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Spitzenkandidaten-Prinzip der EU
"Erbost, dass dieses Verfahren vom Rat kassiert wurde"

Der EU-Parlamentarier Michael Gahler (EVP) hat den EU-Rat dafür kritisiert, das Spitzenkandidaten-Modell ignoriert zu haben. Es sei ein Skandal, dass der Rat in die Selbstorganisation der anderen Institutionen eingreife, sagte er im Dlf. Viele Abgeordnete seien "maßlos frustriert."

Michael Gahler im Gespräch mit Mario Dobovisek | 03.07.2019
Michael Gahler, chief observer of the European Union Election Observation Mission (EUEOM), speaks during a news conference in Islamabad on October 26, 2018.
Der CDU-Politiker und Europaabgeordnete Michael Gahler kritisiert vor allem Macron und Orbán (AFP / Aamir Qureshi )
Mario Dobovisek: Gestern bereits hat es sich konstituiert, das Europäische Parlament in Straßburg, um sich gleich wieder zu vertagen. Denn was eigentlich auf der ersten Sitzung der gerade erst gewählten Abgeordneten passieren sollte, musste zunächst einmal ausfallen: die Wahl des Präsidiums. Das hängt bekanntlich an den Personalentscheidungen der Staats- und Regierungschefs.
Weil sich alle erst einmal sortieren mussten, war es gestern nicht ganz einfach, einen Interviewpartner zu finden. Von einigen kam noch nicht einmal eine Rückmeldung. Insofern freuen wir uns umso mehr über und auf Michael Gahler. Er ist seit 20 Jahren im Europaparlament und dort im Vorstand der CDU/CSU-Gruppe. Guten Morgen, Herr Gahler.
Michael Gahler: Ja! Guten Morgen, Herr Dobovisek.
Dobovisek: Mit Ursula von der Leyen soll eine Deutsche Präsidentin der mächtigen EU-Kommission werden, eine Politikerin Ihrer Partei, Herr Gahler, der CDU. Freuen Sie sich über diese Entscheidung des Rates?
Gahler: Ich denke, wir müssen hier zwei Aspekte unterscheiden. Zum einen: Wenn wir das Personalvorschlagspaket des Europäischen Rates uns anschauen, dann ist das ein typischer Brüsseler parteiübergreifender Kompromiss, der ja auch recht schnell im Vergleich zum letzten Mal zustande gekommen ist. Und die Tatsache, dass EVP und CDU/CSU als stärkste Kraft aus der Wahl hervorgegangen sind, die kommt in der Nominierung von Frau von der Leyen als solches zum Ausdruck. Das ist die eine Sache.
Auf der anderen Seite – und das ist auch der Grund, der viele Abgeordnete, viele Wahlkämpfer und auch viele proeuropäische Wähler doch maßlos enttäuscht und frustriert hat – ist die Tatsache, dass es eigentlich einen breiten Konsens im EP zur Parlamentarisierung und auch zur Demokratisierung des Verfahrens gegeben hat, und zwar durch das System der Spitzenkandidaten.
Dobovisek: Da wohnen ganz offensichtlich, Herr Gahler, zwei Seelen in Ihrer Brust, die der Partei und die des Parlamentariers. Welche ist stärker?
Gahler: Am Ende denke ich, dass wir pragmatisch sein müssen und dass wir uns hier keine politische Hängepartie oder Selbstblockade erlauben können, wenn wir uns den Zustand der Welt anschauen: Brexit, Iran-Krise, Handelskriege und alles das, was auch noch auf uns einprasselt. Wir müssen schon handlungs- und entscheidungsfähig sein. Aber ich möchte schon deutlich machen: Es ist nicht am Europäischen Parlament in der Form gescheitert; es ist offenbar ein blockadefähiger Teil des Europäischen Rates jedenfalls in dieser Runde, für diese Wahl in der Lage gewesen, dieses Spitzenkandidaten-Modell vom Tisch zu wischen, und das können wir personalisieren. Das sind Herr Macron und Herr Orbán gewesen, die zwölf Regierungen etwa gegen Herrn Weber in Stellung gebracht haben, allerdings dann auch elf gegen Herrn Timmermans. Wir haben als Europäische Volkspartei bis zuletzt auch am Montagabend in der Fraktionssitzung noch eindeutig zu Manfred Weber gestanden und haben gesagt, das ist unser Kandidat.
"Wir müssen schon handlungs- und entscheidungsfähig sein"
Dobovisek: Angela Merkel hatte am Wochenende schon nicht mehr zu ihm gestanden, hat ihn, wenn man so will, fallen lassen.
Gahler: Nein, das würde ich in der Form so nicht sagen. Wenn Sie das nämlich erlebt haben, dass es eine Blockade gab, dann muss man am Ende dann pragmatisch sich nach der Decke strecken. Ich denke, was wir jetzt heute insbesondere von deutschen Sozialdemokraten hören, das sind schon Krokodilstränen, die die vergießen. Das ist bemerkenswert. Es war doch mit dem Herrn Macron auch der sozialistische spanische Ministerpräsident Sanchez, der gemeinsam mit ihm verkündet hatte, alle Spitzenkandidaten seien vom Tisch, und dann haben sich in Auftragserfüllung von Macron und Sanchez dann die sozialistische spanische Fraktionsvorsitzende und der liberale Fraktionsvorsitzende zu Herrn Weber aufgemacht in der vorvergangenen Woche und haben ihm erklärt, Dich wählen wir nicht.
Warum eigentlich nicht? Wir haben parallel Gespräche geführt mit vier Fraktionen über Inhalte und das wäre das Signal gewesen, wir einigen uns über Inhalte, und dann kommen die Personen dazu, hätte das Europäische Parlament ein Signal, ein klares Signal an den Rat gegeben, dass sie das Prinzip ernst nehmen, nämlich dann auch den stärksten als Kommissionspräsidenten vorschlagen, …
Dobovisek: Fakt ist aber auch, Herr Gahler, dass es Manfred Weber nicht gelungen ist, eine Mehrheit im Parlament zu bilden. Damit wäre nach demokratischen Gepflogenheiten, wie gerade in Bremen zu besichtigen, erst einmal die Gegenseite am Zuge. Kommissionspräsident hätte demnach jetzt eher der SPE-Kandidat Frans Timmermans werden sollen. Oder habe ich da irgendwas nicht richtig verstanden in der demokratischen Gepflogenheit?
Gahler: Demokratische Gepflogenheit hat natürlich, dass es die Mehrheit braucht für jeden Kommissionspräsidenten. Im Übrigen hatte auch Herr Juncker nur knapp über 40 Stimmen über dem Durchschnitt.
Dobovisek: Eine Mehrheit ist eine Mehrheit.
Gahler: Eine Mehrheit ist eine Mehrheit. Das ist richtig. Aber es ist überhaupt keine Veranlassung zu sagen, wir meinen, dass wir die größte Fraktion erst mal per se ausschließen. Bevor die Gespräche über Inhalte überhaupt abgeschlossen waren, haben die sich instrumentalisieren lassen, und das ist auch ein …
"Wir werden weiter für die Parlamentarisierung kämpfen"
Dobovisek: Von wem?
Gahler: Von Macron und Sanchez in der Anfangsphase. Davon hat sich dann die sozialistische Fraktion etwas gelöst in einem zweiten Schritt, indem sie Herrn Timmermans hat hochleben lassen. Aber entscheidend ist aus meiner Sicht jetzt, dass wir ein Ergebnis haben, mit dem wir als Kompromiss – und Demokratie braucht Kompromiss – leben können. Wir als Europäisches Parlament und auch speziell als EVP-Fraktion sind Manfred Weber außerordentlich dankbar, auch über die Art und Weise, wie er seine Kandidatur angestrebt hat in einem Verfahren und jetzt aber auch sie zurückgegeben hat. Wir werden weiter für die Parlamentarisierung und Demokratisierung kämpfen. Europa ist auch mal ein Rückschlag bei diesem Prozess, aber wir haben jetzt die Verantwortung, auch dafür zu sorgen, dass es eine handlungsfähige Kommission gibt. Und wie gesagt: Der Aspekt, dass das Wahlergebnis sich auch an der Spitze niederschlägt, den kann man hier in dem Zusammenhang bejahen.
Dobovisek: Wenn Sie so nachdrücklich, Herr Gahler, über Demokratisierung sprechen und über Rückschläge, möchte ich das vielleicht noch mal zuspitzen, auf die demokratischen Gepflogenheiten im Parlament zurückkommen. Wenn das alles für den Rat nicht gilt, ist die Entscheidung der Staats- und Regierungschefs undemokratisch?
Gahler: Wir haben eine Situation, wo es offensichtlich eine Tendenz im Europäischen Rat, angeführt vom französischen Präsidenten gibt, die der Auffassung ist, dass die anderen europäischen Institutionen nach dem Rat zu tanzen haben und dass der Rat – und das ist eigentlich ein Skandal – sich anmaßt, in die Selbstorganisation der anderen Institutionen einzugreifen, dass der Rat sich anmaßt zu sagen, dann gibt es den und den als Vizepräsidenten der Kommission. Das ist eigentlich nicht seine Sache. Die Kommission hat sich selber zu organisieren. Dass der Rat uns anempfiehlt, wen wir jetzt in der ersten oder in der zweiten Hälfte nach politischer Farbe zu wählen haben, das ist auch nicht seine Sache. Wir sind ja auch nicht diejenigen, die dem Rat vorschlagen, wer hier Ratspräsident werden soll.
Das ist schon ein Aspekt, der weiterer politischer Debatte bedarf, und da bin ich doch zuversichtlich, dass sich über diese Frage dann ein Konsens auch innerhalb des Parlaments ergibt, dass wir auch für die nächste Runde dann ein Verfahren, ein modernisiertes Verfahren vielleicht anstreben, wo wir diesen Prozess der Spitzenkandidaten fortschreiben. Das was auf den anderen politischen Ebenen gilt, auf der nationalen oder auf der regionalen Ebene, dass man dem Wähler vor der Wahl anbietet, wenn ihr die Abgeordneten mit der Mehrheit ausstattet, dann wird die folgende Person auch dann der Regierungschef oder der Leiter der Exekutive, das muss auf der europäischen Ebene gelten.
"Erbost, dass dieses Verfahren vom Rat kassiert wurde"
Dobovisek: Trotzdem, Herr Gahler, müssen wir für den Moment erst mal feststellen: Der Rat beerdigt das Spitzenkandidaten-Prinzip. Das Parlament ist zu schwach, um dagegen vorzugehen. Das haben Sie gerade auch angedeutet. Können Sie nachvollziehen, dass sich viele Wähler in Europa jetzt erbost von der EU abwenden, weil sie zum Beispiel Weber oder Timmermans gewählt haben, aber von der Leyen bekommen, die nirgendwo auf einem Zettel stand? Das fördert Politikverdrossenheit.
Gahler: Da bin ich insofern bei Ihnen, als ich sage, ich bin auch erbost. Wir als Abgeordnete sind auch erbost, dass dieses Verfahren vom Rat kassiert wurde. Aber dann sollen wir das bitte nicht allgemein auf die EU beziehen, sondern präzisieren auf die Personen, die das betrieben haben.
Dobovisek: Das sehen die Wähler aber nicht. Die sehen die ganze EU und Orbán, Salvini und Co. Freuen sich genau über dieses Geschenk.
Gahler: Die informierten Wähler – und das sind die Hörer des Deutschlandfunks -, die wissen, dass die Parlamentarier dieses Prinzip hochgehalten haben. Wenn wir an dieser Stelle nicht durchgedrungen haben, dann heißt das für uns, dass wir unsere Kräfte bündeln und dann für die nächste Runde dafür sorgen, dass diese Debatten anders geführt werden. Es kann nicht sein, dass jemand, der nur weil er wie Herr Macron zu dem Zeitpunkt, wo die Spitzenkandidaten relevant wurden, sich keiner politischen Familie zurechnen wollte, weil er es aus Frankreich gewöhnt ist, dass er den Premierminister ernennt, den Chef der Exekutive, ohne das Parlament zu fragen, es kann nicht sein, dass er das auf die Europäische Union überträgt. Ich glaube, da ist ein Lernprozess insbesondere bei denen im Rat angezeigt, die meinen, sie könnten diese Hinterzimmer-Politik fortsetzen.
Dobovisek: Glauben Sie, dieser Lernprozess wird einsetzen in den nächsten Jahren?
Gahler: Das ist keine Glaubensfrage. Wir werden dafür arbeiten. Wir sind gestärkt durch das Votum der Wähler, die uns hier den Auftrag gegeben haben, diese Demokratisierung fortzuführen. Ich sagte ja bereits: Die Frustration ist gleichermaßen bei uns Abgeordneten, insbesondere auch bei der EVP, weil unser Spitzenkandidat es am Ende nicht geworden ist, aber das ist für uns Auftrag und Ermunterung, daran weiter zu arbeiten, damit diese Frustration, die zweifellos da ist bei den proeuropäischen Wählern bis hin zu den Abgeordneten, damit die bis zum nächsten Mal abgebaut wird. Aber gleichwohl: Das Ergebnis als solches, was jetzt als Personalvorschlag daliegt, reflektiert, spiegelt wieder das Ergebnis der Europawahl, dass die stärkste Fraktion mit einer Person, mit einer geeigneten, mit einer sehr geeigneten Person dort an der Spitze der Exekutive sich wiederfindet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.