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Spanische Identitäten (3/5)
"Volk" und "Vaterland" nicht den Rechten überlassen

Die spanische Linke hat sich seit der Diktatur nie um die Frage nach der nationalen Identität gekümmert, kritisiert Iñigo Errejón, Vordenker der einstigen Protestpartei Podemos. Spanien brauche aber dringend ein nationales Projekt, das Gemeinschaft stifte, glaubt er.

Von Hans-Günter Kellner | 21.11.2018
    Iñigo Errejón, Vordenker der linken spanischen Partei Podemos, während des Parteitags im Februar 2017 in Madrid
    Iñigo Errejón, Vordenker der linken spanischen Partei Podemos, während des Parteitags im Februar 2017 in Madrid (AFP/ Pierre-Philippe Marcou)
    Iñigo Errejón ist einer der bekanntesten Köpfe bei Podemos, doch die Flügelkämpfe in der Partei sind hart. Und weil bei Podemos streng darauf geachtet wird, wer wem Interviews gibt, hat er das Treffen kurzerhand vom Abgeordnetencafé im Parlament in seine Lieblingskneipe unweit seiner Wohnung in der Altstadt von Madrid verlegt. Hier ist er unter Freunden.
    Der Politiker bestellt sich ein Bier, schreibt noch ein paar letzte Stichworte in sein rotes Notizbuch. Das Thema der Frage der Nation interessiere ihn sehr, versichert er:
    "Für die spanische Linke ist die nationale Identität ein Problem, das sie gerne ignoriert. Sie fühlt sich wohler im Lokalen, in den Städten oder Dörfern. Oder mit einer globalen Identität, als Bürger Europas oder des Planeten Erde. Meine Generation, die Bewegung der Empörten, stellt das infrage. Warum muss die spanische Linke eine der wenigen linken Bewegungen der Welt ohne Vaterland sein?"
    Frage nach der nationalen Identität war lange tabu für die Linke
    Doch die Linke habe sich seit der Diktatur nie um nationale Symbole, um die Frage nach der nationalen Identität gekümmert, kritisiert der Vordenker der einstigen Protestpartei, wohl in Opposition zum Franco-System, das den spanischen Nationalismus über Jahrzehnte geprägt hat.
    Errejón unterstreicht jeden Satz mit unauffälligen, aber entschlossenen Gesten. Er blickt seinem Gesprächspartner fest in die Augen. Er findet, es sei ein Fehler, die Begriffe "Volk" und "Vaterland" den Rechten zu überlassen. Die Gesellschaft sei doch schon in 1.000 Teile gespalten, die Menschen seien nicht freier, sondern einsamer geworden. Der junge Politiker denkt und spricht schnell, die Gedanken sprudeln nur so aus ihm heraus. Auf die übrigen Gäste in der Kneipe achtet er kaum.
    "Warum sind die Fußballstadion so voll, trotz der teuren Eintrittskarten? Weil die Leute irgendwo dazugehören wollen. Sie wollen Gemeinschaft. Wenn die Linke sagt: Uff, das sind Probleme kulturell ungebildeter Leute, bleibt sie nur noch eine politische Option für elitäre Kosmopoliten in den gentrifizierten Großstädten. Wir müssen eine solche Gemeinschaft anbieten. Wenn wir es nicht machen, machen es eben Bolsonaro, Orbán, Trump, Le Pen. Das will ich nicht, darum muss die Linke populäre, patriotische Projekte anbieten. Ohne Komplexe."
    Stolz auf Spaniens Geschichte
    Das ist die Art Politik, von der der Politologe seit der Gründung von Podemos spricht: Politik jenseits des klassischen ideologischen Spektrums von Links bis Rechts. Das ist auch die Politik, die er für seine Doktorarbeit in Lateinamerika untersucht hat. Die großen parteiübergreifenden Ideen sind immer noch sein großes Thema:
    "Ich liebe mein Land sehr. Ich bin stolz auf große Augenblicke in seiner Geschichte."
    Er lehnt sich zurück und beginnt aufzuzählen:
    "Spanien ist das einzige Land, in dem sich im Bürgerkrieg schlecht ausgerüstete Arbeiter fast vier Jahre lang dem Faschismus widersetzt haben. Ich bin stolz darauf, dass Spanien eines der ersten Länder war, in dem die Rechte von Schwulen und Lesben anerkannt wurden, dass wir Flüchtlinge aufnehmen, dass die Bewegung der Empörten von Spanien in die Welt hinauszog, stolz auf die massiven Proteste gegen die Wohnungsräumungen, darauf, dass die Leute Menschenketten bildeten, der Polizei die Stirn boten und sagten: Unser Nachbar wird nicht auf die Straße gesetzt."
    Auch in der sogenannten transición, während des Übergangs von der Diktatur zur Demokratie nach Francos Tod 1975, sieht Errejón einen Grund zum Stolz. Obwohl Teile der Linken diesen Übergang heute so sehr kritisieren, weil er einen Schlussstrich unter die Verbrechen des Franco-Regimes bedeutet hat, statt ihrer Aufarbeitung. Errejón kennt die Debatte zur gut. Er trinkt einen Schluck aus seinem Bierglas, wischt sich den Schaum vom Mund und schüttelt den Kopf:
    "Es ist nicht die Aufgabe einer Generation, die Geschichte auf den Prüfstand zu stellen. Sie muss die Aufgaben der Gegenwart bewältigen. Die Generation meiner Eltern hat getan, was sie konnte, um aus der Diktatur zu finden und uns ein demokratisches Erbe zu hinterlassen."
    Zehntausende protestieren im Mai 2011 auf der Puerta del Sol in Madrid gegen das politische System und die wirtschaftliche Situation in Spanien
    In Madrid protestierten im Mai 2011 Zehntausende gegen die hohe Arbeitslosigkeit. Viele aus dieser "Bewegung der Empörten" wurden später zu Wählern von Podemos. (AFP/ Javier Soriano)
    Ein neuer Gesellschaftsvertrag könnte Spanien einen
    Jetzt brauche Spanien ein neues nationales Projekt, ist der 34-Jährige überzeugt. Denn der Grundkonsens zwischen den Spaniern sei zerstört, die Machtverteilung zwischen Zentralregierung und Regionen gelte nicht mehr, was der Katalonienkonflikt beweise. Aber auch den sozialen Frieden sieht er zerstört, seit Chancengleichheit und Kündigungsschutz nichts mehr gelten, meint der Linkspolitiker.
    "Wer hat das größte Interesse an einem neuen Gesellschaftsvertrag?", fragt er und gibt sich die Antwort gleich selbst:
    "Die Reichen brauchen kein neues Abkommen. Die werden immer ihre Bankkonten haben, ihre mächtigen Freunde. Niemand braucht ein neues Abkommen mehr als die einfachen Leute. Es muss Schluss sein mit dem Recht des Stärkeren, mit dem Gesetz, nachdem den Letzten die Hunde fressen. Ein solches neues Abkommen ist unsere Aufgabe heute. Ich weiß, in der Linken gibt es Leute, die meinen, es sei hingegen Zeit für die Revanche. Aber das ist nicht mein Kampf."
    Das Bierglas ist leer, er klappt das rote Notizbuch zu. Er hat in der ganzen Zeit kein einziges Mal hineingeschaut.