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Sophie Calle: "Das Adressbuch"
Voyeurismus oder Kunst?

Sophie Calle, eine der berühmtesten französischen Konzeptkünstlerinnen, stellte in aller Welt aus. Ihre Themen: Liebe, Tod, Verlassenheit. Nun hat Suhrkamp eine umstrittene Arbeit aus ihren Anfängen publiziert - mit einem Skandal, der die Künstlerin über Nacht berühmt machte.

Von Marie Luise Knott | 16.12.2019
Die Foto-Künstlerin Sophie Calle steht am 28.6.2002 in ihrer Fotoaustellung im Sprengel Museum in Hannover.
Sophie Calle - einst Hippie, Kommunardin, Maoistin, skandalumwitterte Konzeptkünstlerin - spionierte einem Unbekannten nach und breitet sein Leben minutiös vor der Öffentlichkeit aus (picture-alliance / dpa / Rainer Jensen)
In ihrer Jugend reiste Sophie Calle um die Welt. Als sie 1979 wieder in Paris war, tat sie, was sie unterwegs "gelernt" hatte: Ausgestattet mit einer 35mm-Kamera und einem Notizbuch strich sie durch die Stadt und heftete sich an die Fersen irgendwelcher Unbekannter, die sie klammheimlich beobachtete und fotografierte. Nach einer Weile verlor sie ihre "Stadtführer" wieder aus den Augen und folgte anderen. So entstand ihr erstes Kunstwerk, das ihrem Vater, einem Kunsthändler, imponieren sollte und ihn tatsächlich auch begeistert haben muss.
Dem Konzept, für ihre Kunstwerke als "Trigger" den Zufall sowie fremde Energien zu nutzen, ist Sophie Calle treu geblieben. Auch dem Konzept, eine leicht geheimnisvolle Spannung von Text und Foto zu erzeugen. Die Fotos suggerieren Authentizität, die Texte konstruieren Zusammenhänge. Einmal lässt sie sich in Venedig als Zimmermädchen engagieren, durchsucht und fotografiert die Habseligkeiten der Hotelgäste und erfindet Geschichten dazu. Ein andermal macht sie den schnöden Abschiedsbrief eines Geliebten zu Kunst. Wie soll man sonst mit dem Schmerz klar kommen?
Ihre Welt ist alltäglich, in ihrer Einfachheit hat sie beinahe etwas Verwunschenes. Umso größer sind die Dramen, um die es geht: Liebe, Tod, Verlassenheit, Scheitern. Sophie Calle macht private Momente lustvoll groß, sie nehmen sich den Raum, den wir ihnen gewöhnlich nicht geben. So betrachten wir sie - wie neu.
Detektivisches Ausforschen
In der Arbeit "Adressbuch" nun, entstanden 1983, findet Sophie Calle, wie sie erzählt, im Juni des Jahres auf der Straße – oder war es in einem Bistro? – scheinbar zufällig ein recht abgenutztes privates Adressbuch. Statt es liegen zu lassen, nimmt sie es an sich, kopiert es, und sendet das Original an den Besitzer. Die Idee zum Kunstwerk ist geboren. Vor kurzem hatte die Zeitung Libération ihr für den Sommer eine Kolumne für eine Fortsetzungsgeschichte angeboten. Nun beschließt Sophie Calle, die im Büchlein verzeichneten Personen anzurufen und sie nach ihrer Beziehung zu "Pierre D." zu befragen, um, wie sie sagt, den Besitzer des Adressbuchs durch die Beschreibungen seiner Freunde und Verwandte zu porträtieren.
Kann man herauszufinden, wer einer ist, ohne ihn zu treffen?
"Ich blättere durch das Adressbuch. Hin und wieder stehen neben den Kontaktdaten Notizen oder Bemerkungen in Klammern. Ich sehe ein paar 'Ehemann von ...', 'Frau von ...', einen 'Transvestiten', einen 'schwarzen Schauspieler, guten Komiker', einen 'Othello V 2'. ... Ist die Person verstorben, so streicht Pierre D. nicht ihren Namen aus. Er schreibt daneben: 'gestorben im ...', unter Angabe des Monats und des Jahres, nicht des Tages.
Wurde ein Kind geboren, schreibt er die Vornamen des Kindes unter die der Eltern. Diese Hinzufügungen macht er am liebsten mit rotem Kugelschreiber.
Auf der letzten Seite steht etwas abseits unten rechst ein Satz: Der schnelle braune Fuchs springt über den faulen Hund."
Am Telefon nennt sie keinen Namen. Einzelne der Eingetragenen reagieren abweisend, andere drohen ihr. Doch die meisten sind auskunftswillig. Calle trifft sie, nennt ihnen den Namen des Adressbuch-Besitzers und macht die Interviewten auf diese Weise zu Mitwirkenden/Komplizen des Kunst-Projektes. So entstehen, verteilt über den Zeitraum vom 1. August bis zum 4. September 1983 28 Kolumnen. Die Erzählungen handeln von Gedanken, Marotten, Freundschaften und Liebschaften eines klugen, jedoch offensichtlich nicht besonders erfolgreichen Filmkritikers und Dokumentarfilmers der 68-er Generation. Jede Begegnung mit einem Informanten wird detektivartig protokolliert, mit Namenskürzeln und Uhrzeitangaben des Treffens.
"'Ein Freund. Seit fünf Jahren. Ich mag ihn sehr. Eine Schande, dass meine Diskretion es mir verbietet, Ihnen mehr zu erzählen. Es käme mir vor, als würde ich über einen Toten reden.'
Charly T. dreht den Kopf weg, überlegt, lächelt. Ich warte. Er sagt, er könne mir die Art von Witz erzählen, die Pierre liebt, genauer gesagt, bei dem er 1970 fast zusammenbrach vor Lachen. 'Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, der eine Umfrage über das Sexualverhalten der Franzosen anstellt. 'Entschuldigen Sie gnädige Frau, können Sie mir die erogenen Zonen zeigen?' Und sie antwortet: 'Tut mir leid, ich kenne mich nicht aus in dieser Gegend.'"
"Darf ich das eigentlich?"
Der hier und da schamvoll eingeräumte Zweifel – "Darf ich das eigentlich?" – scheint eher rhetorischer Natur. Die Fotos stammen von den Orten der jeweiligen Begegnung, so heißt es. Doch ob etwa der abgewetzte Leder-Club-Sessel wirklich der ist, in dem Pierre D. so gerne sitzt und Zigarre raucht, wenn er Myriam V. besucht, wissen wir nicht. Viele Informationen und Sätze wie "Der Mann ist eine Wolke in Hosen" berühren unangenehm, und dennoch liest man bedrückt weiter, längst zum Mitvoyeur geworden.
"Er ist ein Gourmand. Er isst immer auf. Das hat nichts mit Hunger zu tun; eher eine Frage der Haltung. Eine andere typische Eigenschaft von ihm ist, dass er am Tag nach einer Verabredung oder einem Abendessen anruft, um sich zu bedanken. Um zu sagen, dass es schön war. Wenn er irgendwo hinkommt, entschuldigt er sich. Man merkt, dass er während der ersten dreißig Sekunden nichts mit sich anzufangen weiß. Er hat sich ein gewisses unterwürfiges Zeremoniell angewöhnt: 'Bitte entschuldigt ... ', 'Seid ihr sicher, dass ich euch nicht störe? ...' Wenn er eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlässt, ist sie immer sehr konfus. Es fällt ihm schwer, auf den Punkt zu kommen. Er braucht mehrere Anläufe."
Eine wütende Replik
So sehr Sophie Calle versucht, sich bei den Freunden des Ausspionierten zu versichern, dass ihr Projekt ganz nach seiner Fasson sei – der Adressbuch-Besitzer mit dem Klarnamen Pierre Baudry ist, als er am Ende des Sommers von einem längeren Lapplandworkshop zurückkehrt – wen wundert’s?, – entsetzt über solche Transgression, über solch ein Eindringen in seine Privatsphäre. Um dem in seinem Recht Verletzten eine Stimme zu geben, stellt Libération dem Geschädigten eine Seite zur Verfügung, auf der er neben einer wütenden Replik ein Nacktfoto der Künstlerin veröffentlicht, aufgenommen in einer Striptease-Bar, in der Sophie Calle früher gearbeitet hatte.
Der Skandal war perfekt. Er machte Sophie Calle damals schlagartig bekannt; denn die französische Gesellschaft liebt solche Affären. Pierre Baudry jedoch verweigerte ihr die Begegnung. Man einigte sich schließlich, dass das Werk bis zu seinem Tode nicht gezeigt werden durfte. Doch wann ist einer tot? Und hat einer danach noch Schutzrechte?
Missbrauch oder Freiheit der Kunst?
Von heute aus gesehen zeigt die Arbeit "Das Adressbuch" zuallererst, dass die Debatten um den Schutz der Person, die wir in den Zeiten von Facebook und Shitstorm und Datenmissbrauch verstärkt führen, nicht ganz so neu sind. Text und Bild des Werkes "Das Adressbuch" sind für die Suhrkamp-Publikation aus dem ästhetischen Kontext der Zeitungsseite herausgelöst worden. Doch das Opfer kommt nicht zu Wort, da Pierre Baudry 2005 starb. So kann sich Sophie Calle heute hinwegsetzen. Und sie tut es. Die Kunst, sie ist frei, sie transzendiert die Wirklichkeit, aber sie ist nicht sakrosankt, nicht erhaben über diese Welt, die wir miteinander teilen.
Sophie Calle: "Das Adressbuch"
Aus dem Französischen von Sabine Erbrich
Suhrkamp Verlag, Berlin. 106 Seiten, 22 Euro.