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Sozialdemokraten
Was vom Schulz-Effekt übrig blieb

Drei Landtagswahlen hat die SPD vergeigt, ihr Kanzlerkandidat Martin Schulz soll jetzt bis zur Bundestagswahl das Ruder herumreißen. Wer ist der Mann, der die SPD retten soll? Der Journalist Manfred Otzelberger hat eine Biografie über Martin Schulz geschrieben. Und auch sein Vorgänger Sigmar Gabriel hat nun ein Buch veröffentlicht.

Von Frank Capellan | 15.05.2017
    Auf dem SPD-Sonderparteitag am 19.03.2017 übergab Sigmar Gabriel sein Amt als Parteivorsitzender an Martin Schulz.
    Auf dem SPD-Sonderparteitag am 19.03.2017 übergab Sigmar Gabriel sein Amt als Parteivorsitzender an Martin Schulz. (dpa-Bildfunk / AP / Michael Sohn)
    Mag man sich mit Martin Schulz wirklich noch auseinandersetzen? Jetzt, da der Schulzzug abrupt zum Stoppen gekommen ist. Vielleicht gerade jetzt möchte man Neues über ihn erfahren, weil man sich fragt, wie dieser Kandidat mit der Niederlage umgeht.
    Allerdings: Manfred Otzelberger hat vieles zusammengetragen, was dem aufmerksamen Zeitungsleser oder Radiohörer längst bekannt sein dürfte. Das allerdings liegt auch an Schulz selbst: Kaum eine Rede, in der der kleine Mann aus Würselen nicht auf seine Biografie anspielen würde:
    "Ich bin der Sohn einfacher Leute. Meine Mutter war eine Hausfrau, mein Vater war ein Polizeibeamter im mittleren Dienst. Ich selbst war ein begeisterter Fußballspieler und war deshalb auch lieber auf dem Sportplatz als auf der Schulbank."
    Einblick in das Leben des Kandidaten
    Seine "brüchige Biografie mit Kanten" wird in diesem Buch bis ins letzte Detail beschrieben, zuweilen auch recht unterhaltsam. "Der Kandidat" lässt sich leicht und schnell lesen. Gespräche des Autors mit Schulz´ Schwester Doris oder Würselens Bürgermeister Arno Nelles geben Einblick in das Leben des 61jährigen Kanzlerkandidaten der SPD. Überhaupt - seine Heimatstadt. Oztelberger zieht eine treffende Parallele:
    "Gerade Sozialdemokraten und wohl auch Unionspolitiker mögen das nicht hören wollen: Vielleicht ist es kein Zufall, dass bei Schulz und Würselen manche in puncto Verwobenheit mit der provinziellen Heimat auch an Helmut Kohl und Oggersheim denken."
    Da ist was dran, doch bisher ist nicht erkennbar, dass Schulz seine Heimatverbundenheit irgendwie schaden würde. Schulz –-ein Mann will nach oben…"Aber ich kenn das Leben auch von unten!" Die Alkoholsucht, seine Selbstmordgedanken: Ausführlich beschreibt das Buch den Tiefpunkt des heutigen SPD-Vorsitzenden. An anderer Stelle wäre etwas weniger Ausführlichkeit angebracht gewesen.
    Frisuren und Anzüge
    Über drei Seiten befasst sich der Autor mit dem Bart des Merkel-Herausforderers, lässt sich von dessen Friseur in - ja Würselen! - erklären, warum Schulz sich entgegen anderslautenden Ratschlägen nicht rasieren lassen sollte. Auch in anderen boulevardesken Beschreibungen schimmert durch, für wen der Biograph sonst zu allererst schreibt - für die BUNTE.
    "Popstar der Politik"
    Allzu unkritisch klopft Otzelberger die Schwachstellen seines Objektes ab. Nur kurz setzt er sich damit auseinander, ob Schulz tatsächlich auf Dauer einen Gerechtigkeitswahlkampf führen kann, wo doch eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung die eigene Lage als ausgesprochen gut empfindet. Mehr Platz erhält dafür die Performance von Schulz durch die Gemeinde im Netz:
    "Schulz wird dort als Robin Hood dargestellt – in jener blauroten Hope-Optik, mit der Obama zum Popstar der Politik inszeniert wurde. Eine echte Spaßguerilla ist da am Werk."
    Warum es ihm aber gelungen ist, die SPD gleichsam über Nacht zumindest vorübergehend aus dem 20 Prozent-Keller zu holen, das wird dem Leser nicht wirklich näher gebracht. Was hat Schulz, was Gabriel nicht hatte? Wie ist und war das Verhältnis zu Sigmar Gabriel, zu dem ihm eine tiefe Freundschaft nachgesagt wird? Hat er den Verzicht Gabriels am Ende doch selbst für nicht möglich gehalten?
    "Sigmar, das ist eine große politische, aber es ist vor allen Dingen eine große menschliche Leistung, die zeigt, was für ein besonderer Charakter Du bist, Dich weiter an meiner Seite zu wissen, macht mich stark, macht uns stark!"
    Heute Morgen, im Willy-Brandt-Haus, stand Sigmar Gabriel direkt hinter Martin Schulz. In der Stunde der Niederlage stehen wir zusammen - so das Signal. Es ist ein bemerkenswerter Rollentausch, der sich gerade an der Spitze der Sozialdemokratie abzeichnet.
    Gabriel bearbeitet ein neues Ressort: die Außenpolitik
    Martin Schulz, der Mann, den die Deutschen bisher vor allen Dingen als glühenden Europäer kannten, muss sich nun sehr schnell in die Details der hiesigen Wirtschafts- und Sozialpolitik vorarbeiten, Gabriel hingegen macht sich Gedanken über eine Neuformulierung der europäischen Idee.
    "Ich glaube, dass man für Vertragsänderungen in Europa lange, lange braucht, und es mehr Sinn macht, Dinge zu tun, die das richtige Ziel haben, aber keine Vertragsänderungen bedürfen."
    In turbulenten Zeiten hat der Außenminister Zeit gefunden, auf 236 Seiten seine Weltsicht zusammenzutragen. "Neuvermessungen" hat er seine außenpolitische Analyse überschrieben, weil sich die ganze Welt im Zeichen von Populismus, des Terrors und der Flüchtlingsproblematik im Umbruch befindet.
    Deutschlands neue Führungsrolle
    Mit Nachdruck warnt Gabriel davor, sich von der Trump-Administration auseinanderdividieren zu lassen: Die Reaktion auf ein lautstark zur Schau gestelltes "America first!" kann für ihn nur in einem Zusammenrücken Europas liegen. Dass Washington von den Europäern erwartet, mehr Verantwortung für die Sicherheit der Welt zu übernehmen, das akzeptiert der langjährige SPD-Vorsitzende.
    "Nur wäre es ein fataler Fehler von Teilen der amerikanischen Politik zu glauben, dass das eher von einem Europa zu erwarten ist, das in rivalisierende Gruppen von Nationalstaaten zerfällt."
    Von Deutschland erwartet Gabriel eine neue Führungsrolle, und legt sich mit seinen Forderungen einmal mehr mit Finanzminister Wolfgang Schäuble an. Ohne seine These weiter zu belegen, sieht er unser Land als den größten Gewinner der europäischen Einigung, noch höhere Zahlungen in den Brüsseler Topf hält er für wünschenswert. Wie er damit den Schmähungen der Rechtspopulisten den Wind aus den Segeln nehmen will, das bleibt schleierhaft.
    Renten und Kanonen
    Hilfreicher ist da schon eher seine Haltung zur US-Forderung nach einer Erhöhung der Vereidigungsausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes: Es sei lediglich eine Annäherung an diese Marke beschlossen worden, bekräftigt Gabriel. "Wer Renten nicht bezahlen kann, der sollte nicht in Kanonen investieren". Gabriel fragt: "Wer bitte glaubt, dass das Europa zu einem Zukunftsprojekt in den Augen der Jugendlichen machen würde?"
    Sigmar Gabriel vermisst mit seinen Skizzen zur künftigen Rolle Europas und Deutschlands in der Welt nicht nur die deutsche Außenpolitik neu, mit "Neuvermessungen" empfiehlt er sich auch für weitere Aufgaben auf internationalem Parkett. Wer sich Gabriels "Neuvermessungen" zu Gemüte führt, gewinnt unweigerlich den Eindruck, dass der neue Kosmopolit aus Goslar seinen Frieden mit seiner Entscheidung gemacht hat, die Kanzlerkandidatur einem anderen zu überlassen. Am Tag nach der dritten verlorenen Landtagswahl in Folge allemal.
    Manfred Otzelberger: "Martin Schulz. Der Kandidat"
    Herder Verlag, 224 Seiten, 20 Euro.
    Sigmar Gabriel: "Neuvermessungen. Was da alles auf uns zukommt und worauf es jetzt ankommt"
    Verlag Kiepenheuer & Witsch, 236 Seiten, 20 Euro.