Erst flogen Böller auf Einsatzkräfte in Neukölln, dann folgte eine Debatte über Migration und Strafverfolgung. Mehr als einen Monat nach den Ausschreitungen an der Silvesternacht in Berlin und anderen Städten klaffen politischer Anspruch und die Realität in der Justiz auseinander. Während Politikerinnen und Politiker unterschiedlichster Parteien eine rasche Strafverfolgung forderten, lässt sich die Justiz nicht unter Druck setzen. Denn kurze Verfahren nach chaotischen Großereignissen schließen sich aus.
Warum sind die Silvesterkrawalle so schwierig aufzuarbeiten?
Die Ermittlungen schwierig und langwierig. Allein die Auswertung des Videomaterials der Silvesterkrawalle dauert Wochen. Eine Aufgabe, mit der die Polizei Wochen nach den Ausschreitungen deshalb noch immer beschäftigt ist.
Welcher Tatverdächtige war es genau, der auf die hintere, linke Tür des Rettungswagens eingeschlagen hat? Ist das derselbe, der kurze Zeit später einen Polizisten angegriffen hat? Sachverhalte, die die Ermittlerinnen und Ermittler in der tumultartigen Situation und auf den bei Nacht aufgenommenen Videos nicht so leicht aufklären können.
Strafrichterin Lisa Jani vom Amtsgericht Tiergarten fürchtet deshalb, dass so mancher Prozess mit einem Freispruch enden könnte: „Wir können eben nicht pauschal sagen: Der war da irgendwie dabei und der hat sich da irgendwie danebenbenommen. Danebenbenehmen ist keine Straftat, sondern man muss konkrete einzelne Handlungen nachweisen, die auch strafrechtlich relevant sind.“ Das sei auch bei Großereignissen wie dem 1. Mai immer wieder schwierig.
Die Silvesterfälle sind allerdings noch gar nicht bei Gericht angekommen. Erste Anklagen hatte die Staatsanwaltschaft Berlin eigentlich im Februar erheben wollen, doch die Ermittlungen ziehen sich hin. Schon dabei zeigt sich, dass im Vergleich zu den chaotischen Szenen der Nacht verhältnismäßig wenig Tatverdächtige ausgemacht werden konnten.
Wegen Angriffen auf Polizei und Rettungskräfte ermittelt die Polizei gegen 44 Personen. Tatsächlich sind darunter viele junge Menschen: 20 Minderjährige und weitere 13 Personen zwischen 18 und 25 Jahren. Weitere Ermittlungsverfahren laufen gegen unbekannt.
Was für eine Rolle spielt es, dass viele Tatverdächtige unter 25 sind?
In vielen Fällen könnte Jugendstrafrecht angewendet werden. Das gilt für alle unter 18-Jährigen. Bei den 18- bis 21-Jährigen würde das Gericht, wenn es zu Anklagen und Gerichtsprozessen kommt, je nach Reife im Einzelfall entscheiden, ob das Jugendstrafrecht greift.
Der Unterschied zum Erwachsenenstrafrecht ist vor allem ein Grundgedanke: Erziehung vor Strafe. Die kriminologische Forschung belegt nämlich, dass 70 bis 80 Prozent der jungen Menschen Straftaten begehen. „Das ist sozusagen normaler Bestandteil der Entwicklung des Erwachsenwerdens, dass man Grenzen austestet und auch überschreitet, bewusst Verbote missachtet“, erklärt der Kriminologe Tobias Singelnstein von der Universität Frankfurt am Main.
Einmal kriminell heißt deshalb bei jungen Menschen längst nicht immer kriminell. „Bei den allermeisten Jugendlichen ist es so, dass das auch von allein wieder aufhört und sie ein Leben ohne Straftaten führen, wenn sie dann ins Erwachsenenalter kommen“, so Singelnstein.
Danach ist auch das Jugendstrafrecht ausgerichtet. Die Grundidee ist, dass der Jugendrichter bzw. die Jugendrichterin gemeinsam mit der Jugendgerichtshilfe herausfinden, was zu der Tat geführt hat und darauf eine passende Antwort finden. In erster Linie sind das dann Maßnahmen, die die Ursache des Problems angehen und erziehen sollen – beispielsweise Anti-Gewalt-Kurse oder soziale Arbeitsstunden. Erst in letzter Konsequenz wird eine Jugendstrafe verhängt.
Sind schnelle Verfahren sinnvoll?
Grundsätzlich ja. Gerade bei jungen Menschen gilt, dass schnelle Verfahren sinnvoll sind. Je rascher das Verfahren, desto eher bringt der Jugendliche oder junge Erwachsene die Sanktion nämlich noch in Verbindung mit der Tat. Das belegt die kriminologische Forschung, zeigt aber auch die Arbeit mit straffälligen Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Praxis.
Ein oder zwei Jahre im Leben eines jungen Menschen sind ein anderer Entwicklungszeitraum als für einen Erwachsenen. „Es ist schwieriger, wenn die Tat schon ein oder zwei Jahre her ist. Dann steht der Jugendliche oft an einem anderen Punkt“, erklärt Sven Frische von der Integrationshilfe des Evangelischen Jugendfürsorgewerks in Berlin.
Zu dem 59-Jährigen Frische kommen beispielsweise Jugendliche, die ein Gericht zu einem Anti-Gewalt-Kurs verpflichtet hat. Dauert ein Verfahren lange, erlebt Frische es oft, dass der Jugendliche inzwischen zum Beispiel eine Ausbildung macht. In solchen Fällen sei es meist wenig sinnvoll, die Tat noch mal aufzurollen. Der vom Gericht verhängte Anti-Gewalt-Kurs sei dann nicht mehr die richtige Maßnahme.
Auf der anderen Seite haben schnelle Verfahren oft den Preis, dass auf eine ausführliche Hauptverhandlung verzichtet wird. Die ist aber gerade bei komplizierten Fällen wichtig, damit der Angeklagte ein faires Verfahren bekommt. In solchen Fällen dauern auch die Ermittlungen oft lange, weil Polizei und Staatsanwaltschaft für die genaue Beweisführung Zeit brauchen. Rechtsstaatlich ist es also nicht immer vertretbar, Verfahren schnell zu führen, weil sie auf Kosten der Gründlichkeit gehen können.
Was macht Jugendstrafverfahren langsam?
Was die Länge von Jugendstrafverfahren betrifft, ist die Datenlage gar nicht so einfach. Bundesweit gibt es nämlich keine Daten über die durchschnittliche Verfahrensdauer. Baden-Württemberg ist mit sechs Monaten verhältnismäßig schnell, Berlin mit zehn Monaten eher langsam. Dort hängen die Verfahren allein bei der Staatsanwaltschaft durchschnittlich ein halbes Jahr.
Das hängt nach Ansicht des Berliner Staatsanwalts Sebastian Büchner auch mit den personellen Ressourcen zusammen. Auf jeden Staatsanwalt bzw. jede Staatsanwältin kommen in Berlin etwa 1000 Verfahren pro Jahr. Das macht in etwa fünf bis sechs Verfahren pro Arbeitstag, die abgearbeitet werden müssen. Büchner findet es deshalb übergriffig, wenn Politikerinnen und Politiker schnelle Verfahren fordern, die Justiz aber gleichzeitig personell nicht besser ausstatten.
Auch mit der digitalen Strafakte könnte es schneller gehen. Momentan geht viel Zeit verloren, indem Akten von Behörde zu Behörde mit kopiert und geschickt werden müssen. Verpflichtend wird die sogenannte E-Akte aber erst ab 2026. Den wichtigsten Unterschied mache aber, wie engagiert die Person sei, bei der der Fall auf dem Tisch liege, meint Büchner.
Ruben Franzen ist seit fast 30 Jahren Richter am Amtsgericht Eilenburg in der Nähe von Leipzig. „Bei Jugendlichen unterscheide ich sehr stark danach, ob jemand Gefahr läuft, durch sein Handeln weitere Straftaten zu begehen. Wenn das der Fall ist, dann ist es meines Erachtens sehr sinnvoll, verhältnismäßig schnell zu reagieren.“
Herauszufinden, welche Fälle das seien, funktioniere vor allem, wenn Polizei, Staatsanwaltschaft, Jugendgerichtshilfe und Gericht eng kooperieren. Wichtig sei, Informationen schnell zu teilen, also besser kurz anzurufen, anstatt alles nur in der Akte zu dokumentieren.
Geht es mit vereinfachten Verfahren schneller?
Ja, aber sie eignen sich nicht für alle Fälle. In Berlin werden beispielsweise etwa 16 bis 20 Prozent der Jugendverfahren vereinfacht entschieden. Genaue Daten dazu, wie viel schneller es dann geht, gibt es nicht. Amtsrichterin Lisa Jani schätzt aber, dass die Verfahren dann vor Gericht weniger als zwei Monate dauern.
Hinzu kommt aber noch die Zeit der Ermittlungen bei Polizei und Staatsanwaltschaft. Viel diskutiert wurde im Zusammenhang mit den Vorfällen zu Silvester vor allem das sogenannte Neuköllner Modell, das eine Sonderform des vereinfachten Verfahrens ist. Die Idee geht zurück auf die inzwischen verstorbene Neuköllner Jugendrichterin Kirsten Heisig. Sie setzte darauf, sich besonders früh und besonders eng mit Polizei und Staatsanwaltschaft auszutauschen, um auf kurzem Dienstweg beispielsweise Informationen über das Umfeld des Täters zu bekommen, die sonst erst formell hätten dokumentiert werden müssen.
Vereinfachte Verfahren sind aber nur bei simplen Fällen sinnvoll. „Das Ganze eignet sich vor allem für Fälle der einfachen und mittleren Kriminalität“, erläutert Staatsanwalt Sebastian Büchner. „Zum Beispiel die Jugendliche, die zum wiederholten Mal Ladendiebstahl begangen hat und die dann eine kurze, vereinfachte Verhandlung bekommen soll, wo vielleicht nur noch der Ladendetektiv als Zeuge dazu geladen werden muss.“ In solchen Fällen ist der Sachverhalt also relativ klar.
Eine umfangreiche Beweisaufnahme und Zeugenvernehmungen entfallen oft. Deshalb ist in solchen Verhandlungen die Staatsanwaltschaft meist nicht anwesend. Das Gericht kann so schneller einen Verhandlungstermin finden und die Verhandlung auch schon mal informell im Dienstzimmer durchführen, anstatt auf einen freien Sitzungssaal angewiesen zu sein.
Die Rechtsfolgen von vereinfachten Verfahren sind deshalb begrenzt: Eine Jugendstrafe darf beispielsweise nicht verhängt werden. Schon deshalb sind vereinfachte Verfahren bei schwerer Kriminalität nicht sinnvoll. Bei den Silvesterfällen scheiden sie allein deshalb aus, weil die Sachverhalte zu kompliziert sind.