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Sterbehilfe in der jüdischen Tradition
"Leben und Tod ist etwas vom Schöpfer"

Der Bundestag beschäftigt sich mit verschiedenen Gesetzesentwürfen zur Sterbehilfe. Orientierung wird dabei auch in den religiösen Traditionen gesucht. In den jüdischen Gemeinden gehen die Positionen beim Thema assistierter Suizid weit auseinander - auch wenn die Tora eigentlich ganz klar ist.

Von Monika Konigorski |
    Ein Stationsarzt und eine Krankenschwester während einer Visite auf einer Palliativstation.
    Ein Stationsarzt und eine Krankenschwester während einer Visite auf einer Palliativstation. (Imago / EPD)
    Stephan Probst leitet die palliativmedizinische Abteilung am Bielefelder Klinikum. Er betreut bis zu 300 Sterbende und unheilbar Kranke im Jahr. Als Palliativmediziner ist es seine Aufgabe, die Beschwerden von sterbenden und chronisch kranken und Menschen zu lindern und ihnen dabei zu helfen, auch im letzten Lebensabschnitt gut und würdevoll leben zu können. Probst kennt aus seiner Arbeit auch den Wunsch nach aktiver Sterbehilfe:
    "Also, als Wunsch zum Sterben oder ganz appellativ: 'Herr Doktor geben Sie mir eine Spritze, dass es schnell zu Ende geht!' Das hören wir relativ oft, und das verwundert aufs erste Hinhören, aber es ist eher das Signal zu sagen: So, wie es jetzt ist, möchte ich unter keinen Umständen weiterleben."
    Probst, der auch in der jüdischen Gemeinde in Bielefeld aktiv ist, bestätigt, was viele Palliativmediziner sagen: Die Todessehnsucht verschwindet zumeist, wenn Schmerzen gestillt und Gespräche geführt werden, wenn Angehörige den Patienten glaubhaft machen können, dass sie keine Last sind. Man könne helfen, dass Menschen ihr Gefühl von Würde zurückerlangen.
    "Wenn das gar nicht gelingt – was es natürlich auch gibt – haben wir auch Möglichkeiten zu sagen: Wir können gucken, wenn es zu Ende geht, dass wir den Menschen anbieten zu schlafen, und dass das Leben im Schlaf aufhört. Also was man als palliative Sedierung bezeichnet, ohne dass es die Intention hat, den Tod schneller herbeizuführen, aber dass der Tod im Schlaf kommen kann."
    Was aber, wenn jemand auch diese Möglichkeit ablehnt und nur noch den Wunsch hat, sein Leben zu beenden? Diesen Fall, sagt der jüdische Arzt, habe er noch nicht erlebt.
    Rechtliche Grauzone mitunter hilfreich
    Zurzeit ist die Beihilfe zum Suizid in Deutschland nicht strafbar, liegt aber in einer rechtlichen Grauzone. Ärzten verbietet in den meisten Bundesländern das Standesrecht, bei der Selbsttötung zu helfen, etwa einen Giftcocktail bereitzustellen, den der Sterbewillige dann einnimmt. Der Bundestag debattiert derzeit über eine gesetzliche Regelung der Sterbehilfe. Während sich der Ethikrat nicht eindeutig zum assistierten Suizid positioniert, lehnen ihn evangelische wie katholische Kirche grundsätzlich ab.
    Auch in der jüdischen Tradition finde die Beihilfe zur Selbsttötung keine Unterstützung, sagt Tovia Ben-Chorin. Er war bis zuletzt Rabbiner in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, von Juli an ist er Rabbiner im schweizerischen St. Gallen.
    "Ein Mensch darf sich sein Leben nicht nehmen."
    Daher dürfe auch niemand dabei assistieren.
    "Leben und Tod ist etwas vom Schöpfer, und ich bin verantwortlich für dieses Geschenk richtig zu handeln. Es ist etwas Sakrales, Heiliges."
    "Wähle das Leben", heißt es in der Tora, der grundlegenden Schrift des Judentums. Das eine sind die Gebote, das andere ist die Realität. Da muss der Seelsorger abwägen. Der Rabbiner erinnert sich, wie er einer todkranken Frau davon abriet, eine Ärztin um tödliche Medikamente zu bitten. Aber er erfüllte ihr den Wunsch, bei ihr zu sein, als sie die tödlichen Medikamente einnahm. Ein Konflikt, räumt auch dieser Rabbiner ein.
    "Das Jüdische Gesetz wäre ganz klar: Nein, das machen wir nicht."
    Bestätigt der liberale Münchner Rabbiner Tom Kucera die Ablehnung von assistiertem Suizid in der jüdischen Tradition. Das aber bewahre nicht vor einem moralischen Dilemma.
    "Es ist sehr einfach nein zu sagen, das jüdische Gesetz schreibt es so vor, aber wenn ich in dergleichen Situation bin, wie würde ich reagieren, für mich selbst – wenn ich weiß, dass ich ALS habe, die eine schreckliche terminale Krankheit ist. Würde ich nicht lieber meine eigene Kontrolle über die Situation herrschen lassen? In meinem Herz muss ich sagen: Ja, das möchte ich gerne, dass ich es selbst kontrolliere."
    Talmudstellen mit Hinweisen
    In der jüdischen Tradition fänden sich durchaus Quellen, mit denen man diese Position stützen könne, erklärt der Rabbiner.
    "Es gibt einige Talmudgeschichten die darauf hinweisen würden, dass es Beihilfe zum Suizid gibt. Und die berühmte Stelle ist Rabbi Chalafta und die alte Frau, sie möchte sterben, weil sie alt ist, sie ist auch nicht einmal krank, sie ist nur lebensmüde."
    Die alte Frau, so die Geschichte, geht zum Rabbiner und sagt: "Ich möchte nicht mehr leben." Der Rabbiner rät ihr: "Gehen Sie drei Tage lang nicht in die Synagoge." Die alte Frau befolgt seinen Rat und stirbt.
    "Also diese Geschichte kann man wirklich so interpretieren: Er hat ihr geholfen, dass sie stirbt. Und sie ist auf eine natürlich Weise gestorben. Natürlich ist es auf einer allgemeinen, spirituellen Ebene, er hat ihr nichts verabreicht. Aber er hat diese Information verabreicht, aber mithilfe dieser Information, mithilfe dieses nicht-physischen Mittels hat sie dann den Tod erreicht."
    "Es gibt heute nicht die einheitliche Position", fasst die Rabbinerin der Frankfurter Einheitsgemeinde, Elisa Klapheck, die jüdische Debatte zusammen.
    "Es gibt halt Quellen aus dem Talmud und weitere Schlussfolgerungen, und dann ist es eigentlich dem einzelnen Rabbiner überlassen, wie er seine Schlussfolgerungen zieht. Es ist klar, in der Orthodoxie wird bis zuletzt eine Pflicht zu leben gesehen, das ist da viel stärker formuliert als im liberalen Judentum, aber auch im liberalen Judentum gilt die Zurückhaltung davor, das Leben vorzeitig zu beenden."
    Konsens nur beim Thema passive Sterbehilfe
    Die Vertreter des liberalen Judentums kritisieren jedoch, orthodoxe Rabbiner würden oft fordern, das Leben unter allen Umständen zu erhalten. In der Allgemeinen Deutschen Rabbinerkonferenz, in der sowohl orthodoxe wie auch liberale Rabbinerinnen und Rabbiner vertreten sind, könne man sich lediglich auf einen Konsens einigen und sich positiv über passive Sterbehilfe zu äußern – dass also am Lebensende nicht mehr alle Therapien zum Einsatz kommen müssen und dass auf lebenserhaltende Maßnahmen wie Herz-Lungen-Maschine und künstliche Ernährung verzichtet werden könne. Assistierter Suizid als mögliche Option am Lebensende ist auch unter den liberalen Rabbinern in Deutschland nicht konsensfähig.
    Der jüdische Palliativmediziner Stephan Probst hofft, dass die gesetzliche Grauzone in diesem Punkt erhalten bleibt. Er könne sich vorstellen, dass es Situationen gebe, in der dies hilfreich sei.
    "Die Palliativmedizin wird nie Reklame machen dafür, dass Suizidassistenz im Repertoire der Palliativmedizin drin ist. Aber, wenn es in der Palliativmedizin geschehen kann, ohne dass es ein Riesenthema wird, finde ich, dass es da viel besser aufgehoben ist, als im Sterbehilfeverein oder anderen Organisationen, die das geschäfts- oder gewerbsmäßig betreiben."