Dienstag, 14. Mai 2024

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Spaemann

Müchler: Herr Spaemann, zweimal in kurzer Zeit ist die westliche Zivilisation herausgefordert worden: Einmal durch die Entscheidung des britischen Unterhauses, das Klonen von Menschen zu erlauben. Daraufhin hat sich eine Debatte entwickelt, in der es buchstäblich um Tod und Leben geht. Zum anderen durch die todbringenden Ereignisse des 11. September. Die Meinungsforscher registrieren wachsende Zukunftsängste in der Bevölkerung. Die Kirchen sind wieder voll. Es wird wieder mehr gebetet. Ist das auch die Stunde der Philosophie?

Günter Müchler | 21.10.2001
    Prof. Spaemann: Ja, die Philosophie ist nach einem Wort Hegels wie die Eule der Minerva, die erst in der Dämmerung ihren Flug beginnt. Das heißt, es ist eigentlich nicht ihre Aufgabe, zu sagen, was kommt.. Das ist eher Sache der Kunst, die so ein Sensorium hat für das, was in der Luft liegt. Die Philosophie interpretiert eigentlich eher das, was geschehen ist und versucht, zu verstehen, was sich abspielt.

    Müchler: Kommen wir zu den Ereignissen des 11. September. Die Reaktion der Anti-Terror-Koalition hat wiederum Gegenkräfte auf den Plan gerufen. Es scheint so zu sein, als ob sich Phänomene wiederholten, die wir auch Anfang der Achtziger Jahre auch in diesem Lande erlebt haben. Eine neue Friedensbewegung scheint sich zu formieren mit bekannten Parolen "Keine Gewalt gegen Gewalt". Ist das die einzige Antwort, die die Ethik auf diese Herausforderung hat? Oder, anders gefragt, ist das, was jetzt militärisch geschieht gegen das Taliban-Regime, gegen den Terrorismus, ethisch verantwortbar?

    Prof. Spaemann: Der Staat hat die Aufgabe, das Leben seiner Bürger zu schützen. Dazu braucht er unter Umständen auch Gewalt. Wir haben die Polizei. Die Polizei muss unter Umständen Gewalt anwenden. Die Frage bei der Anwendung von Gewalt ist, ob sie in einem richtigen Verhältnis steht zu dem, was durch sie erreicht werden soll. Gewalt zum Zwecke der bloßen Vergeltung ist sicher unmoralisch. Vor allen Dingen deshalb, weil ja unschuldige Menschen getroffen werden. Und die Tatsache, dass auch auf der eigenen Seite unschuldige Menschen getroffen wurden, rechtfertigt es nicht, auf der anderen Unschuldige zu töten. Eine andere Frage sind militärische Aktionen, die tatsächlich das Ziel verfolgen - und dies mit Aussicht auf Erfolg verfolgen -, den Schutz zu verbessern.

    Müchler: Max Weber hätte gesagt, das ist verantwortungsethisches Handeln.

    Prof. Spaemann: Ja. Also, ich bin zwar skeptisch gegen die heutige Verwendung der Weberschen Dichotomie, Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Es gibt keinen reinen Gesinnungsethiker und es gibt auch keinen reinen Verantwortungsethiker, und ein Mensch, der nicht irgendwo eine Hemmschwelle hat, wo er sagt: "Das kann ich nicht tun", der verdient eigentlich kein Vertrauen. Aber zu dem, was ein Mensch zu tun imstande sein muss, gehört auch die Ausübung politischer Gewalt. Und ich sehe das Problem heute in folgendem: Thomas Hobbes hat davon gesprochen, dass die Todesfurcht das Eigentliche ist, was die Menschen zur Vernunft bringt und was dem Staat es erlaubt, den inneren Frieden zu erzwingen, weil er über das größte Drohpotential verfügt. In dem Augenblick, wo Menschen keine Todesfurcht haben, wirkt die staatliche Drohung nicht mehr, und damit auch die friedenserzwingende Kraft des Staates. Und wenn wir es mit einer größeren Zahl von Menschen zu tun haben, denen ihr eigenes Leben entweder nichts wert ist oder die von ihren religiösen Führern versprochen bekommen, dass sie in einem anderen Leben unendlich belohnt werden dafür, dass sie das hiesige geopfert haben, dann greift die staatliche Abschreckung nicht mehr. Und was das bedeutet in Zukunft, können wir eigentlich noch nicht wissen.

    Müchler: Sie sprechen von der Figur des Selbstmordattentäters, durch dessen Auftreten etwas Grundlegendes außer Kraft gesetzt worden ist? Prof. Spaemann Ja. Denen bedeutet es nichts, wenn sie mit dem Tode bedroht werden. Und mit mehr als mit dem Tod kann der Staat nicht drohen.

    Müchler: Herr Spaemann, die eingangs erwähnte bioethische Debatte hat gleichfalls tiefe Verunsicherung ausgelöst. Sie wird in der Öffentlichkeit momentan durch die Diskussion über den Terrorismus überdeckt, doch sie wird bald wieder virulent werden. In kurzer Zeit, wahrscheinlich Ende November, wird der Nationale Ethikrat darüber zu entscheiden haben, ob es angeht, mit staatlichen Fördermitteln den Import embryonaler Stammzellen zu finanzieren und auch die Manipulation an solchen Stammzellen zu ermöglichen. Auf welches Ergebnis des Nationalen Ethikrates hoffen Sie?

    Prof. Spaemann: Wie die Dinge jetzt sind, hoffe ich, dass der Ethikrat zu dem Schluss kommen wird, dass man dies nicht tun sollte. Aber ich bin sehr skeptisch gegen die Einrichtung von Ethikräten überhaupt. Denn dahinter steht die Vorstellung, dass Leute, die sich auf irgendeine Weise professionell mit Ethik beschäftigen, zu weiseren und richtigeren Ergebnissen kämen. Aber diese Ansicht ist ebenso falsch, als wenn man sagen würde: Wir übergeben die Streitigkeiten zwischen Parteien vor Gericht einem Rat von Rechtsanwälten, und die sollen entscheiden. Ja nun, der eine Rechtsanwalt ist für die eine Partei, und der andere für die andere. Er kann das nur ein bisschen juristisch besser auspolstern und argumentativ aufbereiten. Aber davon wird seine Position noch nicht automatisch eine richtige. Und so ist es auch mit dem Ethikrat. Wenn Sie bedenken, dass die in meinen Augen schlimmsten Vorschläge, die bis an den Punkt gehen, dass man auch zweijährige Kinder töten darf und dass sie noch kein Menschenrecht auf Leben haben, von einem Ethikprofessor vertreten werden, Vorschläge, die ein normaler Mensch gar nicht vertreten würde, dann sehen Sie, worin mein Misstrauen gegen Ethikräte begründet ist.

    Müchler: Aber entschieden werden muss ja...

    Prof. Spaemann: Ja, aber die Politiker sollten das entscheiden.

    Müchler: Es sollten die Parlamente sein?

    Prof. Spaemann: Ja.

    Müchler: Was eigentlich ist aus Ihrer Sicht das Neue, das zutiefst Beunruhigende an dem, was die biomedizinische Forschung möglich gemacht hat. Was sind in dieser Debatte, in der vieles zur Zeit zerfließt, die essentiellen Punkte?

    Prof. Spaemann: Es sind wohl zwei Dinge. Das eine ist die Vorstellung, durch Zugriff auf die menschliche Erbmasse einen Menschen nach unserem Bild zu entwerfen in Zukunft, nach unserem Design. Die Vorstellung, dass das Bescheidene, was Erziehung bisher gemacht hat, und Erziehung ist immer reversibel, sie greift nicht in die Substanz des Menschen ein, dass das jetzt durch Züchtung ersetzt werden soll, ist aus Gründen, über die wir vielleicht noch sprechen können, etwas, was ich für wirklich tief erschreckend halte. Das zweite ist, dass die Menschheit anfängt, ihren eigenen Nachwuchs im frühesten Stadium zu verbrauchen, um die Lebensqualität anderer, erwachsener Menschen zu verbessern. Dies betrachte ich als Kannibalismus schlimmster Art. Ja, das ist der zweite Punkt, den ich für bedrohlich halte.

    Müchler: Ich möchte bei dem zweiten Punkt beginnen. Ist die Inaussichtstellung großer therapeutischer Erfolge nicht etwas, das die Moral korrumpiert?

    Prof. Spaemann: Ja, es ist so wie im "Besuch der alten Dame" bei Dürrenmatt. Die Dame setzt einen exorbitanten Preis aus einem Dorf, wenn sie einen Menschen, den sie gerne tot sehen möchte, töten, und die Leute weisen das erst entrüstet von sich. Aber mit der Zeit fangen sie an, zu überlegen: Was kostet es uns, diesen Menschen am Leben zu lassen, wie viele Millionen? Das ist doch eigentlich zuviel. Und in dem Augenblick, wo sie diese Frage stellen, was kostet es uns, den Menschen am Leben zu lassen, ist im Grunde die Korruption geschehen und die Würfel sind gefallen. Denn in Wahrheit kostet es sie gar nichts, diesen Menschen am Leben zu lassen. Nur, der Tod brächte ihnen etwas, und sie verrechnen den entgangenen Gewinn als Verlust. Und so ist es auch hier. Wenn wir davon ausgehen, dass bestimmte Mittel uns nicht zur Disposition stehen, dann kann ein noch so großer therapeutischer Gewinn daran nichts ändern. Wenn man aber einmal vor Augen führt, all die Menschen, denen geholfen wird, und dann wird man gefragt: "Ja und dieser winzige Embryo, das ist dir mehr wert als all diese Scharen von geheilten Menschen?", dann ist die Korruption passiert. Denn wenn das eine Abwägung ist, dann kann sie nur ausgehen zu Gunsten der Therapie auf Kosten des Lebens der Menschen im frühesten Stadium.

    Müchler: Entsteht die Schwierigkeit nicht dadurch, dass bestimmte natürlich Grundgegebenheiten - Zeugung, Geburt, Tod - außer Kraft gesetzt zu werden drohen, weil zum Beispiel der Beginn des Lebens umstritten gestellt ist. Wann beginnt für Sie das Leben und damit auch die Nichtverfügbarkeit über das Ungeborene.

    Prof. Spaemann: Ja, ich glaube, die Frage, wann das Leben entsteht, darüber besteht Konsens, dass es nämlich im Augenblick der Zeugung entsteht. Ich glaube, das wird niemand bestreiten, dass die erste Zelle, die aus der Zeugung entstanden ist, lebendig ist. Die Frage, ab wann menschliches Leben schützenswert ist, ist die zweite Frage. Und da ist meine Antwort die: Es gibt keine plausibel zu machende Grenze, bei der man sagen könnte, hier fängt es an. Das sehen Sie schon daran, dass alle Menschen, die versuchen, einen solchen Anfang zu statuieren, zu ganz verschiedenen Ergebnissen kommen. Die einen sagen, von der Nidation an, die anderen sagen, von der Geburt an, wie Hörster, andere sagen, erst wenn ein Mensch zum Selbstbewusstsein kommt - also ein zweijähriges Kind hat auch noch kein Recht auf Leben - also, Sie sehen, wenn man überhaupt diese Debatte anfängt, dann ist es eine Sache weitgehend des Beliebens, wann man den Anfang machen will. Meine Antwort ist die, die Kant schon gegeben hat, wenn er sagt: Es ist aus praktischen Gründen eine notwendige Idee, dass die menschliche Person mit ihrer Zeugung beginnt. Das ist keine metaphysische These über eine unsterbliche Seele, die da in diesem Augenblick beginnt, man kann ja ebenso auch sagen, die begänne erst später, sondern es ist ein Ausdruck des Nichtwissens. Wir können nur sagen, die menschliche Person ist identisch dem Menschen, und da, wo menschliches Leben beginnt, da ist es schützenswert. Alles andere ist Willkür.

    Müchler: Aber nun klaffen philosophische Anschauungen und Rechtsetzung auseinander, auch in dieser Frage, nicht zuletzt durch die Liberalisierung der Abtreibung. Ist das ein Sündenfall gewesen?

    Prof. Spaemann: Ja, es ist eine neue Argumentationslage entstanden. Es gibt verschiedene Sündenfälle. Man kann sagen, die Freigabe der Abtreibung ist einer. Der Vorsitzende der Deutschen Forschungsgemeinschaft hat gesagt, mit der In-vitro-Befruchtung ist der Rubikon, wie er sagt, überschritten worden, weil da überzählige Embryonen anfallen, und das hat man von vorne herein gewusst. Und indem man sich dafür entschieden hat, hat man den Rubikon überschritten. Nun, ich würde sagen, das stimmt. Da muss man eben wieder über den Rubikon rückwärts zurückgehen. Bei der Abtreibungsdebatte ist folgendes interessant, dass die Grünen, die sich ja vehement für die Freigabe der Abtreibung eingesetzt haben, jetzt in allen weiteren Schritten äußerst restriktiv sind. Und ihre Position ist die, sie erkennen an, dass der Mensch von Anfang an ein Mensch ist, sei meinen nur, dass die Symbiose von Mutter und Kind in den ersten Stadien so intensiv ist, dass gegen den Willen der Mutter das Kind nicht geschützt werden kann und dass man also in diesen Prozess nicht eingreifen darf von Staats wegen. Ich teile diese Meinung nicht, aber ich respektiere sie. Sie zeigt, dass noch kein notwendiger Schritt geschieht von der Freigabe der Abtreibung zu den weiteren Dingen, denn hier handelt es sich nicht mehr um eine Symbiose, sondern hier handelt es sich darum, dass Menschen im frühesten Stadium vollständig instrumentalisiert werden für die Zwecke anderer Menschen, so edel diese Zwecke auch sein mögen.

    Müchler: Nun gibt es in dieser Debatte auch den Standpunkt Nida-Rümelin, wenn ich ihn einmal so nennen darf. Herr Nida-Rümelin, Staatsminister für Kultur, hat relativ am Anfang der Debatte die Auffassung vertreten, dass die Menschenwürde nur für solche menschlichen Wesen gelte, die Selbstachtung empfinden könnten. Sie sind dem sehr vehement entgegengetreten und haben das einen Anschlag auf die Menschenwürde genannt. Bleiben Sie dabei?

    Prof. Spaemann: Ja, das würde ich schon. Denn wann hat ein Mensch Selbstachtung? Erst einmal sind die zweijährigen Kinder damit sämtlich auf das Schwerste bedroht, denn man wird kaum sagen können, dass ein zweijähriges Kind Selbstachtung besitzt, oder nehmen wir meinetwegen ein eineinhalbjähriges Kind. Also, wenn wir dieses Kriterium zugrunde legen, dann sind sehr viele Menschen gefährdet. Dann sind auch altersdebile Menschen gefährdet, Alzheimerpatienten, bei denen man doch die Frage stellen muss, ob sie noch über so etwas wie Selbstachtung verfügen. Also, ich glaube, an diesem Kriterium darf man wirklich nicht festhalten, wenn man es nicht zu einer gigantischen Bedrohung von Menschen kommen lassen will, die wir heute alle doch als Menschen betrachten.

    Müchler: Ist es nicht etwas sehr Bedenkliches, wenn jemand, der einerseits Philosoph ist, inzwischen aber auch politischer Funktionsträger geworden ist, einer Regierung angehört, die ja nun auch Einfluss genommen hat und nimmt auf die Zusammensetzung einer neuen Institution wie der des Nationalen Ethikrates, ist es nicht bedenklich, wenn jemand wie Nida-Rümelin eine solche doch sehr extreme Position vertritt?

    Prof. Spaemann: Doch, ich würde sagen, das hätte er nicht tun sollen. Er hat ein gutes Buch geschrieben, mit dem er sich habilitiert hat, über eine Kritik des Konsequentialismus, also einer Position, die sagt, dass ein großer Vorteil es rechtfertigt, auch Dinge zu tun, die man normalerweise als Unrecht betrachtet. Er verteidigt in diesem Buch, dass es so was wie absolute Verbote gibt. Wenn Sie wollen, verteidigt er eine Art von Gesinnungsethik. In dem Punkt bin ich ganz mit ihm einig. Aber wenn er dann sagt: Ja, aber Menschen, die nicht über Selbstachtung verfügen, die sind gar kein Gegenstand einer solchen Erwägung. Menschen, die über Selbstachtung verfügen, darf man nicht einfach opfern für andere Menschen. Aber die Menschen, die er freigeben möchte, ja. Dann halte ich das für so bedenklich und auch verfassungswidrig, dass ein Minister dies eigentlich nicht sagen sollte. Das Verfassungsgericht hat nämlich ausdrücklich das Gegenteil erklärt. Es hat in einem entscheidenden Urteil gesagt, dass es bei der Menschenwürde und dem Schutz der Menschenwürde nicht darauf ankommt, ob dieser Mensch sich selbst seiner Würde bewusst ist. Dem widerspricht Nida-Rümelin diametral, und ich weiß nicht, ob ein Minister das tun sollte.

    Müchler: Ich will zurückkommen auf den ersten Punkt, denn Sie genannt haben: Züchtung. Ich will mal provokativ fragen: Warum sind Sie gegen die Züchtung des edlen, schönen, gesunden Menschen?

    Prof. Spaemann: Aus zwei Gründen. Das eine ist: Wir verfügen über keinerlei Kriterium dafür, was ein gelungener Mensch ist. Wenn wir einen bestimmten Typ von Menschen züchten, dann ist der gezüchtete Mensch Ausdruck der Präferenzen, die die gegenwärtige Generation gerade hat. Intelligent soll er sein, ja. Und wenn er ein Verbrecher ist, wäre es ja vielleicht besser, er wäre weniger intelligent. Ich habe neulich gesprochen mit einem Menschen, den ich sehr verehre, der einen sehr niedrigen Intelligenzquotienten hat, und der, wenn es um wichtige Fragen des Lebens geht, so überraschend überzeugende und den Kern der Dinge treffende Sachen sagt, dass ich mich frage, müsste der einen höheren Intelligenzquotienten haben, sollte der den Intelligenzquotienten von Josef Goebbels haben? Also, ich sehe das nicht ein. Oder, was wollen wir? Soll der Mensch besonders sensibel sein, soll er ein besonders zartes Sensorium haben? Was wollen wir? Wir wissen, welche Schweine wir gerne hätten: Heute nämlich solche, die mageres Fleisch haben. Früher wollte man sie gerne mit fettem Fleisch. Gut, dann züchten wir sie so. Aber Menschen nach unserem Bild machen, das kann eigentlich nur misslingen. Man hat doch gesehen, dass die großen sozialistischen Systeme gescheitert sind, die versuchten, die Resultate von Millionen von Marktentscheidungen von Menschen zu ersetzen durch staatliche Planung.

    Müchler: Hans Jonas, den Sie einmal in diesem Zusammenhang zitiert haben, hat davon gesprochen, dass der Kern der Menschenwürde das Recht auf eine offene Zukunft sei. Durch ein Züchtungsprogramm wäre das nicht mehr gewährleistet, sondern das Gegenteil träte ein.

    Prof. Spaemann: Ja, vor allen Dingen war das ein Argument gegen das Klonen. Es gibt ein Argument gegen das Klonen, das schwach ist. Man sagt, wenn man von einem Menschen ein genetisches Duplikat herstellt, sei das gegen die Menschenwürde. Nun, es gibt Zwillinge. Das hat auch Sloterdijk gesagt, dann frag doch mal Zwillinge, ob sie sich in ihrer Menschenwürde verletzt sehen. Das ist nicht der Punkt. Jonas hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die geklonten Menschen Duplikate sein sollen von Menschen, die bereits viel älter sind, von Erwachsenen. Und diese Menschen werden in der Tat ihr Ebenbild, also ihren Zwilling, immer vor Augen haben als einen, der zwanzig oder dreißig Jahre älter ist, und werden dann vor Augen haben: So werde ich dann aussehen, und so wird es mir gehen und die Krankheiten werde ich haben. Das gefährdet in der Tat die offene Zukunft. Und im übrigen ist die Naturwüchsigkeit des Menschen, der seine genetische Substanz dem Zufall verdankt, am Ende besser als die Ersetzung des Spiels des Zufalls durch menschliche Planung.

    Müchler: Ich komme noch einmal zurück auf die Frage: Gibt es einen Regelungsbedarf? Es gibt ihn offenbar. Wer soll die Regelung vornehmen? Sie haben eben auf das Parlament hingewiesen. Einer Ihrer Kollegen, Walter Schweidler, hat geschrieben: Die Politik hat die ethische Verantwortung des wissenschaftlichen Fortschritts zu gewährleisten. Wie aber soll sie das tun, wenn in der Gesellschaft die Auffassungen kreuz und quer durcheinandergehen, und wenn, was ja zunächst nicht bestritten werden kann, die Regelungen im benachbarten Ausland durchaus anders sein können.

    Prof. Spaemann: Ja, aber wir haben noch keinen Staat, der universal ist. Das heißt, die Wahrnehmung der ethischen Verantwortung kann bisher nur durch nationale Parlamente geschehen. Und der Hinweis darauf, dass ja im Ausland das und das schon geschieht, ist dann völlig wirkungslos, wenn das, was dort geschieht, von uns missbilligt wird. Es wäre ein völlig korrumpierendes Argument, wenn wir im Bezug auf alle schlechten Dinge darauf hinweisen würden, dass in dem und dem Land das ja auch geschieht. Wenn wir der Überzeugung sind, dass das nicht sein sollte, dann sollten wir es nicht tun. Nehmen Sie zum Beispiel den Fall Holland, die Freigabe der Euthanasie und die Tatsache, dass dort jährlich mehrere tausend Menschen, oder - jetzt weiß ich die Zahl nicht genau - also, mehrere hundert Menschen ohne ihre Zustimmung getötet werden in angeblicher Wahrnehmung des wohlverstandenen Interesses der Getöteten, also genau das, was die Nazis gemacht haben, dann sollte man nicht sagen, das geschieht ja auch in Holland, sondern dann würde ein solches Land eigentlich wegen seiner Gesetzgebung in eine moralische Quarantäne gehören, denn man hat Österreich in eine Quarantäne geschickt wegen einiger unverantwortlicher Reden eines Politikers. Das waren bloß ein paar Reden, aber hier handelt es sich um effektive Gesetze.

    Müchler: Die letzte Frage: Es gibt als gesetzliche Grundlage das Embryonenschutzgesetz von 1991. Ist das überholt oder sollte der Gesetzgeber es bestätigen?

    Prof. Spaemann: Er sollte es bestätigen. Und er würde dann auf der Linie bleiben, die auch durch das Bundesverfassungsgericht längst schon vorgegeben ist.