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Solidarität
Flüchtlingskrise spaltet die Europäische Union

Griechenlandkrise, Ukrainekrise - und dann auch noch die Flüchtlingskrise. Für die Europäische Union war 2015 kein gutes Jahr. Besonders der Umgang mit den Flüchtlingen bleibt schwierig. So schwierig, dass Bundeskanzlerin Merkel schon im Sommer vor einem Versagen Europas warnte.

Von Annette Riedel | 31.12.2015
    Flagge der EU hinter Stacheldrahtzaun
    "Wir müssen unsere Politik der offenen Türen und Fenster gegenüber den Flüchtlingen beenden", sagte EU-Ratspräsident Donald Tusk. (imago / Martin Bäuml Fotodesign)
    Zu sagen, dass 2015 kein gutes Jahr für die Europäische Union gewesen ist, wäre schon fast fahrlässig untertrieben. EU-Parlamentspräsident Schulz sagte es beim EU-Gipfel im Dezember so:
    "Ich bin seit 21 Jahren Abgeordneter des Europäischen Parlaments. Ein solches Jahr, das mit Terror anfängt und mit Terror aufhört, das von Angst geprägt ist von tiefen ökonomischen Krisen, von einem Auseinanderdriften der Mitgliedsstaaten, wie es nie zuvor der Fall war – ein solches Jahr hab' ich jedenfalls noch nicht erlebt. Und man kann nur hoffen, dass es 2016 besser wird."
    Dafür, dass sich Martin Schulz' Hoffnung erfüllt, spricht Ende 2015 nicht allzu viel.
    Wo die erlebte Bedrohung durch den Terror nach den Anschlägen von Paris im Januar und November die EU-Staaten eher zusammenrücken ließ, wo es ihnen in der andauernden Ukraine-Krise und bei den Beziehungen zu Russland gelang, ein Maß an Zusammenhalt zu erreichen, was sie zumindest handlungsfähig gemacht hat, wo selbst das nächtelange Zerren um die Rettung Griechenlands sie nicht unüberbrückbar gespalten hat – in der Flüchtlingskrise droht genau ein solches Szenario der Spaltung. In Willige und Unwillige. Zuletzt schien es so, als ob die Spaltung nicht droht. Sondern dass die Spaltung schon da ist. Für EU-Überzeugte, wie den CDU-Europaparlamentarier Herbert Reul, kann der EU kaum etwas Schlimmeres widerfahren.
    "Die Erwartung, die ich habe, ist, dass die europäischen Staatschefs verstehen, dass Solidarität nicht nur dann gebraucht wird, wenn man selber einen Vorteil hat, sondern dass man auch geben muss. Das war die Idee Europas. Und das nicht wieder klar wird, werden wir die meisten Probleme nicht mehr lösen können. Meine Befürchtung ist, wenn die das nicht hinkriegen, wird Europa Schwierigkeiten kriegen, auch bei den Menschen akzeptiert zu werden."
    Solidarisches Handeln nicht in Sicht
    Diese Schwierigkeit hat Europa schon. Zu Kompromissen, zu solidarischem Verhalten, zu einer Balance zwischen Geben und Nehmen zu kommen, wird nicht leichter durch die Tatsache, dass in Europa rechtes, Neonationales, im Kern Europafeindliches weiter an Boden gut macht – in und außerhalb der Parlamente. In den Augen derer muss die EU nicht Teil der Lösung der internationalen Flüchtlingskrise sein, sondern ist sie das Problem. Die Slowakei und Ungarn sind in ihrer Ablehnung einer fairen Lastenteilung so weit gegangen, dass sie beim Europäischen Gerichtshof Klage eingereicht haben, wegen des mit Gegenstimmen gefassten Beschlusses, 160.000 Flüchtlingen aus Griechenland und Italien auf alle EU-Länder fair zu verteilen.
    An einem Punkt aber scheinen sich zumindest alle einig zu sein: Ohne Kontrolle der Außengrenzen, ohne geregelte und geordnete Registrierung aller Menschen, die Einlass in die EU begehren, ist die im Prinzip fast grenzenlose Bewegungsfreiheit innerhalb der EU auf Dauer in Gefahr.
    "Wir erleben zum ersten Mal, dass zwischen den europäischen Ländern jetzt wieder Grenzwälle entstehen oder übertriebene Kontrollmaßnahmen"
    Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Pressekonferenz nach dem EU-Gipfel in Brüssel.
    Bundeskanzlerin Angela Merkel berichtet über die Ergebnisse des EU-Gipfels in Brüssel. (picture alliance / dpa / Stephanie Lecocq)
    Nicht nur Kommissionspräsident Juncker, mehr noch EU-Ratspräsident Tusk, hat seit Beginn der Flüchtlingskrise immer wieder betont, dass es nicht in aller erster Linie um faire Verteilung von Flüchtlingen in der EU ginge, sondern darum, sie nicht unkontrolliert einreisen oder weiterreisen zu lassen. Tusk ging Anfang Dezember noch einen Schritt weiter – in direkter Konfrontation zur deutschen Bundeskanzlerin - als er verlangte, dass Europa seine Grenzen nicht nur zu kontrollieren sondern auch zu schließen habe.
    "Wir müssen unsere Politik der offenen Türen und Fenster gegenüber den Flüchtlingen beenden. Der Fokus muss jetzt auf der Kontrolle der Außengrenzen liegen und der Unterstützung für Flüchtlinge in den Ländern in unserer Nachbarschaft."
    Wie die Türkei, die zum einen Flüchtlinge aufnimmt und die als Mittelmeeranrainer-Land verhindern könnte und künftig soll, dass Flüchtlinge versuchen auf dem gefährlichen Seeweg in die EU zu gelangen. Als eine Art Motivationshilfe hat die EU der Türkei Geld und eine Wiederbelebung der schleppenden EU-Beitrittsverhandlungen versprochen.
    Ein EU-Afrika-Gipfel auf Malta im November war ein Signal, dass die EU es ernst meint, wenn sie erklärt, den Dialog und die tätige Zusammenarbeit mit Transitländern und mit Herkunftsländern von Flüchtlingen und illegalen Migranten ausbauen zu wollen. Mit der Maßgabe, dass sich weniger Menschen nach Europa aufmachen mögen. Aus demselben Grund hat Europa auch seine diplomatischen Anstrengungen in den letzten Monaten deutlich verstärkt, zu politischen Lösungen in den Bürgerkriegsländern Syrien und Libyen beizutragen. Das eine Land Hauptherkunftsland von Flüchtlingen. Das andere eines der Haupttransitländer.
    Eine Flüchtlingsfamilie am 17. April 2015 am Hafen von Piraeus nahe der griechischen Hauptstadt Athen
    Eine Flüchtlingsfamilie am 17. April 2015 am Hafen von Piraeus nahe der griechischen Hauptstadt Athen (afp / Aris Messinis)
    Zunächst einmal ging es 2015 aber um verstärkte Bemühungen der EU bei der Seenotrettung. Nachdem im Frühjahr Tausende Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken waren, wurden die Mittel für die Seenotrettung verdreifacht. Dass Menschen – Kinder! - auf der Flucht nach Europa sterben, ist mit den Werten der Union unvereinbar, sagte Bundeskanzlerin Merkel bei einem Sondergipfel im Sommer.
    "Versagt Europa in der Flüchtlingsfrage, dann wird diese enge Bindung mit den universellen zerstört und es wird nicht das Europa sein, was wir als Gründungsmythos auch heute weiterentwickeln müssen."