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Kommentar zum Missbrauch
Joseph Ratzinger stilisiert sich selbst zum Opfer

Die Äußerungen des früheren Papstes Benedikt XVI. zur sexuellen Gewalt in der katholischen Kirche hält Christiane Florin für peinlich und gefährlich. "Der Mann, den seine Fans als Denker feiern, ignoriert offensiv, was Missbrauchsstudien zeigen."

Von Christiane Florin | 12.04.2019
Von nun an schweigen? - Von wegen! Joseph Ratzinger hat sich mit einem Machtwort zum Missbrauchsskandal zurückgemeldet
Von nun an schweigen? - Von wegen! Joseph Ratzinger hat sich mit einem Machtwort zum Missbrauchsskandal zurückgemeldet (imago / UPI Photo)
Der Text ist kleinlich, peinlich – und gefährlich. In der Autorenzeile steht ein großer Name: Benedikt XVI. Moment mal, ist der nicht zurückgetreten? Wollte er nicht beten und schweigen?
Das hatte er versprochen. Aber er meldet sich häufig aus seinem römischen Kloster schweigend zu Wort. Franziskus-Verächter warten auf diese Lebenszeichen, denn in ihren Augen amtiert ihr Papa noch immer; da ist er nicht der Emeritus, sondern der Ewige.

Jammerton-Sing-Sang

Dieser Benedikt XVI. jedenfalls hat sich Gedanken zur sexuellen Gewalt in der katholischen Kirche gemacht. Die deutsche Fassung seines Schreibens ist – mit ausdrücklicher Genehmigung von Franziskus - im bayerischen "Klerusblatt" erschienen. Nicht im Satireblatt "Titanic", auch wenn viele Passagen wie eine Parodie auf den lange im Vatikan tonangebenden Jammerton-Sing-Sang klingen. Es ist ein Klagelied für die wahren Opfer des Missbrauchs. Das sind: Joseph Ratzinger, Benedikt XVI. und die Heilige Katholische Kirche, die Benedikt-Joseph so liebt.
Der Text ist nicht ganz kurz, dennoch war kein Platz, um einige Worte darüber zu verlieren, welche Wunden Kleriker geschlagen haben, was sie Kindern, Jugendlichen und Ordensfrauen angetan haben. Stattdessen legt der Autor die Finger in die Wunden, die ihm die Welt da draußen zugefügt haben soll. Der nicht mehr ganz so junge Joseph wurde 1970 ausgerechnet am Karfreitag des allgemeinen Moralverfalls ansichtig: Zwei Nackte in enger Umarmung sah er! Über die Traumata des Professors Ratzinger schreibt er, Zitat: "Vielleicht ist es erwähnenswert, dass in nicht wenigen Seminaren Studenten, die beim Lesen meiner Bücher ertappt wurden, als nicht geeignet zum Priestertum angesehen wurden."

"Ich aber sage euch"

Ach, wenn doch alle auf mich gehört hätten! So tönt der bescheidene Arbeiter im Weinberg des Herrn. Wenn alle auf ihn gehört hätten, dann gäbe es keine sexuelle Revolution von 1968, keine Schwulen in der Kirche, keine liberalen Moraltheologen ohne Moral, keinen Missbrauch. Wenn alle auf ihn gehört hätten, dann wäre die Kirche so blütenweiß wie das Gewand, das Benedikt auch nach seinem Rücktritt nicht ablegte.
Der Papa emeritus vollbringt das Wunder, sein Schweigegelöbnis schreibend einzuhalten: Er schweigt dazu, was er selbst getan und unterlassen hat, als Joseph Ratzinger, als Erzbischof von München und Freising, als Präfekt der Glaubenskongregation, als Papst. Dieses "Ich" ist in seinem "Ich-aber-sage-euch"-Duktus nicht vorgesehen.

Wissenschaft? Er weiß es besser!

Leibhaftige Menschen hat der Professor traditionell gern links liegen lassen, hier aber missachtet der Gelehrte auch jede Wissenschaft: Ob Theologie, Psychologie, Kriminologie – er weiß ohnehin alles besser. Der Mann, den seine Fans als Denker feiern, ignoriert offensiv, was Missbrauchsstudien zeigen: Ja, es gibt Täter in Jeans und Sneakers, die nach der Party Messdiener in ihr Bett zogen, aber es gibt auch die mit festgewachsenem römischen Priesterkragen, Katechismus unterm Arm und bohrenden Unterleibsfragen im Beichtstuhl. Die Schuld schiebt Benedikt den vermeintlich Liberalen in die Turnschuhe. Die Rote-Pantöffelchen-Fraktion steht glänzend da.

Ein Wort der Macht

Ach, lass ihn doch reden, den alten Mann, der wird bald 92, wer weiß, ob er den Schrieb überhaupt selbst verzapft hat, winken milde gewordene Ratzinger-Kritiker auf Facebook ab. Doch mit diesem Text wird Kirchenpolitik gemacht. Es ist ein Machtwort, vorgetragen im Ohnmacht-Modus, gut platziert in einem Deutungskampf, in dem die Opfer sexualisierter Gewalt nicht interessieren.
Als Präfekt der Glaubenskongregation hat Joseph Ratzinger 2001 die Zuständigkeit für das Thema Missbrauch an sich gezogen. Er hätte einiges zu erzählen, wenn er denn wollte. Aber er scheint sich ziemlich sicher zu sein, dass kein weltliches Gericht ihn zur Rechenschaft zieht. Hier schreibt nicht der Arbeiter im Weinberg, hier gebietet einer, der sich für den Herrn selbst hält.
Die Sache beginnt mit der vom Staat verordneten und getragenen Einführung der Kinder und der Jugend in das Wesen der Sexualität. In Deutschland hat die Gesundheitsministerin Frau Strobel einen Film machen lassen, in dem zum Zweck der Aufklärung alles, was bisher nicht öffentlich gezeigt werden durfte, einschließlich des Geschlechtsverkehrs, nun vorgeführt wurde. Was zunächst nur für die Aufklärung junger Menschen gedacht war, ist danach wie selbstverständlich als allgemeine Möglichkeit angenommen worden.
Ähnliche Wirkungen erzielte der von der österreichischen Regierung herausgegebene "Sexkoffer". Sex- und Pornofilme wurden nun zu einer Realität bis dahin, daß sie nun auch in den Bahnhofskinos vorgeführt wurden. Ich erinnere mich noch, wie ich eines Tages in die Stadt Regensburg gehend vor einem großen Kino Menschenmassen stehen und warten sah, wie wir sie vorher nur in Kriegszeiten erlebt hatten, wenn irgendeine Sonderzuteilung zu erhoffen war. Im Gedächtnis ist mir auch geblieben, wie ich am Karfreitag 1970 in die Stadt kam und dort alle Plakatsäulen mit einem Werbeplakat verklebt waren, das zwei völlig nackte Personen im Großformat in enger Umarmung vorstellte.
Zu den Freiheiten, die die Revolution von 1968 erkämpfen wollte, gehörte auch diese völlige sexuelle Freiheit, die keine Normen mehr zuließ.
(Aus: Benedikt XVI., Die Kirche und der Skandal des sexuellen Missbrauchs, 11. April 2019, zitiert nach Vatican News)