem Roten Platz. Moskau leite daraus den Anspruch ab, auch heute noch für andere Ex-Sowjetrepubliken zu sprechen. Eine hoch problematische Perspektive, so Koenen im DLF.

Gerd Koenen im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 08.05.2015
    Dirk-Oliver Heckmann: Heute jährt sich das Kriegsende vom 8. Mai '45 zum 70. Mal. Über das Gedenken im Bundestag haben wir ja bereits berichtet. Polen war ja das Land, das die Deutschen zuerst überfielen. Präsident Komorowski, der lud deshalb zum Gedenken auf die Westerplatte, dort wo der Zweite Weltkrieg seinen Anfang nahm. Es war eine Veranstaltung mit deutlichen Bezügen zur Gegenwart. Am Telefon begrüße ich jetzt Gerd Koenen, Historiker und Publizist, Autor des Buchs "Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900-bis 1945", derzeit Fellow des Imre-Kertész-Kollegs an der Universität Jena. Schönen guten Tag, Herr Koenen.
    Gerd Koenen: Schönen guten Tag.
    Heckmann: Über das Gedenken im Bundestag haben wir bereits berichtet. Norbert Lammert, der sprach von einem Tag der Befreiung für ganz Europa. Für viele Deutsche und auch für viele Europäer wurde die eine Diktatur aber durch die andere ersetzt. Wie sollte man damit sinnvoll umgehen, ohne die Opfer des Stalinismus zu negieren?
    Koenen: Ja. Ein Tag der Befreiung für ganz Europa ist es ja unzweifelhaft gewesen. Aber durch eine vielseitige Kriegsanstrengung und das Problem mit der Siegesparade in Moskau ist es ja nun so, dass Russland sich praktisch diese Befreiung Europas selbst auf die russische Fahne heften möchte, und das bringt alles in ein sehr schräges und auch sehr problematisches Licht.
    Heckmann: Inwiefern, denn die Russen, die Sowjetunion hat ja großen Anteil daran?
    Koenen: Die hat einen großen Anteil daran. Aber es war erst einmal die Sowjetarmee. Wenn gesagt wird, Russland habe zum Beispiel 26 Millionen Tote zu beklagen, dann wird da ein ganz großes Leichentuch ausgebreitet, unter dem wir gar nicht genau wissen, welcher Anteil von Russen darunter war. Am schwersten gelitten unter den Gebieten der Sowjetunion haben zum Beispiel die baltischen Republiken, Weißrussland und die Ukraine. Die haben auch das volle Gewicht des deutschen Vernichtungskriegs zu tragen gehabt und standen dann aber wie im Übrigen zum Beispiel auch die russischen Kriegsgefangenen oder die sowjetischen Kriegsgefangenen im Geruch der Kollaboration. Das heißt, am Schluss sollte alles - und das hat Stalin dann '45 gesagt - tatsächlich vor allem die Superiorität Russlands beweisen, und das ist eine ganz problematische Perspektive natürlich auch aktuell, weil daraus ja auch ein Anspruch hergeleitet wird, für die ehemaligen Sowjetrepubliken zu sprechen. Das ist auch übrigens der Grund - und das finde ich ja das Bemerkenswerteste -, warum selbst die am engsten mit Russland verbundenen Länder wie Weißrussland und Kasachstan morgen nicht durch ihre Präsidenten vertreten werden.
    "Besetzung der Krim erster großer Bruch der Nachkriegsordnung"
    Heckmann: Dazu kommen wir gleich noch mal. Heinrich August Winkler, der hat über die Besetzung der Krim gesprochen, heute an diesem Tag. Wie legitim ist das aus Ihrer Sicht, dies anzusprechen?
    Koenen: Die Besetzung der Krim? Das finde ich sehr legitim, weil es tatsächlich der erste große Bruch in der Nachkriegsordnung durch eine einseitige Veränderung mit militärischen Mitteln im Wesentlichen gewesen ist, der einfach nicht übergangen werden kann, und die Siegesparade in Moskau wird jetzt ganz wesentlich auch eine Siegesparade für die Heimholung der Krim ins Reich sein. Nichts anderes.
    Heckmann: Und deswegen ist es eine richtige Entscheidung aus Ihrer Sicht, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht nach Moskau reist zur Siegerparade am 9. Mai, sondern erst einen Tag später am Grabmal des unbekannten Soldaten einen Kranz niederlegt.
    Koenen: Ja. Ich finde eigentlich, dass die Bundesregierung sehr klug reagiert hat, einschließlich des Bundespräsidenten. Wir hatten heute diese Feier. Herr Steinmeier war in Wolgograd. Präsident Gauck hat die Kriegstoten gewürdigt und vor allem auch die toten Kriegsgefangenen. Und Frau Merkel wird auch die Kriegsanstrengung, aber auch die Kriegsopfer würdigen, aber an einem Mahnmal, das tatsächlich den Toten gilt, und über diese Toten soll ja gar nicht in erster Linie oder nur sehr pauschal gesprochen werden. Es soll ja alles auf Sieg gestellt werden und das Leiden ist darin nur eingemauert.
    "Der Vernichtungskrieg reduziert sich manchmal in problematischer Weise auf den Mord an den Juden"
    Heckmann: Bundespräsident Gauck - Sie haben es gerade erwähnt - hat die Tötung von Millionen sowjetischer Kriegsgefangener als eines der größten Verbrechen der Deutschen gekennzeichnet. Das ist in dieser Formulierung ungehört, sage ich mal, in der Forschung nicht umstritten, aber nicht verankert im Bewusstsein der Bevölkerung, der Vernichtungskrieg im Osten. Woran liegt das?
    Koenen: Ja, das liegt daran, dass in mancher Weise auch in einer sehr zynischen Weise, würde ich fast sagen, oder in einer problematischen Weise manchmal der Vernichtungskrieg sich auf den Mord an den Juden reduziert. Der Krieg selber war aber ein ungeheures Verbrechen. Er wurde nur erst mal mithilfe Stalins entfesselt. Und in diesem Verbrechen war zum Beispiel diese Ermordung der russischen Kriegsgefangenen, der sowjetischen Kriegsgefangenen - ich muss mich korrigieren - eines der ganz großen Verbrechen. Warum aber war das so? Erstens, weil die Sowjetunion selbst sich losgesagt hat von diesen Gefangenen. Zweitens, weil sie selber darüber nicht gesprochen hat, weil die ja schon fast als Verräter galten, nur weil sie in Gefangenschaft geraten sind. Jetzt spricht man über die Kriegsgefangenen und wir sprechen viel eher darüber als heute noch die russische Seite, wo alles auf Sieg gestellt ist. Das waren Verräter und deswegen waren sie Freiwild auch für die Nazis.
    Heckmann: Gerd Koenen war das, der Historiker und Publizist. Wir haben gesprochen über den 8. Mai und die Gedenkfeierlichkeiten. Herr Koenen, danke Ihnen für das Gespräch.
    Koenen: Ja, ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.