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Solidarität in Europa
"Wir haben auch oft anderen die kalte Schulter gezeigt"

Die Bundesregierung fordert bei der Aufnahme von Flüchtlingen mehr Solidarität der EU-Mitgliedsstaaten. Der FDP-Politiker und Vizepräsident des Europaparlaments Alexander Graf Lambsdorff warnte im DLF: Deutschland dürfe nicht mit erhobenem Zeigefinger durch die Gegend laufen. Man habe sich in der Vergangenheit selbst nicht besser verhalten.

Alexander Graf Lambsdorff im Gespräch mit Sandra Schulz |
    Der FDP-Europapolitiker Alexander Graf Lambsdorff
    Der FDP-Europapolitiker Alexander Graf Lambsdorff warnt vor zu vielen EU-Zugeständnissen an die Briten. (imago stock & people)
    In Europa kriselt es an mehreren Ecken und Enden. Vor allem in der Flüchtlingspolitik haben sich die Mitgliedsländer der EU bisher nicht auf eine gleichmäßige Verteilung der Zuflucht suchenden Menschen geeinigt. Die Bundesregierung fordert von den anderen Mitgliedsländern, ebenfalls Flüchtlinge aufzunehmen. Der Vizepräsident des Europaparlaments Alexander Graf Lambsdorff hält diese Forderung aber für schwierig: "Da wo Deutschland die Europäer jetzt um Solidarität bittet, da haben wir in der Vergangenheit auch oft anderen die kalte Schulter gezeigt". Als Beispiel nannte er Hilfegesuche aus Italien oder Griechenland.
    Eine Bedrohung für die EU seien zudem extreme rechts- und linksradikale Strömungen in mehreren Mitgliedsländern. "Dazwischen kann Europa zerrieben werden", warnte Lambsdorff im DLF. Die politische Mitte müsse zeigen, dass man erfolgreich Reformen umsetzen kann, um die Extremen in die Schranken zu weisen.
    Mit Blick auf das anstehende Referendum in Großbritannien über einen Verbleib des Landes in der EU sagte der FDP-Politiker, er sei beunruhigt, dass die EU zu viele Zugeständnisse an die Briten machen könnte. Für die Unionsbürger müssten in allen Mitgliedsstaaten gleiche Rechte und Pflichten gelten - dieses Grundprinzip dürfe nicht für die Briten aufgeweicht werden.

    Sandra Schulz: Wie tief steckt Europa in der Krise? Das war eine Frage, die wir in den vergangenen Monaten immer wieder gestellt haben, stellen mussten. Die Zuspitzungen um Griechenland im Sommer, die Diskussionen um einen sogenannten Grexit, dann die Flüchtlingsfrage, das zähe Ringen in Europa um eine gerechte Lastenverteilung, wobei das schon ein großes Wort ist, um ein Quäntchen Solidarität, könnte man vielleicht eher sagen.
    Und ohne dass diese Großbaustelle geschlossen wäre, kommt jetzt das nächste Großthema auf die EU zu:
    Die Briten werden, so hat es Premier Cameron zuletzt angedeutet, wohl in diesem Jahr per Referendum entscheiden, ob sie raus wollen aus der EU. Dann wird nicht mehr der Grexit das Thema sein, sondern der sogenannte Brexit. Womit wir wieder bei der Frage wären, wie tief steckt Europa in der Krise? Der Vizepräsident des EU-Parlaments, der FDP-Politiker Graf Lambsdorff, der hat uns versprochen, uns an dieser Stelle weiterzuhelfen. Er ist jetzt am Telefon – guten Morgen!
    Alexander Graf Lambsdorff: Guten Morgen, Frau Schulz!
    Schulz: Ein "schreckliches Jahr" hat EU-Parlamentspräsident Schulz das Jahr 2015 genannt. Wird 2016 denn besser?
    "Dazwischen kann Europa zerrieben werden"
    Lambsdorff: Ich will hoffen, dass es besser wird. Das hoffen wir ja letztlich alle, denn 2015 war wirklich ungewöhnlich. Aber eines ist dabei wirklich entscheidend: Dass wir in Europa die alten Gespenster wieder dorthin schicken, wo sie hingehören, nämlich auf den Kehrichthaufen der Geschichte, wenn man so will.
    Wir haben eine Bedrohung in Europa, in zahlreichen Mitgliedsstaaten, durch Nationalismus, durch rechtspopulistische Bewegungen ja auch bei uns zum ersten Mal. Und wir haben auf der anderen Seite den Sozialismus, der jetzt wieder kommt, linksradikale Bewegungen, linkspopulistische Bewegungen. Dazwischen kann Europa zerrieben werden, und da müssen wir drauf achten, dass das nicht passiert.
    Schulz: Und wer oder was soll die Gespenster, was sagten Sie, zurückschicken in die Kiste?
    Lambsdorff: Ich glaube, das kann nur dadurch gelingen, dass es der politischen Mitte in Europa gelingt, Erfolge vorzuweisen. Ich nehme mal das Beispiel Italien. Da ist mit Matteo Renzi ein gemäßigter Politiker dabei, das Land umzukrempeln. Wenn der das schafft, wenn der Reformerfolge hat, dann kann es vielleicht auch gelingen, so eine Bewegung wie die von diesem Beppe Grillo, im Grunde ja ein Linkspopulist, wieder vielleicht in die Schranken zu weisen, weil die Bürgerinnen und Bürger sehen, dass es auch mit gemäßigter Politik gelingt, Erfolge zu erzielen.
    Schulz: Wenn wir jetzt noch mal bei Großbritannien bleiben, da, wie gesagt, wird das Referendum wohl kommen, 2016 nach den letzten Andeutungen von Cameron. Was wäre denn daran so schlimm, wenn die Briten gingen?
    "Würde mir wünschen, dass die Briten dabei bleiben"
    Lambsdorff: Da schlagen in meiner Brust zwei Herzen. Als Liberaler sage ich ganz klar, die Engländer sind welche, die wir dabei haben wollen. Das ist ein marktwirtschaftlich orientiertes Land mit einer toleranten Gesellschaft und einer vorbildlichen Demokratie. Als Europapolitiker sage ich Ihnen, die sind schon ziemlich mühsam. Die blockieren ja an vielen Stellen, da, wo man in Europa auch sinnvollerweise Fortschritte machen könnte – verbesserte Geheimdienstkoordination, verbesserte europäische Außenpolitik und so weiter.
    Ich würde mir wünschen, dass die Briten dabei bleiben und sich dann konstruktiv in Europa einbringen, einerseits. Andererseits muss man auch Folgendes sagen: Wenn Großbritannien sich souverän entscheidet, ein neues Verhältnis zum Kontinent aufzubauen, dann müssen wir damit leben, dann müssen wir Verhandlungen führen mit den Briten, und dann muss man eines ganz klar sehen: Großbritannien wird uns als Land ja erhalten bleiben, selbst wenn es nicht Mitglied der Europäischen Union sein sollte.
    Schulz: Die Briten wollen ja sozusagen an die Grundverabredungen der EU ran, das wollen sie reformieren. Sie wollen Einschnitte bei der Freizügigkeit erreichen, wollen Sozialleistungen für EU-Migranten kürzen. Wenn Europa an der Stelle Großbritannien entgegenkäme, wäre das nicht auch wiederum ein Zeichen für Krise?
    Lambsdorff: Absolut. Und ich bin sehr beunruhigt über Nachrichten, dass offenbar die Bundesregierung, das Bundeskanzlerin Merkel Cameron genau hier nachgeben will, und ich glaube, das wäre ganz falsch. Wir haben die sogenannte Unionsbürgerschaft, das heißt, alle EU-Bürger können sich darauf verlassen, dass sie nicht diskriminiert werden, wenn sie in einem anderen Land der Europäischen Union leben. Genau das will Cameron.
    Cameron will, dass Leute, die in Arbeit, also in Lohn und Brot stehen, weniger Zugang zu Sozialleistungen haben, weniger Zugang auch zu ganz normalen Leistungen des Staates, die ihm dort geboten werden. Und das ist eine Verletzung der Unionsbürgerschaft, die übrigens Angela Merkels Vorgänger Helmut Kohl mit ausgehandelt hat. Also, das wäre wirklich die Axt an die Wurzel der europäischen Integration.
    Schulz: Und wir sind beim Großthema Solidarität. Großthema, weil die Frage ist, wie viel Solidarität überhaupt noch da ist in Europa. Da gehen auch Blicke nach Polen, die Entwicklung da, nachdem die rechtskonservative PIS einen Durchmarsch hingelegt hat, die füllen auch viele mit Sorge. Wie ist Ihre Einschätzung da?
    Polnische Politik alles andere als erfreulich
    Lambsdorff: Die polnische Politik ist natürlich alles andere als erfreulich, um das mal sehr diplomatisch auszudrücken. Was dort mit dem Verfassungsgericht geschieht, was jetzt gerade im öffentlich-rechtlichen Rundfunk geplant wird, die Absetzung kritischer Journalisten und die Ersetzung durch linientreue – das sind alles Dinge, die einen wirklich nicht erfreuen können.
    Das Thema Solidarität ist etwas komplizierter. Wir dürfen eines nicht vergessen: Da, wo jetzt Deutschland die Europäer um Solidarität bittet, da haben wir in der Vergangenheit auch oft anderen die kalte Schulter gezeigt. Wir wissen seit Lampedusa, dass die Flüchtlingskrise, wenn sie wirklich ernst wird, nicht mit den bestehenden Maßnahmen zu bewältigen ist. Rom und Athen haben immer wieder darauf hingewiesen – da haben wir keine Solidarität gezeigt. Also, wir sollten nicht mit erhobenem Zeigefinger durch die Gegend laufen, sondern wir sollten Solidarität auch dann praktizieren, wenn sie von uns verlangt wird.
    Schulz: Der Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff von der FDP, heute Morgen hier im Deutschlandfunk in den "Informationen am Morgen". Danke Ihnen ganz herzlich!
    Lambsdorff: Danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.