Donnerstag, 28. März 2024

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Sozialforscher zu Corona-Beschlüssen
"Was wir jetzt machen, ist blind im Nebel stochern"

Immer noch haben Politik und Behörden in Deutschland so gut wie keine Erkenntnisse darüber, welche Szenarien für die Verbreitung des Coronavirus relevant sind und welche nicht. Es fehle eine Erhebung von soziodemografischen Daten beim Testen und Impfen, kritisierte der Sozialforscher Rainer Schnell im Dlf.

Rainer Schnell im Gespräch mit Barbara Weber | 04.03.2021
Hamburg: Henry Riehl, Friseur, föhnt Nina Hemkendreis, einer seiner ersten Kunden nach der Wiedereröffnung, kurz nach Mitternacht die Haare.
Zum Friseur gehen darf man wieder - auf einer Restaurant-Terrasse sitzen aber noch lange nicht. Für eine gesicherte Abwägung des Infektionsrisikos fehlt die Datenbasis (dpa-Bildfunk / Daniel Bockwoldt)
Die Bund-Länder-Beschlüsse zu einem stufenweisen Ausstieg aus dem Corona-Lockdown haben vielfältige Reaktionen ausgelöst. Bemängelt wird unter anderem, dass die Kriterien für bestimmte Lockerungsmaßnahmen, aber auch für die Beibehaltung von Einschränkungen auf einer sehr schmalen Datenbasis beruhen. Sind Inzidenzwerte tatsächlich aussagekräftig und repräsentativ für die Situation in einem Bundesland oder Kreis, warum gibt es immer noch politisches Handeln auf der Basis eines "diffusen Infektionsgeschehens"? Soziologische Daten könnten für eine rationale Politikplanung sehr hilfreich sein, argumentiert der Sozialforscher Rainer Schnell von der Universität Duisburg-Essen - wenn man sie denn systematisch erheben würde.
Rainer Schnell: Es ist interessant zu sehen, dass zu den Beratergremien, die da herangezogen werden, offensichtlich kaum Sozialwissenschaftler gehören, die tatsächlich menschliches Handeln vorhersagen wollen. Was wir sehen ist, dass in den Beratungsgremien Sozialwissenschaftler sitzen, die das sinnhaft interpretieren, wie halt die Sozialwissenschaften zum großen Teil eine sinninterpretierende Wissenschaft sind, aber die ist nicht prädiktiv, das heißt, sie versuchen nicht, das Verhalten von Menschen vorherzusagen. Und das Verhalten von Menschen – als Soziologe würde man sagen – ist ein Problem von "Behaviour decision theory", das heißt, man schaut sich die Rahmenbedingungen des Handelns an.
Und zum Beispiel jetzt, wenn wir uns die Corona-Erleichterungen ansehen - natürlich kann man an die Vernunft der Menschen appellieren und natürlich werden es 80 Prozent tun, aber 20 Prozent werden es nicht tun, sondern sie werden das tun, was die Regeln hergeben. Und das wird dazu führen, dass es nicht funktionieren wird.
Inhalt des Corona Selbsttests
Schnelltests, Selbsttests & Co. - Wie man sich auf Corona testen lassen kann Welche Tests sind auf dem Markt, was kosten sie und wo kann man sich testen lassen? Was hat es mit den geplanten neuen Selbsttests für zu Hause auf sich? Ein Überblick.
Barbara Weber: Das kleine Stück Normalität, das gestern nach hartem Ringen trotz Verlängerung des Lockdown demnächst wiederhergestellt werden soll, beruht auf unsicheren Voraussetzungen. Auch ein Jahr nach Pandemiebeginn ist über die Virusverbreitung und die Ansteckungswege wenig bekannt. Genaue Daten fehlen darüber, wo, in welchem Umfeld und bei wem sich jemand infiziert hat. Ein Problem, mit dem sich Rainer Schnell, Professor für empirische Sozialforschung an der Universität Duisburg-Essen beschäftigt. Ihn fragte ich vor der Sendung nach seiner Meinung zu den gestrigen Beschlüssen.
Schnell: Das ist Blindflug, der sehr risikoreich ist. Von daher ist das also ein Experiment, das ich persönlich als äußerst kritisch betrachte.
Weber: Jetzt sind Lockerungen geplant – wie basiert sind die denn?
Schnell: Dazu bräuchte man ja Daten, unter welchen Bedingungen überhaupt Infektionen auftreten, das heißt also, man bräuchte eine Verteilung, zum Beispiel nach Berufsgruppen, nach Altersgruppen, ob Kinder da sind, ob die Kinder in eine Kindertagesstätte gehen, wie die Leute ihre Freizeit verbringen. All das gibt es für Deutschland nicht, weil weder das RKI noch das BMG oder sonst irgendjemand diese Daten systematisch erfasst hat.
Robert Habeck, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, am 23.09.2020 in Münster
Habeck zu geplanten Lockerungen - „Es wird auf Hoffnung gesetzt – das ist keine Strategie“
Dass Bund und Länder die Coronamaßnahmen nun schrittweise lockern, hält der Bundessvorsitzende der Grünen, Robert Habeck, für unklug. Statt über Öffnungen zu reden, müsse man sich daher erst einmal auf Testen und Impfen konzentrieren, sagte Habeck im Dlf.
Man hätte ganz schlicht und einfach bei denjenigen, die positiv infiziert sind, eine Zufallsstichprobe ziehen können und von denen alle üblichen soziodemografischen Daten – Alter, Geschlecht, Berufsgruppe, Kinderzahl –, all das hätte man erheben können, und dann hätte man die Unterschiede zwischen den Gruppen gesehen. Und dann könnte man daraus rationale Empfehlungen für eine Politik ableiten. Was wir jetzt machen, ist, wirklich blind im Nebel stochern und je nachdem, welche Gruppe einen entsprechenden Druck ausübt oder wie im Beispiel der Friseure als Druck empfunden wird, dort kommt es zu Lockerungen. Das ist keine rationale Politikplanung.

Daten aus "sozioökonomischen Panel" veraltet und verzerrt

Weber: Jetzt könnte man ja sagen, die Sozialwissenschaften haben dieses Instrument bereits mit dem sozioökonomischen Panel. Wieso kann man seine Studien nicht an dem orientieren?
Schnell: Erstens, das sozioökonomische Panel hat bis jetzt zu diesem Problem keine Daten vorgelegt. Das Zweite ist, diese Stichprobe ist zusammengebaut aus bereits existierenden Stichproben. Das ist keine frisch neu gezogene Stichprobe, sondern das sind die alten Stichproben, die zum Teil seit 1984 laufen, das heißt also, die sind in der zigsten Wiederholungswelle, das heißt, wir haben hier nur noch besonders kooperative Personen, denen es auch besonders gut geht, die haben keinen Grund, dem Erhebungsinstitut oder der Gesellschaft zu zürnen.
Man kann zum Beispiel zeigen, Langzeitarbeitslosigkeit ist der beste Prädiktor für "Non response" in dieser Art von Studien, und genau das können Sie dann auch sehen, das heißt, die Arbeitslosigkeitsquoten werden durch solche Surveys unterschätzt.
Jetzt kann das natürlich mit jeder Art von Sozialverhalten und Sozialkontakten korrelieren, und das heißt, Sie würden wiederum verzerrte Schätzungen bekommen. Zudem muss man sich bei der Selbststichprobe selbst in den Finger stechen, sozusagen eine "Fingerprick"-Stichprobe, wo Blut aus der Fingerspitze genommen wird. Das wird wiederum zu Selektionseffekten führen. Es wäre sehr viel besser gewesen, man hätte den ursprünglichen Vorschlag vor anderthalb Jahren aufgegriffen, man hätte die "Blutentnahmen" durch Ärzte in einem medizinischen Kontext machen lassen.
Weber: Also das heißt, man befragt die einfach, sind die jetzt wirklich zu Hause in Quarantäne geblieben oder haben die irgendwelche Dinge unternommen, waren die draußen und so weiter.
Schnell: All das kann man fragen, aber dabei kann man natürlich auch lügen, das ist kein Problem, sondern das Entscheidende sind diese Hintergrundinformationen, welcher Berufsgruppe gehöre ich an, sind Kinder im Haushalt, wie viele Kontakte nach draußen habe ich, welche Sportart übe ich aus, verwende ich bestimmte Verkehrsmittel. Und darüber, dass man dann eine sehr große Stichprobe von 30.000 bis 50.000 Leuten hat, kann man dann eine Aussage machen; diese Gruppen unterscheiden sich im Infektionsgeschehen. Daraus können Sie dann eine rationale Strategie herleiten.
Weber: Also das heißt, daraus kann man dann noch überlegen, diesen Wirtschaftszweig kann man öffnen, Blumengeschäfte kann man aufmachen, Friseure sollte man womöglich geschlossen halten.
Schnell: Ich würde das nicht in diesem Präzisionsgrad angeben wollen, aber das ist sicherlich mit diesen Daten eher möglich als mit dem, was wir bisher haben.

Rahmenbedingungen für Datenerhebungen problematisch

Weber: Warum ist das noch nicht passiert?
Schnell: Das kann man nur verstehen, wenn man sich über die Struktur der Datenerhebungen in Deutschland im Klaren wird. Wir haben da mehrere Probleme, ein wesentliches ist natürlich Föderalismus, das heißt, Datenerhebungen in fast allen Bereichen, ob das nun Sozialstatistik ist oder Medizinstatistik, ist Ländersache. Das zweite Problem ist, dass die eigentlich zuständigen Einheiten wie das Robert Koch-Institut oder auch das Statistische Bundesamt – es sind keine unabhängigen Forschungseinrichtungen wie in anderen Ländern, sondern es sind nachgeordnete Behörden, die zum Innenministerium beziehungsweise zum BMG gehören.
Das ist in anderen Ländern anders, und es ist ein zentrales Problem der amtlichen Erhebungen. Das heißt, die werden nur tätig, wenn sie einen ministeriellen Auftrag bekommen, einen direkten Ministerien-Auftrag bekommen, oder sie werden dann tätig, wenn es dafür positiv ein Gesetz gibt, das heißt, im Gesetz muss eine Datenerhebung drinstehen. Da das beim Statistischen Bundesamt und beim RKI so nicht positiv im Gesetz stand, weil COVID halt im Gesetz nicht vorgesehen war, gibt es diese Datenerhebung nicht. Wenn man sich das anguckt, wie das in England gelaufen ist, da hat es eine Studie der amtlichen Statistik gegeben, vom ONS, Office for National Statistics, und eine Studie aus der Medizin kommend, völlig unabhängig, aber in Zusammenarbeit mit dem ONS. Das wäre in Deutschland undenkbar aufgrund der rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen.

Impfdaten besser nutzen

Weber: Sie fordern jetzt auch, Impfungen wissenschaftlich zu begleiten. Warum wäre das wichtig?
Schnell: Eine solche Begleitforschung ist angedacht. Man muss sich jetzt auch mal überlegen, wir haben bereits einige Millionen Impfungen hinter uns, die Frage ist jetzt, was passiert mit diesen Impfdaten, die bisher gewonnen wurden oder die zukünftig gewonnen werden würden. Also auch hier wieder: Das wird Ländersache sein. Das heißt, die Daten, die bei den Impfungen anfallen, also tatsächlich, wo die Impfung erfolgt, das wird lokal erfasst, also an der jeweiligen Impfstelle, nach Regeln, die bestenfalls das Land festlegt. Da gibt es keine zentrale Software zu. Es werden auch kaum Hintergrundinformationen gesammelt.
Das ist aber auch nicht wichtig. Das, was eigentlich wichtig wäre: eine klare Identifikation der Person, die geimpft worden ist. Also zum Beispiel, Peter Müller hat am, keine Ahnung, 5. April eine Spritze bekommen, und mit welchem Wirkstoff. Und dann bitten Sie Peter Müller um eine Einwilligung, dass Sie in den Datenbanken, zum Beispiel bei den Krankenkassen, nachschauen können, was mit ihm passiert in der Zukunft: Hat er Nebenwirkungen, wird er irgendwo behandelt, wird er ins Krankenhaus eingewiesen. Das ließe sich verfolgen. Was tatsächlich gemacht werden wird, ist, fünf von den 108 Krankenkassen werden um Mitarbeit gebeten, es gibt aber keine klare Zuordnung der Person, die geimpft wird, zu dem, was die Krankenkassen an Informationen über eine Person haben. Das heißt, auch hier wird wieder eine selektive Stichprobe entstehen.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)

Nur wenige medizinische Kriterien funktionieren 100-prozentig

Weber: Sehen Sie die Problematik auch bei den Tests?
Schnell: Die Tests selber sind wie alle Tests völlig… In der Medizin gibt es nur sehr wenige Kriterien, die wirklich funktionieren, also die berühmten sicheren Zeichen des Todes – Fäulnis, dann weiß man, der ist wirklich tot. Aber abgesehen davon ist eigentlich alles, was man an medizinischen Tests macht, mit Unsicherheiten behaftet, also Sensitivität und Spezifität des Testes, das heißt, wie viele von denen, die positiv erkrankt sind, findet man tatsächlich, und wie viele von denen, bei denen der Test sagt, es liegt ein Ergebnis vor, sind dann tatsächlich erkrankt. Diese Probleme hat jeder Test, das trifft natürlich auch auf alle Tests zu, die hier angewendet werden. Der Goldstandard wäre immer venöses Blut, wo man nach allem Möglichen suchen kann, und alle anderen Tests sind natürlich entsprechend in ihrer Aussagekraft geringer. Aber das sollte jemand beurteilen, dessen Beruf die Untersuchung von Labortests ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.