"Übergang zur Station Kuznjetzki Most. Vorsicht! Türen schließen!"
Viel Zeit bleibt den Fahrgästen nicht, um hier, an diesem U-Bahnhof im Zentrum Moskaus, auszusteigen. Doch: Es sind ohnehin nur wenige Menschen, die an diesem späten Oktobernachmittag zu der langen Rolltreppe eilen, die sie nach oben zum Lubjanka-Platz bringen soll. Die "Lubjanka": Sie ist gerade mal einen knappen Kilometer Luftlinie vom Kreml entfernt. Seit über 90 Jahren ist ihr Name Synonym für das Hauptquartier der sowjetischen Geheimpolizei. Zu Zarenzeiten erst Sitz einer Versicherungsgesellschaft beherbergt der ockerfarbene, gewaltige sechsstöckige Bau heute den FSB, den russischen Inlands-Geheimdienst. Der FSB ist die Nachfolgebehörde des KGB, zuvor des NKWD, der GPU, der Tscheka ...
- Kulikov, Alexander Iwanowitsch, 37 Jahre alt, stellvertretender Hauptbuchhalter, erschossen am 11. Oktober 1937
- Larin, Sergej Petrowitsch, 64 Jahre alt, Bauer, erschossen am 27. September 1937
- Larionov, Karp Nikiforowitsch, 67 Jahre alt, Fabrikwächter, ehemaliger Stadtpolizist, erschossen am 14. April 1938
- Laritscheff, Ilja Iwanowitsch, 53 Jahre, Hausmeister, ehemaliger Stadtpolizist – erschossen! Am 27. Juni 1938
Ein paar Schritte entfernt vom Ausgang der Station "Lubjanka" haben sich mehrere Dutzend Menschen versammelt. Eine kleine Warteschlange rückt schrittweise vor zu einem Mikrofon neben einer Lautsprecheranlage. Einer nach dem anderen tritt heran, um dann jeweils fünf, sechs Namen vorzulesen: die Namen von Opfern des sogenannten "Großen Terrors", im Sommer 1937 befohlen von Sowjetdiktator Iossif Wissarionowitsch Stalin und dessen Komplizen vom Politbüro der Kommunistischen Partei. Die Zeit zwischen den darauf folgenden Herbstmonaten bis ins Frühjahr 1938 hinein gilt inzwischen als die Hochphase dieser Stalin'schen Gewaltorgie gegen die eigene Bevölkerung – vor nun genau 75 Jahren.
Kalt ist es an diesem vorletzten Oktobertag, dem "Gedenktag für die Opfer der politischen Repressionen". Erst seit 1991 wird er begangen, seit dem Ende der UdSSR – offiziell nie sonderlich beachtet, doch wenigstens unbehindert. Schon am Vorabend jedes 30. Oktober hierher zu kommen, ist für viele ehemalige, inzwischen schon betagte und gebrechliche Überlebende ein wichtiges inneres Anliegen - genauso wie für die Angehörigen und Nachkommen all jener, die vor einem Dreivierteljahrhundert von ihrem eigenen Staat und dessen Sicherheitsorganen willkürlich verhaftet, umgebracht oder verbannt worden sind, deren Gräber nicht selten bis heute unbekannt geblieben sind.
"In diesen 14 Monaten sind über 1,5 Millionen Menschen verhaftet worden; 700.000 davon erschossen."
Irina Scherbakova, Zeithistorikerin bei der Moskauer Menschenrechtsorganisation "Memorial", nennt die inzwischen offiziell anerkannten Zahlen dieser Schreckensbilanz. Begonnen hatten Stalins und seiner Komplizen Jagd auf vermeintlich oder tatsächlich Andersdenkende, auf wirkliche wie eingebildete Gegner, allerdings schon einige Jahre zuvor.
"Für uns war Trotzkij der Feind Nummer 1."
Bekräftigte Pawel Sudoplatov noch Ende der 90 Jahre, kurz vor seinem Tod. Jener Sudoplatov, der als hoher Geheimdienstoffizier des NKWD dem Spanier Ramón Mercader Ende der 30er-Jahre befohlen hatte, den von Stalin zutiefst gehassten Lew Davidovic Bronstejn – Partei- und Kampfname: Trotzki – in dessen mexikanischem Exil mit einem Eispickel zu erschlagen. Trotzkij war für Stalin die Verkörperung der gegen ihn gerichteten Opposition innerhalb der kommunistischen Weltbewegung. Wer in Stalins Sowjetunion nach Trotzkijs Zwangsexilierung 1927 in irgendeiner echten oder konstruierten Beziehung zum einstigen Mitkonkurrenten um die Nachfolge Lenins stand, dem war fast automatisch eine lange Haftstrafe im sogenannten Gulag vorbestimmt, jenem sich rasch landesweit ausdehnenden System von Straf- und Arbeitslagern in rauen, unwirtlichen Gegenden, vor allem im hohen Norden Russlands und in Sibirien. Nicht selten aber warteten schon die uniformierten Henker vom NKWD auf die angeblichen Trotzkisten.
"Hello, you are listening to the Radiocenter Moscow broadcasting on 25 metres, Radio Station RMI."
Kein Geheimnis aus der anschwellenden Verhaftungs- und Prozesswelle, selbst in der tiefsten Provinz, machte übrigens der englische Kurzwellendienst von Radio Moskau:
"Der Strafprozess gegen die konterrevolutionäre, trotzkistische Schädlingsgruppe in den Bergwerken von Kemerowo ist beendet. Das proletarische Gericht hat sein strenges und einzig mögliches Urteil gesprochen: Alle neun Angeklagten sind zum Tod verurteilt worden. Zwölf Bergarbeiter wurden getötet. Aber weitere Aktivitäten der Volksfeinde wurden von den Organen des NKWD, des Volkskommissariats des Inneren, unterbunden. Die Trotzkisten ermordeten die Bergarbeiter, um bei den Arbeitern Empörung gegen die kommunistische Partei und die Sowjetmacht zu provozieren."
Zwar wird es noch gut ein halbes Jahr dauern, ehe dann ab August 1937 der "Große Terror", die "Jezhovshtschina", mit aller Wucht losbrechen soll - benannt nach Nikolaj Jezhov, Stalins Volkskommissar des Inneren und "Generalkommissar der Staatssicherheit". Doch Stoßrichtung und Tonart wie in diesem Radio-Moskau-Kommentar stimmen die Öffentlichkeit bereits ein:
"Am Beispiel der Trotzkisten, der bestialischsten Agenten des Kapitalismus, sehen wir wieder einmal die Richtigkeit und Rechtzeitigkeit der Warnungen des Genossen Stalin. Sie sind abscheuliche Mietlinge des Faschismus. Wir sind stark. Sie und ihre ausländischen Schutzpatrone werden es nicht schaffen, die Macht unseres Landes zu unterminieren. Wir haben den großen Stalin, unser Banner, unseren ruhmreichen Führer. Wir haben die Partei Lenins und Stalins. Wir haben Stalins sowjetische Regierung – die mächtigste Regierung der Welt. Wir müssen wachsam sein - auf Stalin'sche Art! Wir müssen unsere Feinde zerschmettern. Tod den Volksfeinden!"
Stalins Mann fürs Grobe auf dem Weg zur absoluten Macht war – neben NKWD-Chef Jezhov – der sowjetische Generalstaatsanwalt Andrej Wyschinskij. Er half eifrig mit, den Rest der alten Mitkämpfer und Bolschewiki zu erledigen - so wie das Ex-Politbüro-Mitglied Nikolaj Bucharin, Wirtschaftstheoretiker und lange Zeit Chefredakteur der Parteizeitung "Prawda". Oder: Alexej Rykov, Anfang der 30er-Jahre Vorsitzender des Rates der Volkskommissare. Oder auch: Genrich Jagoda – abgesetzter Geheimdienstchef und direkter Vorgänger Jezhovs. So bizarr, so unglaublich die Anklagen, vor allem aber die Geständnisse gestern noch geachteter, prominenter, zumindest aber gefürchteter Genossen vor Gericht auch klingen mögen, Chefankläger Wyschinskij ist in seinem Element:
"Bucharin und Rykov standen über ihre Spießgesellen mit einer Reihe ausländischer Geheimdienste in Kontakt und bedienten sie systematisch. Jagoda war wie von Fliegen mit deutschen und polnischen Spionen zugeklebt, die er nicht nur deckte - wie er es selbst hier zugegeben hat, sondern mithilfe derer er seine eigene Spionagearbeit verrichtete."
Den verdeckten Regieanweisungen Stalins folgend und unter dem Beifall handverlesener Claqueure im Kolonnensaal des Moskauer Gewerkschaftshauses schließt Wyschinskijs Tirade mit den Worten:
"Das genau ist diese Fünfte Kolonne, dieser Ku-Klux-Klan, die zerschlagen und erbarmungslos ausgerottet werden müssen! Ihr Spiel ist entlarvt! Die Maske des Verrats ist ihnen heruntergerissen worden! Erschießen, zerdrücken muss man dieses verfluchte Natterngezücht!"
"Sie hatten diese Leute da im Gerichtssaal unter Kontrolle. Sie konnten mit denen machen, was sie wollten."
Bilanziert der Berliner Historiker und Stalinismus-Experte Jörg Baberowski, denn:
"Wenn die nicht parierten, konnten sie die noch mal in den Keller bringen und dann noch mal in den Gerichtssaal bringen. Das war für den Stalin kontrollierbar; eine Hungersnot und Massenerschießungen – nicht. Die Schauprozesse, das hat man oft nicht verstanden, wozu Stalin diese Absurdität brauchte: In einer noch weitgehend analphabetischen Gesellschaft war das wichtig, dass man Feinde visualisierte, dass die öffentlich auftraten. Die Kommunisten in der Führung sollten zittern vor Angst. Und alle im Zentralkomitee wussten, dass der Bucharin misshandelt wurde und dass der das nicht freiwillig sagte, was er im Gerichtssaal von sich gab."
Ein Außenbezirk der ostukrainischen Metropole Charkiv, gleich hinter der Straßenbahnhaltestelle an der Vulica Akademika Pavlova, vom Gleisbett abgegrenzt nur durch eine schüttere Reihe schmaler Pappeln, erstreckt sich über knapp einen Hektar verwildertes Brachland. Bis 1991 hieß dieser Ort: "Park des Komsomol". Nun trägt er den Namen "Park des Gedenkens", erzählt die Historikerin Nina Laptschinskaja:
"Seit dem Beginn des 'Großen Terrors' sind an diesem Ort 6.865 Menschen begraben worden, erschossen zwischen dem 9. August 1937 und dem 11. März 1938. Hierher hat man die ersten Opfer des 'Großen Terrors' in unserer Gegend transportiert."
Fast zeitgleich zu den parallel ablaufenden großen Schauprozessen gegen ehemalige Spitzenfunktionäre und hohe Kommandeure der Roten Armee gerät der staatliche Terrorapparat nun immer schneller und auf breiter Front ins Rollen. Bald kann sich niemand mehr sicher fühlen – im sowjetukrainischen Char'kov genauso wenig wie in allen anderen Städten und Dörfern quer über die gesamte, riesige UdSSR. Denn der Startschuss war gefallen:
"Am 30. Juli kam der Befehl Nummer 00447 von Jezhov heraus, mit dem der Beginn der großen Repressionsoperation verkündet wurde, die sich gegen enteignete ehemalige Privatbauern, die sogenannten 'Kulaken', richtete, gegen alle 'Ehemaligen', wie sie im NKWD-Jargon genannt wurden, also die alten vor-revolutionären Eliten. Adlige gehörten dazu, Fabrikbesitzer, Kaufleute, Bankiers, auch Geistliche."
Die sogenannten "Trojkas", Sonderschnellgerichte, zusammengesetzt aus einem NKWD-Offizier, einem Parteifunktionär und einem Staatsanwalt, verurteilten bald im Fließbandtempo nach nur zwei Kategorien. Ein Urteil nach der zweiten Kategorie ("weniger gefährlicher Volksfeind") bedeutete: Lagerhaft zwischen fünf bis zehn Jahren. "Kategorie I" dagegen hieß: "Todesstrafe":
"Man hat den Verurteilten in den Hinterkopf geschossen, in Höhe des 'Atlas', des ersten Halswirbels. So floss am wenigsten Blut. Die Kugel trat in der Regel aus der Mund oder Augenhöhle des Opfers aus. Und deshalb findet man bei vielen exhumierten Schädeln nur das Einschuss- aber kein Ausschuss-Loch."
Die "Kolyma", ein riesiger Straflagerkomplex am gleichnamigen Fluß im nordostsibirischen Jakutien, den ein unbekannter Gulag-Häftling in diesem Lied inbrünstig verflucht, steht stellvertretend für die zahllosen Straflager in den menschenfeindlichsten Gegenden der Sowjetunion. Wie zum Hohn tragen sie den Titel "Arbeits- und Erziehungslager". In Wirklichkeit aber, so die Moskauer Historikerin Irina Scherbakova, dienen sie:
"Zur Isolierung und Bekämpfung von 'Volksfeinden'. Das, was im 'Großen Terror' mit dem Gulag-System passierte, war natürlich überhaupt nicht wirtschaftlich relevant. Die Menschen standen wochenlang in den Transporten. Das ganze System - bis '37 - des Gulags wurde eigentlich durch diese Massen von neuen Häftlingen einfach gesprengt. Weil: Die Lebensmittelrationen reichten nicht aus. Und dann: Diese provisorischen Lager, die man schnell gebaut hat, die waren natürlich ziemlich tödlich. Die Sterblichkeitsraten waren sehr hoch. Manchmal 25 Prozent."
"Diese Gesellschaft war nach der Kollektivierung der Landwirtschaft und nach dem 'Großen Terror' einfach nicht mehr imstande, sich selbst zu organisieren."
Führt der Berliner Stalinismusforscher Jörg Baberowski als entscheidenden Grund an für das verblüffend anmutende Fehlen jeglichen Widerstands der Menschen gegen das Stalin'sche Terrorregime in jenen Jahren. Ausschlaggebend sei wohl eine ganz spezifische Traditionslinie:
"Stalin hat ja während des 'Großen Terrors' immer wieder darauf verwiesen: Das machen wir so. Das haben wir schon unter Lenin gemacht, im Bürgerkrieg. Hat immer gut funktioniert: Menschen umzubringen und Furcht und Schrecken zu verbreiten. - Das ist gewissermaßen die Geburtsstunde des Massenterrors. Dennoch unterscheidet sich das Lenin'sche Verfahren vom Stalin'schen. Stalin hat dieses Tabu gebrochen, dass man Kommunisten nicht umbringen darf. Das unterscheidet es. Stalin hat Mord und Totschlag in seine engste Umgebung gebracht."
Ruhm dem großen Lenin! Ruhm dem großen Stalin! – Schande über die Vaterlandsverräter! Schande über jene, die heute unser Volk morden! Genossen: Hurraaaa ... !
Moskau – Stadt-Zentrum. Vor knapp einem Jahr. Der "Oktober-Platz" mit seinem wuchtigen Lenin-Denkmal. Anatolij Turenko ist kaum älter als Mitte 20. Der Jugendfunktionär der Kommunistischen Partei Russlands, die immerhin ein knappes Viertel der Parlamentsmandate in der Duma auf sich vereinigen kann, gestikuliert leidenschaftlich, agitiert die zwei-, dreihundert Unentwegten vor ihm: Stalins Geburtstag, Stalins Todestag, diesmal der Jahrestag der Stalin'schen Verfassung von 1936. Immer wieder findet sich ein Anlass, um den "Vozhd", den "Führer", zu feiern. Turenkos junge Genossin, die Studentin Maria Marusenko, zieht begeistert mit:
"Wir finden, dass Stalin ein großer Mann war, der unser Land auf Weltniveau gehoben hat. Repressionen? Na ja, die hat es sicherlich gegeben. Aber was man darüber erzählt, das ist doch sehr stark übertrieben. Repressionen gab es doch überwiegend gegen solche, die gegen das Volk waren, ihr Leben als Parasiten begonnen hatten, die unser Land zerstören wollten. Heute objektiv beurteilen zu wollen, wer damals zu Recht und wer zu Unrecht verfolgt worden ist, das ist doch sehr schwer. Aber: Käme heute ein zweiter Stalin, dann wäre das sehr positiv! Ich bin dafür!"
"Man bemühte sich nicht, überhaupt nicht, um irgendeine Geschichtspolitik – und sehr konsequent in dem Sinne, dass man die Marktwirtschaft erst einmal aufbauen soll."
Ruft Irina Scherbakova die Zeit in Russland nach dem Zusammenbruch der UdSSR, zu Beginn der 90er-Jahre, in Erinnerung. Aber:
"Nach Putins Machtantritt hat das angefangen, sich zu ändern. Putin begann so eine Ideologie und Geschichtspolitik aufzubauen mit dem Mythos des starken Staates. Wenn man in Russland anfängt, diesen starken Staat zu beschwören und das sowjetische Imperium und vor allem auch der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, dann entsteht automatisch die Stalin-Figur. Der Terror und Repressalien werden dann nicht so relevant."
Jedes Jahr aber, am Vorabend des 30. Oktober, werden sich immer wieder Menschen um den granitnen Gedenkstein nahe der "Lubjanka", der Moskauer Geheimdienstzentrale, versammeln. Den so lange totgeschwiegenen Opfern des "Großen Terrors" vor nun genau 75 Jahren wollen sie – so wörtlich "ihre Namen wieder geben". Und einmal mehr werden sie wohl so wie gestern und all die Jahre zuvor, weitgehend unter sich bleiben - zu diesem "Gedenk-Tag für die Opfer der politischen Repressionen in der Sowjetunion".
Viel Zeit bleibt den Fahrgästen nicht, um hier, an diesem U-Bahnhof im Zentrum Moskaus, auszusteigen. Doch: Es sind ohnehin nur wenige Menschen, die an diesem späten Oktobernachmittag zu der langen Rolltreppe eilen, die sie nach oben zum Lubjanka-Platz bringen soll. Die "Lubjanka": Sie ist gerade mal einen knappen Kilometer Luftlinie vom Kreml entfernt. Seit über 90 Jahren ist ihr Name Synonym für das Hauptquartier der sowjetischen Geheimpolizei. Zu Zarenzeiten erst Sitz einer Versicherungsgesellschaft beherbergt der ockerfarbene, gewaltige sechsstöckige Bau heute den FSB, den russischen Inlands-Geheimdienst. Der FSB ist die Nachfolgebehörde des KGB, zuvor des NKWD, der GPU, der Tscheka ...
- Kulikov, Alexander Iwanowitsch, 37 Jahre alt, stellvertretender Hauptbuchhalter, erschossen am 11. Oktober 1937
- Larin, Sergej Petrowitsch, 64 Jahre alt, Bauer, erschossen am 27. September 1937
- Larionov, Karp Nikiforowitsch, 67 Jahre alt, Fabrikwächter, ehemaliger Stadtpolizist, erschossen am 14. April 1938
- Laritscheff, Ilja Iwanowitsch, 53 Jahre, Hausmeister, ehemaliger Stadtpolizist – erschossen! Am 27. Juni 1938
Ein paar Schritte entfernt vom Ausgang der Station "Lubjanka" haben sich mehrere Dutzend Menschen versammelt. Eine kleine Warteschlange rückt schrittweise vor zu einem Mikrofon neben einer Lautsprecheranlage. Einer nach dem anderen tritt heran, um dann jeweils fünf, sechs Namen vorzulesen: die Namen von Opfern des sogenannten "Großen Terrors", im Sommer 1937 befohlen von Sowjetdiktator Iossif Wissarionowitsch Stalin und dessen Komplizen vom Politbüro der Kommunistischen Partei. Die Zeit zwischen den darauf folgenden Herbstmonaten bis ins Frühjahr 1938 hinein gilt inzwischen als die Hochphase dieser Stalin'schen Gewaltorgie gegen die eigene Bevölkerung – vor nun genau 75 Jahren.
Kalt ist es an diesem vorletzten Oktobertag, dem "Gedenktag für die Opfer der politischen Repressionen". Erst seit 1991 wird er begangen, seit dem Ende der UdSSR – offiziell nie sonderlich beachtet, doch wenigstens unbehindert. Schon am Vorabend jedes 30. Oktober hierher zu kommen, ist für viele ehemalige, inzwischen schon betagte und gebrechliche Überlebende ein wichtiges inneres Anliegen - genauso wie für die Angehörigen und Nachkommen all jener, die vor einem Dreivierteljahrhundert von ihrem eigenen Staat und dessen Sicherheitsorganen willkürlich verhaftet, umgebracht oder verbannt worden sind, deren Gräber nicht selten bis heute unbekannt geblieben sind.
"In diesen 14 Monaten sind über 1,5 Millionen Menschen verhaftet worden; 700.000 davon erschossen."
Irina Scherbakova, Zeithistorikerin bei der Moskauer Menschenrechtsorganisation "Memorial", nennt die inzwischen offiziell anerkannten Zahlen dieser Schreckensbilanz. Begonnen hatten Stalins und seiner Komplizen Jagd auf vermeintlich oder tatsächlich Andersdenkende, auf wirkliche wie eingebildete Gegner, allerdings schon einige Jahre zuvor.
"Für uns war Trotzkij der Feind Nummer 1."
Bekräftigte Pawel Sudoplatov noch Ende der 90 Jahre, kurz vor seinem Tod. Jener Sudoplatov, der als hoher Geheimdienstoffizier des NKWD dem Spanier Ramón Mercader Ende der 30er-Jahre befohlen hatte, den von Stalin zutiefst gehassten Lew Davidovic Bronstejn – Partei- und Kampfname: Trotzki – in dessen mexikanischem Exil mit einem Eispickel zu erschlagen. Trotzkij war für Stalin die Verkörperung der gegen ihn gerichteten Opposition innerhalb der kommunistischen Weltbewegung. Wer in Stalins Sowjetunion nach Trotzkijs Zwangsexilierung 1927 in irgendeiner echten oder konstruierten Beziehung zum einstigen Mitkonkurrenten um die Nachfolge Lenins stand, dem war fast automatisch eine lange Haftstrafe im sogenannten Gulag vorbestimmt, jenem sich rasch landesweit ausdehnenden System von Straf- und Arbeitslagern in rauen, unwirtlichen Gegenden, vor allem im hohen Norden Russlands und in Sibirien. Nicht selten aber warteten schon die uniformierten Henker vom NKWD auf die angeblichen Trotzkisten.
"Hello, you are listening to the Radiocenter Moscow broadcasting on 25 metres, Radio Station RMI."
Kein Geheimnis aus der anschwellenden Verhaftungs- und Prozesswelle, selbst in der tiefsten Provinz, machte übrigens der englische Kurzwellendienst von Radio Moskau:
"Der Strafprozess gegen die konterrevolutionäre, trotzkistische Schädlingsgruppe in den Bergwerken von Kemerowo ist beendet. Das proletarische Gericht hat sein strenges und einzig mögliches Urteil gesprochen: Alle neun Angeklagten sind zum Tod verurteilt worden. Zwölf Bergarbeiter wurden getötet. Aber weitere Aktivitäten der Volksfeinde wurden von den Organen des NKWD, des Volkskommissariats des Inneren, unterbunden. Die Trotzkisten ermordeten die Bergarbeiter, um bei den Arbeitern Empörung gegen die kommunistische Partei und die Sowjetmacht zu provozieren."
Zwar wird es noch gut ein halbes Jahr dauern, ehe dann ab August 1937 der "Große Terror", die "Jezhovshtschina", mit aller Wucht losbrechen soll - benannt nach Nikolaj Jezhov, Stalins Volkskommissar des Inneren und "Generalkommissar der Staatssicherheit". Doch Stoßrichtung und Tonart wie in diesem Radio-Moskau-Kommentar stimmen die Öffentlichkeit bereits ein:
"Am Beispiel der Trotzkisten, der bestialischsten Agenten des Kapitalismus, sehen wir wieder einmal die Richtigkeit und Rechtzeitigkeit der Warnungen des Genossen Stalin. Sie sind abscheuliche Mietlinge des Faschismus. Wir sind stark. Sie und ihre ausländischen Schutzpatrone werden es nicht schaffen, die Macht unseres Landes zu unterminieren. Wir haben den großen Stalin, unser Banner, unseren ruhmreichen Führer. Wir haben die Partei Lenins und Stalins. Wir haben Stalins sowjetische Regierung – die mächtigste Regierung der Welt. Wir müssen wachsam sein - auf Stalin'sche Art! Wir müssen unsere Feinde zerschmettern. Tod den Volksfeinden!"
Stalins Mann fürs Grobe auf dem Weg zur absoluten Macht war – neben NKWD-Chef Jezhov – der sowjetische Generalstaatsanwalt Andrej Wyschinskij. Er half eifrig mit, den Rest der alten Mitkämpfer und Bolschewiki zu erledigen - so wie das Ex-Politbüro-Mitglied Nikolaj Bucharin, Wirtschaftstheoretiker und lange Zeit Chefredakteur der Parteizeitung "Prawda". Oder: Alexej Rykov, Anfang der 30er-Jahre Vorsitzender des Rates der Volkskommissare. Oder auch: Genrich Jagoda – abgesetzter Geheimdienstchef und direkter Vorgänger Jezhovs. So bizarr, so unglaublich die Anklagen, vor allem aber die Geständnisse gestern noch geachteter, prominenter, zumindest aber gefürchteter Genossen vor Gericht auch klingen mögen, Chefankläger Wyschinskij ist in seinem Element:
"Bucharin und Rykov standen über ihre Spießgesellen mit einer Reihe ausländischer Geheimdienste in Kontakt und bedienten sie systematisch. Jagoda war wie von Fliegen mit deutschen und polnischen Spionen zugeklebt, die er nicht nur deckte - wie er es selbst hier zugegeben hat, sondern mithilfe derer er seine eigene Spionagearbeit verrichtete."
Den verdeckten Regieanweisungen Stalins folgend und unter dem Beifall handverlesener Claqueure im Kolonnensaal des Moskauer Gewerkschaftshauses schließt Wyschinskijs Tirade mit den Worten:
"Das genau ist diese Fünfte Kolonne, dieser Ku-Klux-Klan, die zerschlagen und erbarmungslos ausgerottet werden müssen! Ihr Spiel ist entlarvt! Die Maske des Verrats ist ihnen heruntergerissen worden! Erschießen, zerdrücken muss man dieses verfluchte Natterngezücht!"
"Sie hatten diese Leute da im Gerichtssaal unter Kontrolle. Sie konnten mit denen machen, was sie wollten."
Bilanziert der Berliner Historiker und Stalinismus-Experte Jörg Baberowski, denn:
"Wenn die nicht parierten, konnten sie die noch mal in den Keller bringen und dann noch mal in den Gerichtssaal bringen. Das war für den Stalin kontrollierbar; eine Hungersnot und Massenerschießungen – nicht. Die Schauprozesse, das hat man oft nicht verstanden, wozu Stalin diese Absurdität brauchte: In einer noch weitgehend analphabetischen Gesellschaft war das wichtig, dass man Feinde visualisierte, dass die öffentlich auftraten. Die Kommunisten in der Führung sollten zittern vor Angst. Und alle im Zentralkomitee wussten, dass der Bucharin misshandelt wurde und dass der das nicht freiwillig sagte, was er im Gerichtssaal von sich gab."
Ein Außenbezirk der ostukrainischen Metropole Charkiv, gleich hinter der Straßenbahnhaltestelle an der Vulica Akademika Pavlova, vom Gleisbett abgegrenzt nur durch eine schüttere Reihe schmaler Pappeln, erstreckt sich über knapp einen Hektar verwildertes Brachland. Bis 1991 hieß dieser Ort: "Park des Komsomol". Nun trägt er den Namen "Park des Gedenkens", erzählt die Historikerin Nina Laptschinskaja:
"Seit dem Beginn des 'Großen Terrors' sind an diesem Ort 6.865 Menschen begraben worden, erschossen zwischen dem 9. August 1937 und dem 11. März 1938. Hierher hat man die ersten Opfer des 'Großen Terrors' in unserer Gegend transportiert."
Fast zeitgleich zu den parallel ablaufenden großen Schauprozessen gegen ehemalige Spitzenfunktionäre und hohe Kommandeure der Roten Armee gerät der staatliche Terrorapparat nun immer schneller und auf breiter Front ins Rollen. Bald kann sich niemand mehr sicher fühlen – im sowjetukrainischen Char'kov genauso wenig wie in allen anderen Städten und Dörfern quer über die gesamte, riesige UdSSR. Denn der Startschuss war gefallen:
"Am 30. Juli kam der Befehl Nummer 00447 von Jezhov heraus, mit dem der Beginn der großen Repressionsoperation verkündet wurde, die sich gegen enteignete ehemalige Privatbauern, die sogenannten 'Kulaken', richtete, gegen alle 'Ehemaligen', wie sie im NKWD-Jargon genannt wurden, also die alten vor-revolutionären Eliten. Adlige gehörten dazu, Fabrikbesitzer, Kaufleute, Bankiers, auch Geistliche."
Die sogenannten "Trojkas", Sonderschnellgerichte, zusammengesetzt aus einem NKWD-Offizier, einem Parteifunktionär und einem Staatsanwalt, verurteilten bald im Fließbandtempo nach nur zwei Kategorien. Ein Urteil nach der zweiten Kategorie ("weniger gefährlicher Volksfeind") bedeutete: Lagerhaft zwischen fünf bis zehn Jahren. "Kategorie I" dagegen hieß: "Todesstrafe":
"Man hat den Verurteilten in den Hinterkopf geschossen, in Höhe des 'Atlas', des ersten Halswirbels. So floss am wenigsten Blut. Die Kugel trat in der Regel aus der Mund oder Augenhöhle des Opfers aus. Und deshalb findet man bei vielen exhumierten Schädeln nur das Einschuss- aber kein Ausschuss-Loch."
Die "Kolyma", ein riesiger Straflagerkomplex am gleichnamigen Fluß im nordostsibirischen Jakutien, den ein unbekannter Gulag-Häftling in diesem Lied inbrünstig verflucht, steht stellvertretend für die zahllosen Straflager in den menschenfeindlichsten Gegenden der Sowjetunion. Wie zum Hohn tragen sie den Titel "Arbeits- und Erziehungslager". In Wirklichkeit aber, so die Moskauer Historikerin Irina Scherbakova, dienen sie:
"Zur Isolierung und Bekämpfung von 'Volksfeinden'. Das, was im 'Großen Terror' mit dem Gulag-System passierte, war natürlich überhaupt nicht wirtschaftlich relevant. Die Menschen standen wochenlang in den Transporten. Das ganze System - bis '37 - des Gulags wurde eigentlich durch diese Massen von neuen Häftlingen einfach gesprengt. Weil: Die Lebensmittelrationen reichten nicht aus. Und dann: Diese provisorischen Lager, die man schnell gebaut hat, die waren natürlich ziemlich tödlich. Die Sterblichkeitsraten waren sehr hoch. Manchmal 25 Prozent."
"Diese Gesellschaft war nach der Kollektivierung der Landwirtschaft und nach dem 'Großen Terror' einfach nicht mehr imstande, sich selbst zu organisieren."
Führt der Berliner Stalinismusforscher Jörg Baberowski als entscheidenden Grund an für das verblüffend anmutende Fehlen jeglichen Widerstands der Menschen gegen das Stalin'sche Terrorregime in jenen Jahren. Ausschlaggebend sei wohl eine ganz spezifische Traditionslinie:
"Stalin hat ja während des 'Großen Terrors' immer wieder darauf verwiesen: Das machen wir so. Das haben wir schon unter Lenin gemacht, im Bürgerkrieg. Hat immer gut funktioniert: Menschen umzubringen und Furcht und Schrecken zu verbreiten. - Das ist gewissermaßen die Geburtsstunde des Massenterrors. Dennoch unterscheidet sich das Lenin'sche Verfahren vom Stalin'schen. Stalin hat dieses Tabu gebrochen, dass man Kommunisten nicht umbringen darf. Das unterscheidet es. Stalin hat Mord und Totschlag in seine engste Umgebung gebracht."
Ruhm dem großen Lenin! Ruhm dem großen Stalin! – Schande über die Vaterlandsverräter! Schande über jene, die heute unser Volk morden! Genossen: Hurraaaa ... !
Moskau – Stadt-Zentrum. Vor knapp einem Jahr. Der "Oktober-Platz" mit seinem wuchtigen Lenin-Denkmal. Anatolij Turenko ist kaum älter als Mitte 20. Der Jugendfunktionär der Kommunistischen Partei Russlands, die immerhin ein knappes Viertel der Parlamentsmandate in der Duma auf sich vereinigen kann, gestikuliert leidenschaftlich, agitiert die zwei-, dreihundert Unentwegten vor ihm: Stalins Geburtstag, Stalins Todestag, diesmal der Jahrestag der Stalin'schen Verfassung von 1936. Immer wieder findet sich ein Anlass, um den "Vozhd", den "Führer", zu feiern. Turenkos junge Genossin, die Studentin Maria Marusenko, zieht begeistert mit:
"Wir finden, dass Stalin ein großer Mann war, der unser Land auf Weltniveau gehoben hat. Repressionen? Na ja, die hat es sicherlich gegeben. Aber was man darüber erzählt, das ist doch sehr stark übertrieben. Repressionen gab es doch überwiegend gegen solche, die gegen das Volk waren, ihr Leben als Parasiten begonnen hatten, die unser Land zerstören wollten. Heute objektiv beurteilen zu wollen, wer damals zu Recht und wer zu Unrecht verfolgt worden ist, das ist doch sehr schwer. Aber: Käme heute ein zweiter Stalin, dann wäre das sehr positiv! Ich bin dafür!"
"Man bemühte sich nicht, überhaupt nicht, um irgendeine Geschichtspolitik – und sehr konsequent in dem Sinne, dass man die Marktwirtschaft erst einmal aufbauen soll."
Ruft Irina Scherbakova die Zeit in Russland nach dem Zusammenbruch der UdSSR, zu Beginn der 90er-Jahre, in Erinnerung. Aber:
"Nach Putins Machtantritt hat das angefangen, sich zu ändern. Putin begann so eine Ideologie und Geschichtspolitik aufzubauen mit dem Mythos des starken Staates. Wenn man in Russland anfängt, diesen starken Staat zu beschwören und das sowjetische Imperium und vor allem auch der Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, dann entsteht automatisch die Stalin-Figur. Der Terror und Repressalien werden dann nicht so relevant."
Jedes Jahr aber, am Vorabend des 30. Oktober, werden sich immer wieder Menschen um den granitnen Gedenkstein nahe der "Lubjanka", der Moskauer Geheimdienstzentrale, versammeln. Den so lange totgeschwiegenen Opfern des "Großen Terrors" vor nun genau 75 Jahren wollen sie – so wörtlich "ihre Namen wieder geben". Und einmal mehr werden sie wohl so wie gestern und all die Jahre zuvor, weitgehend unter sich bleiben - zu diesem "Gedenk-Tag für die Opfer der politischen Repressionen in der Sowjetunion".