Mittwoch, 24. April 2024

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Spanisches Denken
"Es ist ein Aufschrei gegen die Finanzdiktatur"

In Spanien finden am 26. Juni Neuwahlen statt, weil sich die spanischen Parteien nicht auf eine Koalition einigen konnten. Angesichts solcher Entwicklungen warf der Soziologe Emmanuel Rodríguez im DLF-Interview unter anderem die Frage auf, wie sich das soziale Unbehagen einer Bevölkerung in neue politische Potenz verwandeln lasse.

Emmanuel Rodríguez im Gespräch mit Barbara Eisenmann | 29.05.2016
    Demonstranten der spanischen 15-M-Bewegung ("Bewegung 15. Mai") heben ihre Hände in die Luft.
    "Die politische Krise ist von der Bewegung des 15. Mai initiiert worden, drückt sich aber später politisch in Podemos aus, der neuen Partei", sagte der Soziologe Emmanuel Rodríguez im Deutschlandfunk. (picture-alliance / dpa / Fernando Alvarado)
    Barbara Eisenmann: Emmanuel Rodríguez ist 1974 geboren, ein Jahr vor dem Tod Francisco Francos und dem Ende der franquistischen Diktatur. Der Historiker und Soziologe ist Mitbegründer des genossenschaftlichen und inzwischen angesehenen Verlags Traficantes de Sueños und dort Verleger. Er schreibt aber auch selbst Bücher und ist auch als Journalist in Spanien sehr präsent. Daneben arbeitet er als Dozent für Politische Geografie an der Universität Complutense in Madrid. Wir treffen uns in den Räumen des Verlags mitten in Madrid, der neben einer sehr schönen Buchhandlung auch über einen großen Veranstaltungsraum verfügt, in dem fast jeden Abend irgendeine Veranstaltung stattfindet.
    In Spanien gibt es eine Reihe von Intellektuellen, die nach dem Franquismus geboren sind, die als einzelne, aber häufig auch in Kollektiven ein Denken produzieren, das, von der Krise ausgehend, das Soziale und Politische rekonstruiert. Vielleicht auch im Sinne einer neuen Philosophie der Praxis, ohne allerdings auf Konzepte der alten Linken wie Sozialismus zurückzugreifen oder auch Kommunismus wie das Theoretiker wie Slavoj Zizek oder Alain Badiou tun, sondern indem Konzepte wie Demokratie oder das Gemeinsame neu gedacht werden. Woher kommt diese Produktivität?
    Emmanuel Rodríguez: Nun Spanien ist kein Land, das sich jemals durch eine Intellektualität vergleichbar der anderer Länder Mitteleuropas ausgezeichnet hätte. Es gab in den 20er- und 30er-Jahren nicht diese Explosion eines Denkens, das mit Staatstheorie, Soziologie, dem ganzen revolutionären Denken, den kommunistischen Theoretikern und so weiter zu tun gehabt hätte. Und das wenige, was es gab, ist dann mit dem Franquismus verschwunden. In den 80er-Jahren hat es erneut eine Explosion gegeben, vielfach verbunden mit der neuen Linken, die allerdings in Spanien auch keine besondere Reichweite hatte, aber ein wenig drang doch herein von dieser intellektuellen Revolution der 70er- und 80er-Jahre, also das Ganze mit dem Strukturalismus, dem französischen Poststrukturalismus, von Althusser bis zu Deleuze/Guattari verbundene Denken. Aber es hat sich nicht wirklich verfestigt. Ich würde dennoch sagen, wir haben es jetzt in diesem Moment in Spanien tatsächlich mit einer intellektuellen Revolution zu tun. Ausgehend von bestimmten Politisierungen der 80er- und 90er-Jahre, die eng verbunden waren mit marginalen Bewegungen, dem Aktivismus, den Autonomen, beginnt ein Nachdenken, das mit diesen Prozessen etwas zu tun hat, und das sich dann in der Bewegung des 15. Mai mit einer Politisierung der ganzen Gesellschaft verbindet.
    Eisenmann: Mit dem 15. Mai ist eine Bewegung gemeint, die sich ausgehend von der Besetzung eines Platzes mitten in Madrid am 15. Mai 2011 gebildet hat und die die politischen Verhältnisse in Spanien in den Jahren darauf von Grund auf verändert hat. 2014 ist aus der Bewegung heraus eine neue Partei entstanden: Podemos/Wir können es, die inzwischen drittstärkste Kraft in Spanien ist.
    Rodríguez: Es wird jetzt also das bearbeitet, was in diesem Moment auf der Straße passiert. Und vor allem geht es dabei um ein Resignifizieren von Demokratie. Das heißt, Demokratie muss in diesem Land ganz offensichtlich mit neuen Begriffen aufgeladen werden, denn die alten sind zu verbraucht. Und von da kommt dann auch die Bedeutung des Gemeinsamen.
    Eisenmann: Könnten Sie vielleicht als Einstieg einmal die Moderne mit ihren beiden Traditionslinien umreißen: die der liberalen Demokratie, die sich durchgesetzt hat. Und die einer direkten Demokratie, einer Rätedemokratie oder auch einer sozialistischen Demokratie. Und deren jeweils unterschiedliche Vorstellungen von Demokratie.
    Rodríguez: Ausdruck der 15.-Mai-Bewegung in der Partei Podemos
    Rodríguez: Nun, ich denke, es ist interessant, sich das im spanischen Kontext anzusehen. Denn genau diese Diskussion - man findet in der europäischen Geschichte überall Fäden dazu - findet sich in Spanien in den 70er-Jahren, und zwar in einer ganz akuten Form. Was den Franquismus zu einem Ende bringt, was auch dazu führt, dass ein Franquismus ohne Franco nicht möglich gewesen ist, war eine Massenbewegung, eine Bewegung, die ihr Zentrum noch in der Fabrik hatte. Es gab ab 1962, '64, '65, '66 Wellen einer neuen Arbeiterbewegung, die dann zwischen 1970 und 1976 regelrecht explodierte. Eine Bewegung, die Versammlungscharakter hatte, eine Bewegung, die nicht zu den vertikalen franquistischen Gewerkschaften gehörte, die überhaupt mit den damals üblichen gewerkschaftlichen Formen nichts zu tun hatte. Es handelte sich nämlich um Arbeiterausschüsse, die in den Versammlungen in der Fabrik von der Belegschaft selbst gewählt worden waren. Die Formen der Demokratie, die sich in den Konflikten in der Fabrik in jenem Augenblick artikulierten, waren keine Formen liberaler Demokratie. Allerdings waren es die Parteien der Linken, und vor allem die kommunistische Partei, die aus dieser Bewegung später Kapital geschlagen haben. Obwohl sich diese Bewegung in unzähligen Streiks kaum zurückdrängen ließ, wurde diese ganze Mobilisierungswelle am Ende in der neuen spanischen Demokratie aufgehoben, die sich an die liberalen Regime im restlichen Europa assimiliert hatte. Das war der Konflikt der 70er-Jahre. Und heute erleben wir etwas Vergleichbares. Die politische Krise ist von der Bewegung des 15. Mai initiiert worden, drückt sich aber später politisch in Podemos aus, der neuen Partei. Und auch in den kommunalen Alternativen, allerdings ohne dass man jetzt die eine und die andere Sache miteinander identifizieren könnte.
    Eisenmann: Ich werde darauf später zurückkommen, auf den 15. Mai und den neuen Munizipalismus, also die kommunalen, nicht parteiförmigen Plattformen, die heute viele spanische Rathäuser regieren. Ich wollte zuerst aber auf Ihr vorletztes, nicht ins Deutsche übersetzte Buch zu sprechen kommen - "Hypothese Demokratie" heißt es -, in dem Sie sich konkrete historische Erfahrungen anschauen, um daraus Lehren zu ziehen, wie man mit der gegenwärtigen Krise umgehen könnte. Was sind die relevantesten Ergebnisse dieser Untersuchung, vielleicht auch in einem geschichtsphilosophischen Sinn - Sie zitieren am Anfang Walter Benjamin -, also von nicht erfüllten Potenzialen in der Vergangenheit, die man sich anschauen könnte?
    Rodríguez: Ich würde gerne noch mal die 70er-Jahre fokussieren, denn das war in diesem Sinn wirklich ein Schlüsselmoment der Geschichte Spaniens. Es artikulierten sich damals Möglichkeiten eines politischen Umbruchs, die sich in anderen Kämpfen in Europa in jener Zeit auch ausdrückten. Besonders das Beispiel Italien, das wahrscheinlich das heftigste, aber auch interessanteste Kapitel dieser Geschichte ist, und zwar vor allem wegen der Verbindungen zwischen einer politisierten Intellektualität mit den Kämpfen einer Bewegung, die wirklich unglaublich reiche Fähigkeiten und Potenziale besaß. In Spanien haben wir es in jenem Moment mit den Kämpfen in der Fabrik zu tun und auch mit dem Entstehen von sozialen Bewegungen, die genau in diesen wichtigen Jahren der Zeit des Übergangs nach dem Franquismus, also 1975, '76, '77 auftauchten. Und was wir da sehen können, sind Formen der politischen Organisation, Formen der Auseinandersetzung, Formen des Zusammenseins, die tatsächlich auf ein anderes Modell von Demokratie abzielen. Man kann das zum Beispiel in Berichten aus jener Zeit nachlesen, dass das, was den Arbeitern in der Fabrik am wichtigsten war, die Möglichkeit war, an Versammlungen teilzunehmen, Delegierte zu wählen, Delegierte abzuberufen. All das ist grundlegend, und das ist wirklich ein Potenzial, das später zurückgedrängt wurde - aus verschiedenen Gründen. Zunächst einmal machte es der internationale Kontext unmöglich, dass es in irgendeinem Land einen Prozess politischer Experimente hätte geben können. Wir haben den Fall Portugal, die Nelkenrevolution, wo diese Kämpfe in der Fabrik, die Arbeiterselbstverwaltung und so weiter Schritt für Schritt befriedet wurden. In Spanien passierte mehr oder weniger das Gleiche. Es war damals nicht möglich, weiter zu gehen. Andererseits sehen wir, wie die Krise damals bearbeitet wurde - die Wirtschaftskrise der 80er-Jahre -, im Fall von Spanien ist das ziemlich klar. Es handelte sich um einen Prozess der Deindustrialisierung, der Zerstörung industrieller Strukturen. Man zerschlug das Ganze soziale Gefüge; das war ja nicht nur ein Angriff auf die Löhne, sondern auf die Basis selbst, die diesen Zusammenhang ausmachte. Und deshalb glaube ich, dass wir diese Möglichkeiten oder diese Nicht-Entwicklungen eben auch in der jüngeren Vergangenheit finden.
    Eisenmann: Der Historiker Emmanuel Rodríguez hat diesen ganzen Komplex der Transición, des Übergangs in die Demokratie nach dem Ende der Diktatur, der in Spanien inzwischen von vielen unter dem Stichwort Krise des Regimes von 1978 problematisiert wird, sehr kenntnisreich in seinem letzten, ebenfalls nicht auf Deutsch erschienenen Buch bearbeitet. "Warum die Demokratie in Spanien gescheitert ist" heißt es.
    Lassen Sie uns nun zum 15. Mai kommen, der Bewegung, die mit einer Besetzung eines Platzes mitten in Madrid am 15. Mai 2011 begann und die von Anfang an die real existierende Demokratie problematisiert hat. Slogans des 15. Mai waren "Sie nennen es Demokratie, aber es ist keine", "Sie repräsentieren uns nicht" oder auch "Wirkliche Demokratie jetzt, wir sind keine Waren in den Händen von Politikern und Bankern." Die Bewegung des 15. Mai hat auf die Distanz aufmerksam gemacht zwischen Demokratie als etwas Formalem und Macht als etwas Realem. Inwiefern ist die Bewegung des 15. Mai eine Demokratiebewegung?
    Rodríguez: Aufschrei gegen die Finanzdiktatur
    Rodríguez: Die Bewegung des 15. Mai sollte man, glaube ich, nicht nur als Bewegung betrachten, sondern als einen friedlichen und demokratischen Aufstand. Es ist ein Aufschrei, eine Kriegserklärung gegen die Finanzdiktatur; im Fall Spaniens ist das ganz klar. Es ist der Moment, in dem Austeritätspolitiken angewandt werden, und zwar auf ziemlich heftige Weise. Ein Prozess des Sozialabbaus, von den spanischen Bundesländern selbst zwar durchgeführt, aber von der Troika diktiert. Es ist auch der Moment, in dem die Schuldenblase zu platzen beginnt: die Blase der privaten Schulden. Eine Riesenwelle an Zwangsräumungen setzt ein: Leute, die keine Wohnung mehr haben, aber auf den Schulden sitzen bleiben - das hat mit den Besonderheiten des spanischen Hypothekenwesens zu tun. Und diese Explosion produziert eine Generation, die in weiten Teilen ganz klar der Mittelschicht angehört. Und die wird jetzt zwangsgeräumt, aus ihrer Zukunft geworfen. Zukunft im Sinne von Lebensprojekt, im Sinne von Möglichkeiten einer beruflichen Karriere oder auch einfach im Sinne von einen gesellschaftlichen Ort haben. Und diese Generation steht nun auf und wendet sich gegen das Diktat der Troika. Was sie einklagt, ist ein ambivalentes und auch komplexes Bündel an Forderungen, die aber demokratischen Charakter haben. Da sind zum einen Merkmale der liberalen Demokratie. Das System soll besser funktionieren, die leistungsorientierten Auswahlsysteme, aber auch die Verwaltung des Öffentlichen soll frei von Korruption und Vetternwirtschaft sein. Andere Vorschläge gehen weiter, und das sind die interessanteren; da geht es im Grunde genommen um eine Demokratie, die von allen gemeinsam konstruiert wird, die nicht in den Händen von Profis liegt, die vielmehr ausgehend von Systemen entwickelt wird, die sich in diesem Moment auf den Plätzen entfaltet haben: Systeme direkter Partizipation. Es gibt da auch einen sehr interessanten Einsatz, der technopolitischer Natur ist, nämlich den Gebrauch des Internets und der sozialen Netzwerke, also in gewisser Weise eine Art technologieabhängiger Utopismus, in diesem Fall abhängig vom Internet, das eine direkte Beteiligung und Diskussion erlaubt. All diese Elemente kommen aus meiner Sicht in der Bewegung des 15. Mai zusammen, also Elemente, die zu unterschiedlichen demokratischen Strömungen gehören, wobei die Demokratie immer im Zentrum steht.
    Eisenmann: Kann die Demokratie gerettet werden? Diese Frage stellt sich mit immer größerer Dringlichkeit, und an unterschiedlichen Orten wird sie durch unterschiedliche Umstände getriggert. In Spanien sind es die Erfahrungen mit den rigiden Sparpolitiken, die die Troika diktiert, ohne auch nur im Geringsten Forderungen an demokratisch legitimierte Prozesse zu berücksichtigen. In Deutschland sind es vor allem die Diskussionen um das TTIP-Abkommen, die die Krise der Demokratie sichtbar gemacht haben. Inwiefern sprechen Sie von der Rettung der Demokratie? Wie bearbeiten Sie das?
    Rodríguez: Nun, nicht ich bearbeite das, vielmehr sollten die Quelle nicht nur der Inspiration, sondern auch der Kreation einer konstituierenden Macht immer die Bewegungen selber sein, das ist zentral.
    Eisenmann: Emmanuel Rodríguez ist nicht nur Forscher, er ist auch Aktivist und seit vielen Jahren in verschiedenen Kollektiven aktiv, die er meistens selber mitbegründet hat. Zuletzt das Institut für Demokratie und Munizipalismus. Und er ist es gewohnt, Dinge gemeinsam mit anderen zu denken.
    Rodríguez: Moment des Aufstands
    Rodríguez: In Spanien gibt es also einen Moment des Aufstands, der Öffnung, einen Moment einer enormen Kreativität; das alles beginnt am 15. Mai 2011 und entwickelt sich dann im Lauf eines Jahres. Wir sehen, dass alle Sektoren, die mit dem Sozialstaat zu tun haben, das öffentliche Gesundheitswesen, das in Spanien ziemlich gut ist, das Bildungswesen, die Justiz, die Angestellten im sozialen Bereich sukzessive mit dem Staat in Konflikt geraten, in Konflikt mit seinen Kürzungspolitiken, die in Teilen ungeheuer brutal sind. Der Fall Madrid zum Beispiel: Die sogenannte weiße Welle, also die Mobilisierungen im Gesundheitswesen - die keine gewerkschaftlichen Konflikte sind -, behaupten sich gegen die Landesregierung. Interessanterweise spricht man von Mareas, von Wellen. Das heißt, man drückt damit aus, dass etwas die Fähigkeit hat, ein Territorium zu überschwemmen. Und eben auch die Fähigkeit der Ansteckung. Denn das geht über die Arbeiter im Gesundheitswesen hinaus, es ist kein Gewerkschaftskonflikt, sondern etwas, das alle betrifft. Und deshalb enthält es die Möglichkeit, die Potenz, das Gemeinsame zu konstruieren. Ich glaube, dass das ein Moment ist, in dem sich die Inhalte für eine neue Demokratie finden lassen. Später kommt es dann zu einem Moment der Institutionalisierung, der, aus meiner Sicht, viel weniger kreativ ist und viel konventioneller, denn es geht jetzt um Wahlen und die dazugehörigen Apparate. Wir haben das bei den Kommunalwahlen, den Landtagswahlen und den Parlamentswahlen auf unterschiedliche Weise gesehen. Hier findet eine Anpassung an Formen der konventionellsten Demokratie statt. Die Frage ist nun, wie, langfristig gesehen, die Repräsentationskrise, also diese Krise der demokratischen Institutionen, die sich als unfähig erwiesen haben, über die Diktate der Märkte hinauszugehen - Märkte, die auf Ungleichheit beruhen, denn wir haben es nicht mit einem perfekten Wettbewerb zu tun, in dem Produzenten, kleinere Produzenten, auf direkte Weise mit anderen Produzenten konkurrieren würden, sondern mit großen globalen Finanzoligopolen - die Frage ist also, wie dieser Konflikt zwischen einem konstituierenden Prozess und diesem viel konventionelleren Institutionalisierungsprozess sich weiterentwickelt. Und dieser Konflikt ist aus meiner Sicht ungelöst. Es könnte zu einer dritten Runde kommen, wo diese ganze Maschine der Mobilisierungen erneut angeworfen wird, die vielleicht nicht in der Lage sein wird, Institutionen zu generieren, aber dafür Inhalte einer möglichen Institutionalisierung, die über ein konventionelles Parteienregime hinausgeht. Im Fall des Munizipalismus der neuen Rathausregierungen hat man auch wirklich schon etwas erreicht.
    Eisenmann: Weil in Deutschland das Vokabular der neuen Verfassungsbewegungen, die ja aus Lateinamerika kommen, eher weniger bekannt ist, hätte ich gerne, dass Sie ein wenig konkretisieren, was das ist: konstituierender Prozess, auch destituierender Prozess, also die vorhergehende Phase, die den konstituierenden Prozess vorbereitet, was der Bewegung des 15. Mai in Spanien ja gelungen ist.
    Rodríguez: Neue Übereinkunft finden
    Rodríguez: Nun, der destituierende Prozess, das ist im Grunde genommen die Bewegung selber. Aber, ich glaube, dass es diese Traditionen in ganz Europa gibt, sie sind nur mehr oder weniger vergessen worden nach der Verfassungsbewegung der Nachkriegszeit. Aber das ganze 19. Jahrhundert über waren diese Traditionen ungeheuer lebendig. Im Grunde genommen geht es darum, dass sich Demokratisierungsprozesse in Staaten in Verfassungsänderungen niederschlagen. Das war eine Inspiration der Französischen Revolution: jeder Generation eine neue Verfassung. Und der Ausdruck dafür ist eine konstituierende Macht, die in der Lage ist, einen Rahmen herzustellen, also eine gesellschaftliche Übereinkunft mittels einer Reihe von Gesetzen und grundlegenden Normen, die ausgehandelt werden. Und was nun seit 2011 - und es stimmt schon, die Anregungen dazu kommen aus Lateinamerika, vor allem aus Bolivien und Ecuador -, was nun also neu formuliert wird, ist die Notwendigkeit, dass Demokratisierungsprozesse oder eben diese Forderungen nach Demokratie in einer neuen Verfassung, einer neuen Übereinkunft ihren Ausdruck finden müssen. Aber das hat sich in der letzten Zeit wieder ein wenig verloren. Wichtig ist deshalb jetzt, dass diese Mobilisierungsmaschine oder diese Mobilisierungsprozesse, die ein wenig abgeflaut sind und der institutionellen Logik untergeordnet wurden, wieder angeschoben werden, um Forderungen zu generieren, Neues, politische Agenden et cetera.
    Eisenmann: Kann man Spanien als politisches Labor betrachten, mit der Bewegung des 15. Mai und dem Munizipalismus als Erfahrungen demokratischer Radikalisierung? Und welche Möglichkeiten der Ansteckung gibt es vom Süden in den Norden beziehungsweise von den Rändern Richtung Zentrum?
    Rodríguez: Nun, ich glaube, Spanien und Griechenland sind politische Laboratorien, aber aus unterschiedlichen Gründen. Griechenland ist zum Labor geworden hauptsächlich aufgrund eines Versuchs der Eliten, eine Gesellschaft zugrunde zu richten, sie also derart in die Mangel zu nehmen und auf derart extreme Weise Anpassungspolitiken anzuwenden, wie man das vor Kurzem nur aus Ländern des globalen Südens kannte. Innerhalb der EU ist das ziemlich heftig. In Spanien nun, ja, da gibt es, glaube ich, einige Elemente, die tatsächlich neu sind, aber manche davon sind auch sehr idiosynkratisch und lassen sich kaum exportieren. Zum Beispiel der Munizipalismus. Ich sehe nicht, dass das in anderen Ländern funktionieren könnte - vielleicht in Portugal. Das ist eine Erfahrung, die lokale Wurzeln hat, wo man also versucht, ein Rathaus zu demokratisieren, wobei das Rathaus dabei zum Element eines zivilen Ungehorsams, einer internen Gegenmacht innerhalb des Staates wird. Das hat mit lokalen Traditionen zu tun, die tief verwurzelt sind und mit libertären Komponenten in der Geschichte etwas zu tun haben.
    Was nun die Logik einer Ansteckung vom Süden Richtung Norden betrifft, da bin ich nicht in der Lage, das zu beantworten, aber es sieht ganz danach aus, als ob die Krise im Norden, was die Fähigkeit zur sozialen Mobilisierung angeht, eher von der extremen Rechten abgegriffen wird, und nicht zu politischen Experimenten einer neuen Art führt.
    Eisenmann: Aus dem Süden kommt auch der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis, der mit großer medialer Resonanz Anfang 2016 in Berlin eine, wie er es nennt, paneuropäische Bewegung ins Leben gerufen hat - es geht darum, die EU von unten zu demokratisieren -, eine Bewegung, die sich später vielleicht in eine Art Bewegungspartei verwandeln könnte, vergleichbar unter Umständen dem, was Sie die zukünftige Partei der Demokratie nennen, und dieses Projekt sieht auch eine konstituierende Versammlung vor. Wie sähe so ein neues demokratisches Europa aus? Und wie sehen Sie von Spanien her diese Initiative?
    Rodríguez: In Wirklichkeit werfen alle wichtigen Initiativen, die in der letzten Zeit entstanden sind, die europäische Frage auf und stellen sie ins Zentrum. Europa ist für alle europäischen Staaten zentral, denn ohne Europa sind sie alle verdammt. Europa ist ein dekadenter, ein gealterter Kontinent, ein Kontinent ohne demografisches Wachstum und gleichzeitig ein Kontinent, dessen nationale Traditionen und imperiale Vergangenheit ständig weiter arbeiten, als Gespenst sozusagen, das herumspukt. Also entweder ist es Europa oder es ist nichts. Es sind ja nur eine Reihe von kleinen Staaten in einer globalisierten Welt, in der sie zu Zwergen geworden sind, geopolitischen Zwergen, aber auch zu Zwergen in ökonomischer Hinsicht und sogar in Finanzbegriffen. Also entweder ist es Europa oder es sind Nationalstaaten, die allerdings immer autoritärer werden. Mehr ist da nicht, und das ist, glaube ich, auch das grundlegende Dilemma. Wie kann man das lösen? Indem man in Richtung eines föderalen Europa geht, und das bedeutet, dass man das mittels eines konstituierenden Prozesses tun muss. Man muss sich eine demokratische Verfassung geben, eine, die wirklich demokratisch ist. Und das ist heute die Herausforderung, vor der alle Länder stehen, egal, ob im Norden oder im Süden. Selbst die Möglichkeit einer deutschen oder englischen Rettung ist heute lächerlich. Länder, die außerdem abnehmende demografische Kurven aufweisen, das sind Länder, die nur mehr von Kapitalerträgen leben können. Und das macht überhaupt keinen Sinn. Wer soll diese Finanzerträge oder auch die Pensionen denn bezahlen. Die asiatischen Länder? Warum? Es gibt also gar keine andere Möglichkeit. Die Frage ist, wie man mit dieser Herausforderung nun umgeht und was man konstruiert. Und zwar auch in Richtung einer Öffnung zum globalen Süden hin, was ohnehin die einzige Möglichkeit wäre, wie man eine demografische Verjüngung hinbekäme, aber auch eine politische, soziale und kulturelle. Und das ist die Herausforderung, die man annehmen muss.
    Eisenmann: Und wie sieht man nun in Spanien die paneuropäische Bewegung, die Yanis Varoufakis koordiniert, der kürzlich auch in Madrid war, zusammen mit einer anderen Initiative, die sich Plan B nennt?
    Rodríguez: Plan B, genau. Nun man sieht das mit ziemlich viel Sympathie. Während der Platzbesetzung des 15. Mai gab es ein Plakat, auf dem stand: "People of Europe rise up!". Dieser Slogan hat auf den griechischen Plätzen funktioniert, auch auf den italienischen, wo es ebenfalls Platzbesetzungsversuche gab, und auch in Frankreich. Und ich denke, dieser Slogan trifft auch heute zu. In der aktuellen spanischen Situation, wo sich der Wahlzyklus nun wirklich lange hinzieht, hat eine Rückwärtswende stattgefunden, ein Zurück zu den alten Ritualen der Staatspolitik, der Parteipolitik, der Politik des Paktierens und so weiter. Ich hoffe, dass das nur vorübergehend ist, denn wir müssen über Europa sprechen. Über Spanien schwebt die Möglichkeit einer neuen Brüssel-bedingten Kürzung von zehn bis 25 Milliarden Euro; das sind ungeheure Summen. Die europäische Bewegung ist also die einzige Möglichkeit, wie der spanische oder griechische Zyklus weitergehen kann.
    Eisenmann: Sie haben es vorher schon angesprochen, im Norden Europas beziehungsweise in fast allen Ländern kommt die Antwort auf die Krise von der rechten beziehungsweise rechtsextremen Seite: populistische Bewegungen, die sich auch in Form von Parteien zunehmend stabilisieren. Was kann man gegen diesen heftigen Renationalisierungsschub tun, der Europa und die Demokratie angreift?
    Rodríguez: Wie lässt sich soziales Unbehagen in politische Potenz verwandeln?
    Rodríguez: Diese Frage müsste der Linken und den sozialen Bewegungen in den Ländern des Zentrums und des Nordens gestellt werden. Wie lässt sich das soziale Unbehagen einer Bevölkerung, die wachsende Prekarisierung und eine oft alarmierende Unsicherheit erleidet - weil die Krise eben auch in einen Krieg zwischen Armen übersetzt wird und Einheimische gegen Ausländer ausgespielt werden -, wie lassen sich also diese Unzufriedenheiten in eine politische Potenz mit umgekehrtem Vorzeichen verwandeln - eine, die nicht mikrofaschistisch ist, die nicht offensichtlich ressentimentgetrieben ist, sondern demokratisch und egalitär und in Richtung des Gemeinsamen weist. Was jedenfalls überhaupt nicht hilft, ist dieses Beharren auf einem historischen Nationalismus, den man oft in der französischen Linken sehen kann, aber auch in der deutschen Linken, Lafontaine und so weiter. Das ist überholt beziehungsweise man spielt damit auf dem Feld des Gegners und man kann da nur verlieren. Das Problem ist, wie es gelingen kann, die Unzufriedenheiten, das Unbehagen zu politisieren und wie sich politische Subjekte konstruieren lassen, die gemischt sind, hybrid, und nicht ressentimentgetrieben und rückwärtsgewandt.
    Eisenmann: Wenn wir jetzt am Ende noch einmal in einem utopischen Sinn von Demokratie sprechen, von einer zukünftigen Demokratie im Sinne einer "Republik des Gemeinsamen", wie Sie das nennen, wovon sprechen wir dann?
    Rodríguez: Es geht nicht einfach nur darum, eine neue Institutionalität zu denken, sondern zu fragen, wie sich Gegenmächte artikulieren lassen, die dazu in der Lage wären, das Gemeinsame auszudrücken oder es herzustellen. Wenn wir wollen, dass Demokratie existiert und wenn wir wollen, dass es Politik gibt, dann ist die Dimension des Konflikts unumgänglich. Und wir brauchen dafür politische Subjekte, die nicht nur davon sprechen, wie sich Konsens herstellen lässt, sondern wie man die Konflikte angeht, die in einer Gesellschaft existieren. Wenn es brutale Ungleichheiten gibt, dann müssen Formen gefunden werden, wie man das organisiert, wie man das politisiert, wie man Communities herstellt, die in der Lage wären, sich mit den Institutionen und den existierenden Machtgruppen auseinanderzusetzen. Es geht nicht so sehr darum, eine Utopie zu denken. Die Frage beziehungsweise die Herausforderung ist vielmehr die, wie sich solche Gegenmächte konstruieren lassen, die in der Lage wären, eine Demokratie umzusetzen, denn die Demokratie ist heute erledigt. Die Demokratie ist ja nicht nur ein institutionelles Zusammenspiel, sondern ein Spiel, in dem es zu konfliktgeladenen Beteiligungsdynamiken kommt. Und deshalb muss es Institutionen geben, die es möglich machen, dass das unter Bedingungen der Freiheit geschieht und es auf keinen Fall zu einem Krieg, einem Bürgerkrieg kommt. Das ist aus meiner Sicht die Herausforderung: Gegenmächte konstruieren, die selbst konstituierende Mächte sind. Und in diesem Prozess findet sich das Gemeinsame.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.