Mittwoch, 24. April 2024

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Sozialgeschichte
Eliten in der Krise

In westlichen Nachkriegsdemokratien galten Eliten als Leistungsträger. Derzeit werden sie mitunter als überforderte Krisenbewältiger wahrgenommen. Das Bonner Archiv für Sozialgeschichte hat unterschiedliche Eliten ins Visier genommen sowie ihre Entstehung und ihren Einfluss diskutiert.

Von Norbert Seitz | 05.11.2020
Vier Menschen aus der Vogelperspektive werfen Schatten aufs Kopfsteinplaster
Wo und auf welche Weise fand Elitenwechsel im 20. Jahrhundert schon statt? (imago images / Arnulf Hettrich)
Die Eliten in Politik und Gesellschaft erleben seit geraumer Zeit eine Art Reputationsgau. In den westlichen Nachkriegsdemokratien galten sie noch als unverzichtbare Antreiber einer fortschreitenden Entwicklung – und das hieß immer auch: stabiler Verhältnisse. Doch in diesen bewegten Zeiten werden sie häufig eher als halbwegs inkompetente oder zumindest heillos überforderte Krisenbewältiger wahrgenommen. Kritiker von rechts versuchen sich dagegen als die wahren Vertreter des Volkes zu profilieren, während linke Globalisierungsgegner erst recht ihre Ideale verraten sehen.
US-Präsident Donald Trump schaut zusammen mit Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban in den Kamera während eines Besuches Orbans in Washington
"Wir sehen in allen westlichen Ländern Polarisierungstendenzen"
US-Präsident Donald Trump habe die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben, sagte Thomas Kleine-Brockhoff vom Marshall-Fund im Dlf. Dies sei das "Geschäftsmodell von Populisten". Allerdings gebe es Polarisierung überall im Westen.
Kein Wunder, dass unter den Kritikern der Eliten ein agitatorischer Topos aus den verklärten Zeiten der 68er-Bewegung wieder aufgetaucht ist – der vom "Establishment", welches neuerdings auch im Lager der Rechtspopulisten fröhliche Urständ feiert.

Dazu Nikolai Wehrs, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Konstanz: "Ich würde sagen, dass der Establishment-Begriff noch nie wirklich sehr klug war. Er war von Anfang an unterkomplex. Er hatte schon immer einen Hauch von Verschwörungstheorie: Die da oben stecken alle unter einer Decke. Dass Friedrich Merz ihn jetzt zum Beispiel gerade aufgreift, ist natürlich auch ganz klar deshalb, weil er mit diesem Begriff vorgibt, dass er sich als Opfer einer Verschwörung sieht. Er sagt nicht: Die im Parteivorstand, sondern er sagt: Das Partei-Establishment. Und es ist ein bisschen unklar, wer damit gemeint ist. Man kann auch historisch sehr schön sehen, dass der Begriff von Anfang an von beiden politischen Rändern von links wie von rechts gegen die liberale Demokratie ins Feld geführt wird."
Elitetheorie statt Establishment-Keule
Für Nikolai Wehrs hat die Elitetheorie das differenziertere Instrumentarium parat, mit dem gezeigt werden kann, dass es das sogenannte politische Establishment in der attackierten Form gar nicht gibt. Für das Bonner Archiv für Sozialgeschichte ein Grund mehr, eine fundierte Elitenkritik vom 19. bis zum 21. Jahrhundert zum Thema einer Tagung zu machen. Dabei werden Eliten aus unterschiedlichen Bereichen von Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur ins Visier genommen, vom Adel über Kleriker, Staatsbeamte, Parteifunktionäre bis hin zur modernen Managerbranche.

Philipp Kufferath, Herausgeber des Archivs für Sozialgeschichte, umreißt das Forschungsziel: "Die sozialwissenschaftliche Elitenforschung interessiert sich dafür, wie es überhaupt zu Eliten kommt. Sind die sozialen Formationen abgeschottet durch familiäre Bande oder als exklusive Gemeinschaft organisiert oder können individuelle Leistung einen sozialen Aufstieg in Eliten begünstigen? Diese Frage stellt sich vor allem für die Umbrüche im 18. Und 19. Jahrhundert, als die traditionalen Alt-Eliten durch das aufsteigende Bürgertum herausgefordert und schließlich überholt wurden."
Die Sonderstellung des britischen Civil Service
Mit der Konsequenz, dass in parlamentarischen Demokratien wie in Frankreich oder Großbritannien sich eine loyale, leistungsbereite und konsensorientierte Verwaltungselite herausbilden konnte. Whitehall, will sagen: der Civil Service in Großbritannien, nimmt dabei im europäischen Vergleich eine Sonderstellung ein. Der größte Unterschied besteht darin, dass es den hierzulande üblichen "politischen Beamten" auf der Insel nicht gibt. Wenn in Deutschland die Regierung wechselt, dann wird in den Ministerien in der Regel die komplette Leitungsebene ausgetauscht. Von den Staatssekretären bis hinunter zu den Abteilungsleitern.

Nikolai Wehrs: "In Großbritannien muss grundsätzlich eine neue Regierung mit den gleichen Beamten weiterarbeiten, die am Tag davor noch die alte Regierung beraten haben. Das bedeutet im Zwei-Parteien-System, dass die Civil Servants vor der Wahl sich die Parteiprogramme der beiden möglichen Regierungsparteien anschauen, zwei verschiedene Tischvorlagen für den Minister schreiben, je nachdem ob es ein Minister von Labour gibt oder einen von den Konservativen. Und diejenige Partei, die gewinnt, deren Tischvorlage kommt dann am Tag nach der Wahl auf den Tisch. Das stärkt natürlich unglaublich die Unabhängigkeit dieser Ministerialbürokratie von der Politik. Positiv könnte man sagen, es ermöglicht dem Civil Service, dem Minister auch unangenehme Wahrheiten zu sagen, weil er seinen Staatssekretär ja nicht einfach rausschmeißen kann."
Hat der Civil Service politischen Einfluss?
Aber negativ kann man natürlich auch fragen, wie demokratisch das Ganze ist, wenn der Wählerwille sich in der Verwaltung auf diese Weise gar nicht abzubilden scheint. Dies zu ändern haben bislang von Winston Churchill bis Tony Blair alle britischen Premiers vergeblich versucht. Auch Boris Johnson will unter seinem Berater Dominic Cummings mit der Bekämpfung der parteipolitischen Neutralität des Civil Service ernst machen. Zum Beispiel mit der Anstellung von Special Advisers, die keine Lebenszeitstellung mehr innehaben, dafür aber einflussreicher und ideologischer gepolt sind als der traditionelle Civil Servant.
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Andererseits gibt England-Experte Nikolai Wehrs zu bedenken: Wäre der Civil Service so mächtig, wie seine Gegner ihn zeichnen, dann hätte es den Brexit wahrscheinlich so nicht gegeben: "Denn der Civil Service ist gegen den Brexit. Und zwar deswegen, weil der Civil Service für den Status quo ist. Das Letzte, was die jetzt wollen, ist, 37 Handelsverträge neu auszuhandeln. Das ist nicht ihre Vorstellung. Ein Kennzeichen des Civil Service ist, dass er keine unkalkulierbaren Risiken will, sondern er will Entscheidungen, von denen er glaubt, dass sie kalkulierbar und auch kontrollierbar sind."
Elitentransformation in der DDR
Wo und auf welche Weise fand Elitenwechsel im 20. Jahrhundert schon statt? Dazu Veranstalter Philipp Kufferath: "Eine zentrale Frage der historischen Elitenforschung beschäftigt sich mit konkurrierenden Eliten, mit Transformationen und mit Elitenwechseln. Im 20. Jahrhundert gab es insbesondere in den staatssozialistischen Gesellschaften einen klaren Bruch mit alten Machteliten und den Versuch, aus der Arbeiterklasse eine neue sozialistische Führungsschicht zu schmieden."

Wie baute die DDR seit ihrer Gründung gleichsam aus dem Nichts einen diplomatischen Dienst auf? Und wie organisierte der "Arbeiter- und Bauernstaat" den Strukturwandel in der Landwirtschaft? Welche neuen Kader als Eliten sind dabei entstanden? Björn Hofmeister vom Friedrich-Meinecke-Institut lehrt an der FU Berlin Neuere Geschichte: "Es war ein Hauptproblem, nicht nur für das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, sondern für die DDR insgesamt, dass die sogenannte Kaderreserve, die man für alle Institutionen der DDR einrichten wollte, also für den Staatsapparat, nicht so richtig funktioniert hat. 1954 wurde im Zentralkomitee beschlossen, 60 weitere Kader im Zuge der Kaderreserve aus den anderen Bereichen des Staatsapparates abzuziehen, um eben auch in der ersten Generation des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten überhaupt Personal zu finden."

Anders als in Bonn im Auswärtigen Amt, wo eine Übernahme der alten Eliten aus der berüchtigten Berliner Wilhelmstraße gang und gäbe war, schied ein derartiger Elitenwechsel für die DDR aus. Erst spät, in den 1980er-Jahren, bildete sich eine Routine bei der Anstellung der Mitarbeiter im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten. Es gab dann 3.000 Angestellte, von denen 1.000 in den Auslandsvertretungen eingesetzt wurden. Dabei bemerkenswert: Unter ihnen bis zum Ende der DDR nur vier Botschafterinnen. Außenpolitik galt als reine Männerdomäne, Frauen wurde sogar eine Zeitlang das Studium der Außenpolitik verboten.
Björn Hofmeister zieht eine Bilanz des erneuten Wechsels 1990: "Wir haben einige Zahlen. Stand: 2. Oktober 1990 gab es noch im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten 2.280 Mitarbeiter. Ungefähr 1.000 sind entweder vorher schon entlassen worden, sozusagen freiwillig gegangen oder haben das MfAA verlassen. Im Grunde ist es schon auffällig, wie die erneute Elitentransformation, möchte man fast sagen, dann in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 bei den Diplomaten stattfand, nämlich relativ klanglos. Also Skandale blieben aus, es gab keine großen Gerichtsprozesse wie zur NVA und MfS übernommen wurden nach dem 3. Oktober lediglich zehn von den einst-mals knapp 2.500 Mitarbeitern, von denen sich aber ungefähr wohl 450 um nachfolgende Stellen im Auswärtigen Amt beworben hatten."
Die bittere Erfahrung der Kollektivierung
In der Landwirtschaft der DDR stellten sich derweil andere Probleme bei der Neurekrutierung einer Elite ein. Denn mit der ideologiegerechten Enteignung und damit faktisch auch Entmachtung von Gutsbesitzern war es zunächst nicht getan.


Arnd Bauerkämper lehrt an der Freien Universität Berlin Geschichte des 19. Und 20. Jahrhunderts. Er beschreibt die äußeren Bedingungen und Widerstände bei der Kollektivierung. "Stalin, der ja im Grunde die entscheidende Institution war, war zunächst vorsichtig mit der Kollektivierung. Erst nachdem seinen Noten an die Westmächte gescheitert waren, und damit seine gesamtdeutsche Politik gescheitert war, hat er der SED-Führung im April 1952 grünes Licht gegeben für die Kollektivierung. Offiziell lief der Prozess des Zusammenschlusses von Bauern und Landarbeitern zu Produktionsgenossenschaften freiwillig. Die SED hat immer gesagt: Die Bauern haben darum gebeten. Faktisch ist aber Druck ausgeübt worden. Es bestand 1952 eine Krise auf dem Land. Sehr viele Neubauern, die das aufgeteilte Land der Großgrundbesitzer erhalten hatten, konnten dieses Land nicht wirklich bewirtschaften, nicht effektiv. Zugleich machte die SED politischen Druck, indem sie zum Beispiel die Ablieferungen von Bauern staffelte. Sogenannte Großbauern wurden bestraft. Die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften wurden begünstigt."
Ein Foto von 1978, auf dem zwei Mähdrescher vom Typ E 512 einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft zu sehen sind, vor denen vier Männer im Getreide stehen.
Maedrescher einer LPG in der DDR 1972 (picture-alliance / akg-images)
Es sollte also die Herrschaft der traditionalen Eliten, der Honoratioren und Großbauern gebrochen werden, was größtenteils auch realisiert werden konnte. "Die Kollektivierung in der DDR war für viele Bauern schlimm, weil sie auch zum Teil physischen Angriffen ausgesetzt waren, vor allem auch als das Selbstverständnis, freie unabhängige Bauern zu sein, zusammenbrach. Die Fälle von Mord waren sehr selten im Gegensatz zur UdSSR. Das ist in der DDR nicht der Fall gewesen, aber der Druck, auch die Gewalt 1952/53 und dann vor allem 1959/60 - das hat natürlich viele Bauern verbittert."
Aber bereits 1954 durften vormalige Großbauern den neuen Produktionsgenossenschaften beitreten und gelangten dort relativ häufig wieder in Spitzenpositionen. Arnd Bauerkämper spricht hier von einer "subkutanen Elitenkontinuität". Freilich hat sie die Effizienz der Agrarindustrie nur begrenzt gefördert. "Was die Frage der Effizienz angeht, muss man sagen," so Arnd Bauerkämper, "dass vor allem die Trennung der Tier- und Pflanzenproduktion in den Produktionsgenossenschaften Mitte der 70er-Jahre im Grunde dysfunktional war, weil es eine Unterbrechung des natürlichen landwirtschaftlichen Kreislaufs war. Und letztlich war es natürlich das Prinzip des Kollektiveigentums, das ökonomisch dysfunktional war."
Eine Elite durch die Hintertür im Westen
Derweil stand man im Westen vor einer anderen Herausforderung. Um dem grassierenden Imageverlust der öffentlichen Verwaltung auf die Sprünge zu helfen, forcierte man seit den 1980er-Jahren die Branche der modernen Managementberatung. Dafür wurden Unsummen investiert. Auf diese Weise mauserte sich die Beraterszene gleichsam zu einer neuen Elite durch die Hintertür.
Alina Marktanner vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln weist darauf hin, wie Marvin Bower vom Branchenführer McKinsey & Co nach der Professionalisierung der Unternehmensberatung an der Elitenbildung seiner boomenden Zunft gearbeitet hat. Die Vision seines Berufsstandes, laufe darauf hinaus, "dass nur ganz besondere Menschen Berater oder Beraterinnen sein können, also dass er besondere Wesensmerkmale braucht, die nicht erlernbar sind, um erfolgreich Unternehmen zu beraten, beispielsweise Persönlichkeit. Geschickterweise ist das ein sehr offen gehaltener Begriff, der unterschiedlich gefüllt werden kann. An solchen Stellen passiert die Mystifizierung des besonders befähigten Beraters oder der Beraterin: Also einerseits die Projektion einer Gruppe von Menschen, die durch besondere Charaktereigenschaften verbunden sind. Andererseits die große Selektivität, die ebenfalls dieses Bild der Auserwählten stützt."
Doch mittlerweile ist die Branche ihrerseits - in Verruf geraten, seit Anfang der Nullerjahre sich Misserfolge und enttäuschte Hoffnungen häuften. Besonders, als die rot-grüne Regierung Schröder mit ihrer umgesteuerten Sozial- und Arbeitsmarktpolitik namens Agenda 2010 eine bis heute noch nachwirkende Polarisierung im Lande hervorrief. Unternehmensberater waren in hohem Maße daran beteiligt, die Hartz-Reform mit umzusetzen, zum Beispiel – so Alina Marktanner, "die Umgestaltung der ehemaligen Bundesanstalt für Arbeit zur Bundesagentur für Arbeit, dass also einzelne Berater oder Firmen fünfstellige Beträge erhielten, einen Hartz- IV-Satz auf Sozialhilfeniveau festzulegen, war nicht vermittelbar. Auch deshalb, weil eine geringe Anzahl der vielen damals vergebenen Verträge der Bundesanstalt für Arbeit nicht ordnungsgemäß ausgeschrieben war, also informell vergeben wurde. Da hat das Ansehen der Beratungsbranche in Deutschland doch deutlich gelitten."
Und dennoch prognostiziert Alina Marktanner: Die Beraterszene müsse sich keine Sorgen um ihre Zukunft machen – trotz des Supergaus mit der Wirecard-Affäre. Anzahl und Umfang der Aufträge seien nicht zurückgegangen. Das Gegenteil sei der Fall.
Nach Wirecard-Skandal - Opposition einigt sich auf Untersuchungsausschuss
Umstritten – der Gesetzentwurf für integrere Unternehmen
Wirecard, Tönnies oder der Dieselskandal: Wenn Unternehmen Straftaten begehen, soll das drastischere Folgen haben als bisher. Das sieht der Gesetzentwurf für ein Verbandssanktionenrecht vor.