Samstag, 20. April 2024

Archiv


"Starke Auswirkungen für das gesamte Tarifgefüge"

Nach einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts dürfen in einem Unternehmen mehrere Tarifverträge gleichzeitig gelten. Der arbeitsmarktpolitische Sprecher der Union, Karl Schiewerling, reagiert verhalten: Da es sich um ein sehr komplexes Gebiet handele, könne er noch nicht sagen, ob es neuer Regelungen per Gesetz bedürfe.

Karl Schiewerling im Gespräch mit Christian Bremkamp | 24.06.2010
    Jochen Spengler: In deutschen Betrieben soll es künftig mehrere Tarifverträge konkurrierender Gewerkschaften nebeneinander geben können. Bislang galt die Tarifeinheit, pro Betrieb ein Tarifvertrag, doch das Bundesarbeitsgericht hat diesen Grundsatz gestern aufgegeben. – Zu diesem Thema hat mein Kollege Christian Bremkamp gestern Abend mit dem arbeitsmarktpolitischen Sprecher der Union, Karl Schiewerling, ein Interview geführt und ihn zunächst gefragt, ob jetzt der Gesetzgeber gefordert sei.

    Karl Schiewerling: Das weiß ich noch nicht. Wir müssen das klären. Es handelt sich ja um eine ganz hoch komplexe und hoch komplizierte Materie mit starken Auswirkungen für das gesamte Tarifgefüge, und egal, ob wir mit oder ohne etwaige neue Regelungen per Gesetz an diese Frage heran müssen, wir müssen zunächst einmal sehen, wie sich die Lage nach dieser Meinungsbildung des Gerichtes darstellt. Das Gericht hat ja noch kein Urteil gefällt, es hat eine Meinungsbildung beendet. Das Urteil erwarten wir noch, das wollen wir auch erst einmal formal abwarten.

    Christian Bremkamp: Nun führen die Richter immerhin verfassungsrechtliche Bedenken an. Kann man die einfach so wegwischen, nur weil es einem nicht passt?

    Schiewerling: Nein, das kann man ganz sicher nicht. Wir müssen das prüfen. Wir haben das noch nicht in der Unions-Fraktion geprüft. Wir müssen uns mit dieser Materie jetzt in naher Zukunft beschäftigen und dann werden wir sehen, wie wir darauf zu reagieren haben.

    Bremkamp: Um wen machen Sie sich eigentlich größere Sorgen, um den einzelnen Arbeitnehmer und sein Schicksal, oder den Firmenchef, der Angst vor permanenten Streiks hat?

    Schiewerling: Ich mache mir an sich in dieser Frage gar keine Sorgen. Es geht um die Frage der Abwägung dessen, wie das hohe Tarifgut in Deutschland sinnvoll wirken kann. Wir werden genau sehen müssen, was denn nun für die Betriebe sinnvoll ist, und das heißt im Klartext, wir werden mit den Tarifpartnern reden, mit den Arbeitgebern und mit den Gewerkschaften und sie um ihre Einschätzung bitten, und danach werden wir sicherlich zu einer eigenen Meinungsbildung kommen.

    Bremkamp: Herr Schiewerling, die Arbeitswelt spezialisiert sich immer mehr. Ist die Zeit einzelner Großgewerkschaften nicht eigentlich vorbei?

    Schiewerling: Das glaube ich nicht! Sie sprechen gerade ein Phänomen an; das ist nicht nur ein Problem der Diversifizierung der Arbeitswelt, es ist auch ein Problem in unserer Gesellschaft. Unsere Gesellschaft fällt insgesamt immer mehr auseinander, es wird immer komplizierter und alles teilt sich in kleinteiligen Schritten auf und es gibt kaum noch etwas, was zusammenhält.

    Das Zusammenhalten in einer Gesellschaft – das gilt übrigens auch für einen Betrieb und für das Vorgehen in einem Betrieb – ist aber von existenzieller Bedeutung und ich glaube, dass es notwendig ist, wieder von neuem lernen zu müssen, wie wir Kompromisse miteinander zu schließen haben.

    Bremkamp: Haben Sie denn eine Vorstellung, wie das gehen könnte?

    Schiewerling: Das kann ich Ihnen noch nicht sagen, nein.

    Bremkamp: Man könnte ja auch anders fragen: Sind kleinere Gewerkschaften nicht einfach näher dran am Geschehen als die großen?

    Schiewerling: Das kann sein, das kann auch nicht sein. Wenn Sie sich die großen Gewerkschaften angucken, die IG BCE, ver.di oder andere, dann sehen Sie, dass sie innerhalb der Gewerkschaften ja auch hohe Spezialisierungen haben mit hohen Detailkenntnissen über die jeweiligen Branchen, in denen diese Großgewerkschaften vertreten sind, und ich glaube, dass da schon eine Antwort möglicherweise liegen könnte, ich bin mir aber nicht sicher und ich würde auch gerne die Beratungen erst in der Fraktion abwarten.

    Bremkamp: Die Befürchtungen, die jetzt die Runde machen, lauten: Wir haben es bald mit Dutzenden neuen Einzelgewerkschaften zu tun. Ist das überhaupt realistisch?

    Schiewerling: Grundsätzlich freue ich mich überhaupt, wenn Arbeitnehmer sich in Gewerkschaften organisieren. Wir haben ja das große Problem, dass die Gewerkschaften insgesamt immer weniger Mitglieder haben, oder eher die Notwendigkeit sehen, Mitglieder neu an sich zu binden, wie übrigens auch die Arbeitgeberverbände vor demselben Problem stehen. Ich halte diese Entwicklung für den Bestand der sozialen Marktwirtschaft eher insgesamt für sehr, sehr bedenklich.

    Bremkamp: Sind kleine Gewerkschaften möglicherweise attraktiver?

    Schiewerling: Für den einzelnen sicherlich, weil einfach eine kleine Gewerkschaft ganz speziell die Interessen eines ganz bestimmten Berufsstandes bezogen auf möglicherweise sogar nur eine oder zwei Fragen sehr gezielt vertreten kann. Wir haben ja beredte Beispiele dafür. Das hat auch - gar keine Frage - für den einzelnen einen Vorteil, weil das für ihn dann überschaubarer wird. Aber, ich muss immer sehen, zu welchem Preis das Ganze dann hinterher wirkt und ob das Ganze insgesamt zusammengehalten wird, und wir müssen, glaube ich, in der Politik auch einen Blick darauf haben, wie das Ganze zusammengehalten werden kann. Ob das dann immer über den Weg einer einzigen Großgewerkschaft geht, oder ob das im Vorfeld über Tarifabsprachen und über gemeinsames tarifliches Vorgehen von Gewerkschaften gehen kann, das sind alles Dinge, die kann ich überhaupt noch nicht beantworten.

    Spengler: Das war der arbeitsmarktpolitische Sprecher der Union, Karl Schiewerling, im Gespräch mit Christian Bremkamp.