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Stabilität zu einem hohen Preis

Natalia Estemirowa galt als engagierte Menschenrechtlerin. Am frühen Morgen des 15. Juli 2009 wurde sie in Grosny ermordet. Seitdem gibt es weder Ermittlungsergebnisse noch Verdächtige. An der Menschenrechtslage hat sich in der Teilrepublik Tschetschenien kaum etwas geändert.

Von Mareike Aden |
    Es ist dunkel auf den Straßen von Grosny, als Alexander Nemow und Roman Weretennikow in ihrem dunkelblauen Lada die tschetschenische Hauptstadt verlassen. Ihr Ziel ist das Dorf Awtury, knapp 35 Kilometer südöstlich von Grosny. Alexander und Roman sind Mitte dreißig, beide haben eine juristische Ausbildung und sind Menschenrechtsaktivisten.

    Im Dorf Awtury wollen sie zur Familie Idrisov: Die hat sich im vergangenen Jahr an sie gewandt, nachdem Zubair, der 17-jährige Sohn, beschuldigt worden war, an einem Terroranschlag auf einen hohen Mitarbeiter der Regionalbehörde mitgewirkt zu haben. Roman Weretennikow:

    "Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob er schuldig ist oder nicht. Aber der einzige Beweis ist sein Geständnis, das höchstwahrscheinlich unter Folter zustande gekommen ist. Fest steht: Es wurden Beweismittel gefälscht und er wurde gefoltert."

    Nicht Tschetschenien, die einst als Terrorhochburg bekannte, muslimisch geprägte Republik im russischen Nordkaukasus ist die Heimat von Roman und Alexander. Die beiden Menschenrechtler leben in anderen Städten Russlands, aber immer wieder kommen sie für Einsätze hierher und ermitteln im ganzen Nordkaukasus.

    Sie gehören zur sogenannten "Mobilen Gruppe": Das sind rund 30 Mitarbeiter regionaler Menschenrechtsorganisationen aus ganz Russland. Sie gründeten ihre Organisation nach der Ermordung von Memorial-Mitarbeiterin und Journalistin Natalia Estemirowa. Memorial hatte nach deren Ermordung die Arbeit vorübergehend einstellen müssen, um nicht noch mehr Mitarbeiter zu gefährden.

    "Die Journalistin Anna Politkowskaja wurde ermordet, dann Natalia Estemirowa. Als Memorial dann nach dem Mord seine Arbeit einstellte, haben wir die "Mobile Gruppe" gegründet. Denn niemand hier spricht darüber, dass der Staat seiner Verantwortung nicht gerecht wird, bei der Durchsetzung von Recht und Ordnung und der Verfolgung von Straftaten. Wir sind die Einzigen."

    Nach einstündiger Autofahrt erreichen Roman und Alexander das Dorf Awtury. In der Küche sitzend erzählt Adlan Idrisow den Menschenrechtsaktivisten wie es seinem Sohn geht – der sitzt in einer sibirischen Strafkolonie. Die Juristen der Mobilen Gruppe und die Familie wollen ein Berufungsverfahren anstrengen, denn sie haben Fotos, die beweisen, dass Zubair in Untersuchungshaft gefoltert wurde. Aber Adlan Idrisow hat wenig Hoffnung.

    "Sie werden nie zugeben, dass sie einen Fehler gemacht haben. Hier in Tschetschenien wird es nicht als Fehler angesehen, wenn ein Unschuldiger ins Gefängnis geworfen wird. In den vergangenen Jahren sind viele Menschen aus meiner Straße bei so genannten antiterroristischen Operationen verschwunden. Man sagt uns, wir haben Stabilität, aber was ist das für eine Stabilität?"

    Sechs Monate nach der Ermordung von Mitarbeiterin Natalia Estemirowa nahm die Menschenrechtsorganisation Memorial ihre Arbeit in Tschetschenien wieder auf – aber unter verschärften Sicherheitsbedingungen. Mitarbeiter vor Ort geben keine Interviews mehr, um nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Zu groß ist die Gefahr für sie und ihre Verwandten – denn die bedroht das Regime meist zuerst, um Kritiker zum Schweigen zu bringen.

    Memorial-Vorstandsmitglied Swetlana Gannuschkina aus Moskau, die oft nach Tschetschenien fährt, weiß: Nicht die russischen Gesetze zählen dort, sondern das Wort des berüchtigten Präsidenten der Teilrepublik Ramsan Kadyrow. Der habe zwar den Terror eindämmen können, so Gannuschkina, aber er stehe im Verdacht, manche seiner Gegner gar selbst zu foltern.

    "Kadyrow wiederholt immer wieder, dass er alleiniger Herrscher von Tschetschenien ist und alle Macht hat. Die Angst, die in den Herzen der Menschen lebt, zeigt, was das für ein Regime ist. Es erinnert sehr an Stalins Herrschaft – und ich glaube dieser Vergleich würde Kadyrow noch nicht einmal etwas ausmachen.""

    Auch wenn Memorial heute wieder in Tschetschenien präsent ist, so bleibt wichtig, dass auch die "Mobile Gruppe" ihre Arbeit fortsetzt: denn: Ihre Mitarbeiter können Kadyrow und die Justiz- und Polizeibehörden offen kritisieren und Untersuchungen in besonders heiklen Fällen anstellen. Ihre Verwandten leben nicht im Einflussgebiet Kadyrows, sie halten sich nie länger als einen Monat in Tschetschenien auf und sie sind immer zu dritt unterwegs, auch in Grosny.

    Wer durch das Zentrum von Grosny läuft, dort, wo auch die Mitarbeiter der "Mobilen Gruppe" Quartier genommen haben, der sieht ein Tschetschenien, in das nicht nur Stabilität und Sicherheit, sondern auch relativer Wohlstand eingekehrt zu sein scheinen. Wo nach dem Zweiten Tschetschenienkrieg Ruinen standen, sind längst neue Häuser hochgezogen worden. Mitten im Zentrum steht die 2008 eingeweihte, mit Marmor verkleidete Moschee. Gleich dahinter wird Grosny City gebaut, eine Ansammlung von modernen Hochhäusern. Auch außerhalb des Zentrums werden Straßen erneuert, Gas- und Wasserleitungen gelegt – alles mit Milliarden aus Moskau. Doch an vielen Straßenkreuzungen stehen Uniformierte mit Kalaschnikows: auch das ist das moderne Grosny.

    "Jetzt gibt es mehr Grund, Angst zu haben als damals im Krieg. Da wussten wir, vor wem wir uns verstecken mussten und wann. Aber jetzt weiß man nicht, wann sie kommen und wer sie sind."

    Das sagt Raissa Turlujeva. Im Oktober 2009 wurde ihr damals 19 Jahre alter Sohn Said-Salech von Sicherheitsbeamten verschleppt und gefoltert, das Haus der Familie niedergebrannt. Er sei mit Terroristen im Bunde, so die knappe Erklärung. Seitdem kein Lebenszeichen. Jetzt befassen sich sowohl Memorial, als auch die Mobile Gruppe mit dem Fall – und dank ihnen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Aber ob ihr Sohn noch am Leben ist, weiß Raissa auch heute – fast zwei Jahre später - nicht.

    Neben den Organisationen "Memorial" und "Mobile Gruppe" gibt es weitere, die sich einsetzen für die Rechte der Bürger Tschetscheniens. Sie haben dieselbe Zielsetzung, aber ihre Vorgehensweise unterscheidet sich: Das "Menschenrechtszentrum der Republik Tschetscheniens" etwa grenzt sich bewusst ab von den Kadyrow-Kritikern. Der Leiter des Zentrums Michail Episejew sagt, dass man die Fortschritte unter Kadyrow anerkennen müsse.

    "Früher konnte man überhaupt nicht über Menschenrechte reden. Da ging es doch nur um das Recht zu überleben. Manche Aktivisten glauben, es reiche, die Welt über unsere Probleme hier zu informieren – wir aber sind der Meinung, dass man mit Kadyrow selbst reden muss, mit seinen Beratern und Ministern. Und das machen wir: Wir treffen sie."

    Unterdessen hat Präsident Dmitrij Medwedew, der immer wieder betont, wie wichtig Menschenrechte für die Entwicklung Russlands seien, Ramsan Kadyrow für weitere fünf Jahre zum Präsidenten von Tschetschenien ernannt – wohl auch aus Mangel an Alternativen.