Archiv

Social Media
Wie TikTok die Musikindustrie verändert

Der Einfluss der Video-App TikTok auf die Musikindustrie wird immer größer – mit teilweise erheblichen Folgen für Musikerinnen und Musiker, Plattenlabels, die Charts, Verwertungsmodelle und sogar die Art, wie Popsongs geschrieben und produziert werden.

Von Mike Herbstreuth |
Das Logo der Kurzvideo-App TikTok auf einem Handybildschirm.
Immer mehr Hits haben ihren Ursprung auf der Plattform TikTok (picture alliance/dpa)
Momentan liegt Instagram mit einer Milliarde Nutzerinnen und Nutzer auf Platz 6 der größten Sozialen Netzwerke weltweit, könnte diesen Platz aber schon bald an TikTok verlieren. Die Video-App des chinesischen Konzerns ByteDance hat bislang 800 Millionen Userinnen und User weltweit - Tendenz steigend, und das trotz Kritik am Datenschutz von TikTok und Vorwürfen, dass dort homosexuelle Nutzerinnen und Nutzer und Menschen mit Behinderung diskriminiert werden.
Doch die Nutzungszahlen steigen, wohl auch wegen der aktuellen Weltlage, denn die Inhalte von TikTok sind wie gemacht für unkomplizierte Unterhaltung in langweiliger Quarantäne: Userinnen und User performen lippensynchron zu Schnipseln ihrer Lieblingssongs, unterlegen kleine Sketche mit Musik oder machen bei Tanzchallenges zu bestimmten Liedern mit. Musik spielt auf TikTok eine extrem große Rolle.
Ein Junge hält sein Smartphone in die Kamera, auf dem die App TikTok geöffnet ist
TikTok - Chinas Ambitionen auf dem deutschen App-Markt
Mit der Video-App TikTok erreicht der chinesische Konzert ByteDance in Deutschland mehrere Millionen Nutzer. Dass eine digitale Plattform aus China auf den Markt dränge, sei eine völlig neue Entwicklung, sagte der Journalist Stephan Scheuer im Dlf.
Wachsender Einfluss auf die Charts
Auf diese Art hat sich TikTok zu einem neuen Player auf dem Musikmarkt entwickelt, der aktuell dabei ist, die Musikindustrie zu verändern. "Der Einfluss von TikTok auf die Charts wächst seit einigen Jahren und wird immer deutlicher. Das offensichtlichste Beispiel dafür ist Lil Nas X - er hat dank eines Songs auf TikTok den Durchbruch geschafft", so Chaz Jenkins vom Unternehmen Chart Metric, das die Charts von Streamingdiensten analysiert.
"Old Town Road" von Lil Nas X wurde erst durch TikTok zum Hit, nachdem dort Hunderttausende Userinnen und User Videos zu dem Song gepostet hatten. Das Lied kletterte in den Streaming-Charts an die Spitze und schaffte es von dort ins Radio und in die Billoard Charts. Und das scheint aktuell bei vielen Songs der Weg zu sein: So lief es vor ein paar Monaten zum Beispiel auch mit dem Song "Say So" von Doja Cat, mit "ily" von Surf Mesa oder "Death Bed (Coffee For You Head)" von Powfu.
"Es sind Songs, die Platz dafür lassen, um mit ihnen zu interagieren. Man muss sie selbst aktivieren, in dem man zu den Songs performt, dazu tanzt, dazu ein lustiges Video aufnimmt. Man ist selbst Teil davon, was diese Songs besonders macht", beschreibt Nick Sylvester das, was einen erfolgreichen TikTok-Song ausmacht. Er ist Songschreiber, Produzent und Betreiber des Labels Godmode, das schon für einige virale Hits auf TikTok verantwortlich war.
TikTok-Hits beeinflussen aktuelle Pop-Produktionen
Vor allem Rapsongs dominieren auf Plattform, was für Sylvester einen einfach Grund hat. "Alles, was die Leute sehr einfach wiederholen können und was rhythmische Muster hat, zu denen man tanzen kann, ist von Vorteil. Deshalb ist Rap auch so erfolgreich auf TikTok - es ist sehr ryhthmisch und repetitiv, aber auf eine gute Art. Die Musik ist ziemlich einfach aufgebaut und sie klingt gut auf Handylautsprechern."
Diese TikTok-Erfolge hätten auch Auswirkungen auf den Sound vieler aktueller Rapsongs, so Sylvester. Statt sehr basslastige, tiefe und geschmeidige Drums wie noch vor einigen Jahren würden viele Songs jetzt auf verzerrte, aggressive und laute 808s setzen. "Es muss verzerrt und lärmig sein, damit sie auf Handylautsprechern überhaupt zu hören sind."
Immer mehr Musikerinnen und Musiker würden sich auch immer mehr an der Struktur von TikTok orientieren. Die nur 15-sekündigen Videos benötigen eine spezielle Dramaturgie - zum Beispiel einen 11-sekündiges Intro mit anschließender 4-sekündigem Höhepunkt. "Und über Musik auf diese dramatische Art nachzudenken, dass sie einen bestimmten Aufbau und dann diese Pointe hat - in diesem Sinne hat TikTok das aktuelle Songwriting definitiv beeinflusst", glaubt Sylvester.
Labels entdecken App als Marketinginstrument
Mittlerweile entdecken auch immer mehr Labels TikTok für sich - als Talentpool und als Marketinginstrument. Das Label Groove Attack hat für die Single "Du Bist Mein" der Rapperin Loredana sehr stark auf TikTok gesetzt: es gab Videos zum Entstehungsprozess des Songs auf der Plattform, ein Vorab-Ausschnit, eine eigene Tanz-Challenge, und die besten TikTok-Videos konnten Teil des Musikvideos von Loredana werden. Als das Video dann offiziell veröffentlicht wurde, stieg es sofort auf Platz 1 der YouTube-Charts ein und wurde bis heute über 20 Millionen Mal geklickt. Und auch der Song selbst schaffte es auf Platz 1 der Deutschen Single Charts.
"TikTok war anfangs ein interessanter Ort technikaffine Jugendliche, um ihre Musik und sich selbst zu vermarkten. Aber so im Laufe des Jahres 2018, 2019 haben Plattenlabels bemerkt, dass diese jungen Künstlerinnen und Künstler, die ihre Songs auf TikTok zur Verfügung stellen und dort Videos veröffentlichen, auf der ganzen Welt unglaubliche Reichweiten erzielen. Besonders in den USA sind im letzten Jahr deshalb gleich mehrere Musikerinnen und Musiker von Plattenfirmen unter Vertrag genommen worden, nachdem sie einen viralen Hit bei TikTok hatten", sagt Chaz Jenkins von den Chart-Analysten Chart Metric.
Ein Erfolg auf TikTok kann also die Karriere voranbringen, kann für Spitzenplätzen in den Charts sorgen, aus unbekannten Künstlerinnen und Künstlern Stars machen, aber: selbst wenn ein Song auf TikTok in Millionen von Videos verwendet wird - allein vom Tik-Tok-Erfolg können die Musikerinnen und Musiker nicht leben, sagt Labelchef Nick Sylvester.
TikTok schüttet nur "winzige Beträge" aus
"Die Plattenfirmen arbeiten hart daran, dass ihre Künstlerinnen und Künstler für die Verwendung ihrer Musik Geld bekommen. Aber momentan sind die Beträge winzig, die man von TikTok bekommt, im Vergleich zu dem, was man auf anderenPlattformen bekommt. Durch TikTok kann man auf den Radar von Plattenfirmen kommen und bekannt werden. Es ist momentan noch keine richtige Geldquelle."
Mittlerweile verhandeln mehrere Labels mit TikTok über Lizensierungsverträge für die Kataloge der Plattenfirmen und einige Major-Labels wie Universal, Sony oder Warner haben schon Verträge mit TikTok abgeschlossen. Für Florian Drücke vom Bundesverband Musikindustrie, einer Interessenvertretung deutscher Tonträgerhersteller und Musikunternehnen, ein wichtiger Schritt.
"Was ich höre, ist, dass es hier eine Akzeptanz gibt, dass man einen Teil des Kuchens abgeben muss. Und die Diskussion darüber, wie groß letztlich der Teil des Kuchens ist, den man abgibt, das ist eine Diskussion, die ist natürlich extrem schwierig und teilweise auch langwieriger. Aber ich gehe davon aus, dass man hier hoffentlich bald eine Einigung findet."
ByteDance testet eigene Streamingdienst Resso
Denn TikTok zeige, wie wichtig bereits kleine Ausschnitte von Musik seien und welchen Wert diese hätten. "Hier hat ein ganzer großer neuer Dienst die Wertschöpfung quasi darauf aufgebaut. Und die Nachricht ist ganz klar: hier muss ein Teil auch in den Taschen der entsprechenden Akteure, Künstler und ihren Partner landen."
Vorerst setzt TikTok weiterhin auf Musikschnipsel und Tools, um mit Songs zu spielen, sie zu rekontextualisieren, sie zu Memes zu verarbeiten. Dadurch können Userinnen und User zum ersten Mal, statt Lieder nur zu hören oder dazu zu tanzen, aktiv mit ihnen interagieren.
Es könnte allerdings sein, dass dem chinesischen Konzern ByteDance dieses Alleinstellungsmerkmal bald nicht mehr reicht und es doch mehr sein soll als nur Songschnipsel. In Indien und Indonesien hat ByteDance schon einen neuen Streamingdienst namens Resso gestartet. Der hat große Ähnlichkeit mit Spotify, mit dem Zusatz, dass Resso auch auf interaktive Inhalte setzt - man kann Songs kommentieren oder Songtexte teilen. Ob es der Dienst auch in Europa mit den etablierten Streamingdiensten aufnehmen wird, dazu gibt es von ByteDance noch keine Informationen.