
Silvia Engels: Zugespitzte Sätze rund um Zuwanderer sind seit Jahren eine Spezialität der CSU, zuletzt wieder vorgetragen vom neuen Generalsekretär Andreas Scheuer:
"Wer betrügt, der fliegt. Der Satz gilt. Wir sind gewohnt, klare Aussagen zu treffen."
Die Formulierung ist Teil eines Konzeptpapiers der CSU-Landesgruppe, die derzeit in Wildbad Kreuth tagt. Die Opposition, aber auch Teile von SPD und CDU verstanden sie als unzulässigen Angriff speziell auf Rumänen und Bulgaren, die als EU-Bürger seit Anfang des Jahres volle Freizügigkeit genießen. Bewirkt hat die ganze Debatte aber, dass das Bundeskabinett heute schon eine Arbeitsgruppe auf Staatssekretärsebene eingesetzt hat. Sie soll sich mit möglichem Sozialmissbrauch durch Zuwanderer befasst. Sind neue Gesetze nötig? Wir sprechen mit Monika Paulat. Lange Jahre war sie Präsidentin des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, und sie ist nach wie vor Vorsitzende des Sozialgerichtstages. Guten Tag, Frau Paulat!
Monika Paulat: Guten Tag, Frau Engels!
Engels: Wir haben es gerade gehört, und wir haben auch schon seit einigen Tagen die Debatte. Ist es so, dass das EU-Recht, wonach niemand diskriminiert werden kann, der zurecht hier lebt, dafür sorgt, dass die Sozialgerichte in der Praxis mehr Sozialleistungen vergeben an EU-Ausländer, als das deutsche Recht vorschreibt?
Paulat: Also ich würde das nicht so formulieren. Das ist nicht eine Frage der - ich hab das in der Presse ja gelesen - Tendenz der Sozialgerichte, immer mehr EU-Bürger mit Leistungen zu übervorteilen, sondern es geht um die Einschätzung, ist das EU-Recht gegen den Leistungsausschluss. Und es ist in der Tat so, dass die Sozialgerichte erster und zweiter Instanz da sehr unterschiedlich entscheiden. Ich bin selber Vorsitzende eines Senates gewesen, der zuständig war für diese Leistungen. Wir haben uns in unserem Senat ja beim Landessozialgericht entschieden, dass wir die Bedenken gegen diesen Leistungsausschluss für maßgeblich gehalten haben, dass wir das - in einstweiligen Rechtsschutzverfahren jedenfalls, in Hauptsacheverfahren haben wir ja noch nicht entschieden -, dass wir jedenfalls diese Bedenken zur Geltung gebracht haben. Und es braucht einfach eine Entscheidung jetzt des Europäischen Gerichtshofes, und insofern ist das spannend, was jetzt diese Entscheidung - wenn Sie sagen, in anderthalb Jahren wird die zu erwarten sein, kann ich nur hoffen, dass die Zeit nicht so lange dauern wird. Aber das ist der Punkt. Ich bin froh, dass das BSG diesen Vorlagebeschluss gemacht hat, und ich glaube, wir brauchen nicht andere, neue Gesetze, sondern wir brauchen eine Klärung auf rechtlicher Ebene.
"Für nötig halte ich jetzt diese Trommelei wirklich nicht"
Engels: Also eine neue Gesetzeslage brauchen Sie nicht. Sie sagen, das Bundessozialgericht hat ja möglicherweise dann noch Vorgaben, weiterzumachen, aber wie ist es denn - warum tagt dann aus Ihrer Sicht diese Arbeitsgruppe? Kann da etwas Sinnvolles herauskommen?
Paulat: Das wird man sehen, ob dabei Sinnvolles rauskommt. Es sind ja Arbeitsgruppen immer dann eingesetzt, wenn man nicht richtig weiter weiß. Mein Eindruck ist, dass doch das eher eine aus einer bestimmten Richtung kommende politische Debatte ist, die ich, wenn ich es mal so sagen darf, wirklich nicht für nötig halte. Es hat immer das Thema Leistungsmissbrauch gegeben, und das waren immer Themen, die auch zu bestimmten Zeiten mal wieder hervorgeholt worden sind aus der Schublade. Ich finde, die Debatte ist so, in der Form, wie sie jetzt geführt wird, wirklich absolut unnötig. Und ob es da einer Arbeitsgruppe bedarf – ich sag ja, das ist immer gut, wenn man sich zusammensetzt, sich Gedanken macht über die Dinge, aber für nötig halte ich jetzt diese Trommelei wirklich nicht.
Engels: Aber könnte man damit die Lücke, die Sie ja durchaus beschrieben haben, die im Moment herrscht, schließen? Und diese Lücke ist ja so zu beschreiben, dass in einigen Sozialgerichten in der Tat relativ großzügig bei Klagefällen Sozialleistungen auch an EU-Bürger gegeben werden, wo nicht klar ist, ob sie sich wirklich hier um Arbeit bemühen. Bei anderen wird das anders gehandhabt. Könnte man hier nicht noch mit Gesetzen hier schneller Klarheit schaffen, als auf europäische Gerichte zu warten?
Paulat: Meiner Meinung nach sähe das dann so aus, dass diese Vorschrift aus dem SGB II schlicht entfernt werden müsste. Im Augenblick spricht das EU-Recht -
Engels: Was sagt diese Norm?
Paulat: Das ist dieser Leistungsausschluss für Unionsbürger aus dem SGB II, Paragraf 7 ist das; ich will das jetzt nicht vereinzeln. Aber ich denke, wir haben im Grunde keine Lücke. Wir haben eine Konfrontation zwischen deutschem Recht und EU-Recht, und das muss gerichtlich geklärt werden. Ich sehe diese Gesetzeslücke nicht. Es ist etwas anderes, wie die Sozialrichter im Einzelnen das betrachten. Das ist aber im Recht und in der Gerichtsbarkeit immer so, dass verschiedene Dinge verschieden betrachtet werden und angesehen werden. Und da braucht es eine Klärung auf höchster richterlicher Ebene. Nicht neue Gesetze.
"Wir haben keine Gesetzeslücke"
Engels: Ihr Kollege, ein Sozialrichter namens Frank Schreiber in Hessen argumentiert, das Hauptproblem bestünde beim Vollzug des deutschen Aufenthaltsrechts. Heißt, Personen, die sich gar nicht um Arbeit bemühten, die würden hier in Deutschland selten angegangen, schon gar nicht ausgewiesen. Deswegen würden sie zu Recht hier leben, so würden das viele Sozialrichter betrachten, und dementsprechend auch die Leistungen kriegen. Haben wir hier also ein Umsetzungsproblem?
Paulat: Ja. Das würde ich ganz – ich kenne Herrn Schreiber – das würde ich genauso auch bestätigen. Wir haben keine Gesetzeslücke. Wir haben eine klare gesetzliche Regelung, die, wie gesagt, nicht im Einklang steht mit dem EU-Recht, jedenfalls nach Ansicht eines Teils der Sozialgerichtsbarkeit. Und wir haben in der Tat, das kann ich nur unterstreichen, ein Umsetzungsproblem. Aber kein Problem, das mit einer Gesetzeslösung jetzt sozusagen seinem Ende zugebracht werden könnte.
Engels: Das heißt, sie fordern eigentlich in diesem Bereich mehr Behördenmitarbeiter, aber keine neuen Gesetze?
Paulat: Richtig. So würde ich das ganz kurz auf den Punkt bringen wollen.
Engels: Monika Paulat war das. Lange Jahre war sie Präsidentin des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg, und sie ist Vorsitzende des Sozialgerichtstages. Vielen Dank für Ihre Einordnungen!
Paulat: Danke auch!
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