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Sterbehilfe im Judentum
Du darfst nicht töten, du musst nicht leiden

Sterben in Würde ist ein zentrales Anliegen im Judentum. Ob und welche Form der Sterbehilfe das einschließt, ist umstritten. Die jüdische Tradition sieht die Beihilfe zur Selbsttötung kritisch. "Aber es steht an keiner Stelle der Tora: 'Du musst leben' als Gebot", sagt die Rabbinerin Elisa Klapheck.

Von Mechthild Klein | 25.08.2020
Jüdischer Friedhof im Sonnenlicht
Das Judentum vereint traditionell eine Vielzahl von Positionen, das gilt auch für die Themen Tod und Sterben (imago images / Shotshop)
"Als ich Rabbinerin in den Niederlanden wurde, war ich natürlich geschockt, wie die Alten in meiner Gemeinde mir erzählten, wie sie das schon alles geregelt haben und dass sie selber ihren Moment planen wollen, wann sie selber das Ende setzen wollen. Und dass das so ganz selbstbewusst besprochen wurde. Also musste ich erst mal schlucken und mich dran gewöhnen", erzählt die liberale Rabbinerin Elisa Klapheck.
Ihre erste Stelle trat sie in Amsterdam vor 15 Jahren an. Als sie später ihrer kleinen liberalen Gemeinde in Frankfurt davon erzählte, gab es Zustimmung. "Ich war ganz perplex, als mir mehrere alte Leute aus meiner Gemeinde sagten: 'Das ist richtig…!' Und da haben mir mehrere alte Leute in meiner Gemeinde gesagt: 'Du hast kein Recht da mitzureden, du bist jung, aber wir stehen vor dieser Phase. Das musst du uns schon zugestehen, dass wir das selber erleben und dass wir mit unseren Ängsten und allem, was dazugehört, eigentlich diese Debatte in den Niederlanden gut finden.' Das war für mich ein Schock, das hier mitzubekommen.
Sterbehilfe und Talmud
Das Thema selbstbestimmtes Sterben beschäftigt nicht nur Gemeindemitglieder. Auch in der rabbinischen Tradition wurden Sterbehilfe und das Recht auf Suizid schon früh thematisiert. Im babylonischen Talmud, der im 6./7. Jahrhundert abgeschlossen wurde, etwa diskutieren Gelehrte darüber wie die hebräische Bibel verstanden und zeitgemäß ausgelegt werden kann.
Elisa Klapheck: "Im Talmud wird ganz klar über Sterbehilfe diskutiert. Das Interessante ist, dass die Spannbreite, die wir heute haben, nämlich von der passiven zur aktiven Sterbehilfe, dort auch austariert wird. Also: Soll man jemandem helfen beim Sterben, indem man ihm bestimmte Ruhe verschafft? Bestimmte Mittel auf die Zunge legt? Salz. Soll man ihm das angenehmer machen, das Sterben? Oder soll man es erschweren? Es gibt eine interessante ethische Geschichte, wo der ganze Zwiespalt aufgeführt wird."
Buddhismus: Debatte zur Selbstbestimmung
Traditionell ist die Beihilfe zum Suizid im Buddhimus verboten. Meditative Übungen sollen die Angst vor Tod und Schmerzen nehmen. In der Praxis gibt es aber seit Kurzem auch unter Buddhistinnen und Buddhisten eine Debatte über die Sterbehilfe.
Das ist die Geschichte von dem berühmten Rabbi Jehuda Hanassi, ein großer Gelehrter, der im 2. Jh. unserer Zeitrechnung lebte. Nach langer Krankheit lag er im Sterben. Doch alle seine Schüler beteten, dass er noch weiterleben möge. So wie es die jüdische Tradition verlangt.
"Und die Magd von ihm sieht, wie dreckig es ihm geht. Sie sieht, wie er auf die Toilette geht und sich ganz schlimm wieder zurück schleppt zu seinem Sterbebett. Und sie betet, dass Gott doch das Leiden vermindern möge. Da hat man schon die ganze Spannbreite. Als sie merkt, dass die Schüler halt immer weiter beten für sein Leben und ihn auf diese Art und Weise auch im Leben halten."
Und diese Magd handelt dann. Sie nimmt einen Krug, steigt aufs Dach und wirft ihn in den Hof, wo die Betenden sitzen.
"Und in dem Moment, wo der Krug zerscheppert, zu Scherben zerscheppert, sind die Schüler aufgeschreckt, konzentrieren sich eine Sekunde lang nicht auf den Rabbi Jehuda Hanassi. In dem Moment stirbt er."
Kein Zwang zum Leben
Das könnte man als ein Moment der passiven Sterbehilfe sehen, sagt Elisa Klapheck. Die Magd sorgt dafür, dass die geistliche Unterstützung oder betende Behandlung für einen Moment nicht fortgesetzt wird. Die Geschichte von Rabbi Jehuda Hanassi führt die Problematik des Rechts vor Augen. Das jüdische Recht ist nach den Worten von Klapheck nie nur ein Gesetz, das einfach umgesetzt werden kann, es müsse auch ausgelegt und an die Situation angepasst werden. Manches lässt sich auch nicht als Gesetz formulieren:
"Es steht an keiner Stelle der Tora und auch im Talmud: Du musst leben als Gebot, nicht? Ohne Wenn und Aber. Erst in dem Verbot der Tötung, der Sterbehilfe, Menschen Qualen zuzufügen. In dem Verbot erkennt man, was die Norm ist, dass man leben soll. Nicht? Dass das die Ethik, die für das Leben ist."
Auch im deutschen Gesetz gibt es keinen Zwang zum Leben. Suizid, auch der versuchte, ist nicht strafbar. Das lässt sich auch aus den Zehn Geboten der hebräischen Bibel und ihrer Verneinung ableiten.
Klapheck: "Das war für mich eine interessante Erkenntnis, dass aus der Verneinung heraus, das Positive erkennbar wird. Also Gott sagt nicht in den Zehn Geboten zu uns: ‚Du musst leben, egal, wie es dir geht.‘"
In der jüdischen Tradition gibt es offenbar ein großes Verständnis für die Nöte von Menschen. Der Talmud nennt drei Gründe, wann man den Tod dem Leben vorziehen kann: wenn man gezwungen wird, zu vergewaltigen, wenn man morden soll oder wenn man zum Götzendienst gezwungen wird.
"Da sieht man schon mal: Das Leben selbst ist nicht in jedem Fall der oberste Wert."
Menschenwürde vor Selbsttötung
Die drei Gründe, die eine Selbsttötung erlauben, umreißen das, was als Folge der Taten verloren ginge, nämlich die Menschenwürde des Täters. Menschenwürde -
"Diesen Begriff gabs da noch nicht. Aber es ist eine solche Schändung der Menschenwürde. Wenn man einen Menschen gezwungenermaßen vergewaltigen muss oder einen Mord ausüben muss, ist es eine solche Schändung der eigenen Menschenwürde. Wie soll man danach noch weiterleben können, wenn man so etwas getan hat?"
Es gibt noch eine weitere Geschichte im Talmud, in der ebenfalls die Menschenwürde auf dem Spiel steht. Einer Gruppe Kinder auf einem Schiff, das gekapert wurde, droht die Vergewaltigung. Und sie erhalten sogar die göttliche Erlaubnis, vom Schiff ins Meer zu springen, um Suizid zu begehen. Auch hier gesteht das rabbinische Judentum die Möglichkeit zu, lieber zu sterben, als diese Erniedrigung erleiden zu müssen.
"Das Entscheidende ist, dass es hier kein Gesetz gibt: 'Suizid ist verboten, ohne Wenn und Aber.' Es aber auch kein Gesetz gibt: 'Du musst leben, in jedem Fall. Das Leben steht über allem.' Sondern dass hier eine Bandbreite hergestellt wird und den Menschen zugestanden wird, die Situation jeweils auf ihre Art und Weise zu erleben."
Debatte um Suizid-Assistenz
Einige Theologen und Kirchenvertreterinnen können sich vorstellen, dass Patienten in kirchlichen Einrichtungen Zugang zu tödlichen Substanzen erhalten, sollte ein solches Gesetz erlassen werden.
Diese Situation könne auf den Menschen in der letzten Lebensphase übertragen werden. Die Rabbinerin unterstreicht, dass heute kein Arzt, kein Rabbiner, keine Institution genau festlegen könne, ab wann das Leben nicht mehr entsprechend der Menschenwürde sei. Gerade weil diese letzte Lebensphase, der Sterbeprozess aber sehr lange dauern kann, ob nun in Hospizen oder Palliativstationen, sieht die Rabbinerin hier eine neue theologische Herausforderung. Es braucht nach Ansicht von Elisa Klapheck eine Theologie des Sterbens mehr als eine Theologie des Todes! Erfahrungen von Himmel oder Hölle könnten Sterbende schon vorher durchmachen.
"Es gibt Dinge, die man früher für die Zeit nach dem Tod gedacht hat, die wir heute vor dem Tod erleben. Vielleicht ist es eine Art, wie man mit dem Sterben umgeht. Man möchte versöhnt sterben. Man möchte Seligkeit erleben und danach in was Gutes überführt werden. Das ist in der Sterbehilfe- Debatte eben auch drin."
Eine Theologie des Sterbens sollte darauf schauen, wie ein versöhntes Sterben aussehen kann, wie man seine letzte Lebensphase einrichtet. Es sei eine Chance, sich mit der eigenen Endlichkeit früher auseinandersetzen, auch mit den Angehörigen und Freunden auszusprechen. Außerdem brauche es auch mehr Unterstützung für Angehörige, die Sterbende über längere Zeit begleiten. Bislang hielten sich viele an einem optimierten Bild vom selbstbestimmten Sterben fest, sagt die Rabbinerin. Auch wenn die Realität am Ende des Lebens anders aussehen mag, ein Trost ist in der jüdischen Religion angelegt.
Er betrifft die Autonomie. Elisa Klappheck sagt: "Es gibt keinen, der dem anderen sagen kann: ‚Du musst leiden.‘ Aber genau so gibt es auch keinen, der dem anderen sagen darf: ‚Du solltest dein Leben beenden.‘ Nicht? Das ist jetzt würdelos. Und das ist eben die große Ambivalenz in der ganzen Debatte."
Eine Religion müsse sich in den seelischen Zwischentönen ansiedeln, unterstreicht die liberale Rabbinerin. Da kann es kein eindeutiges Ja oder Nein geben. Im Judentum wird immer eine ganze Bandbreite an Positionen tradiert, weil Menschen auch unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben.