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Sterbehilfe
"Palliativmedizin ist ein Dienst an Menschen"

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland Nikolaus Schneider habe allen Respekt verdient, sagte Eberhard Schockenhoff vom Deutschen Ethikrat im DLF. Schneider hatte angekündigt, seine Ehefrau notfalls in die Schweiz zu begleiten, wenn sie Sterbehilfe in Anspruch nehmen wolle. Mangelndes Vertrauen gegenüber der Palliativmedizin kann Schockenhoff nicht nachvollziehen.

Eberhard Schockenhoff im Gespräch mit Karin Fischer |
    Ein jüngerer Mensch umfasst das Armgelenk einer älteren Person, die im Krankenbett liegt.
    Die Palliativmedizin habe die Möglichkeiten, in 90 Prozent der Situationen unerträglichen Schmerzen zu reduzieren, so Eberhard Schockenhoff. (picture alliance / dpa / Jm Niester)
    Durch die zugesagte Unterstützung für seine Frau hat der höchste Repräsentant der Evangelischen Kirche die Debatte um Sterbehilfe neu entfacht. Schockenhoff betonte allerdings, dass dies eine hypothetische Überlegung von Schneider gewesen sei. Es sei ungewiss, ob dieser überhaupt eintreten werde.
    Die Debatte über Sterbehilfe sei ein Dauerzustand, so Schockenhoff, häufig gehe sie von einem bestimmten Einzelfall aus und dann werde gefragt, welche generellen Regeln geschaffen werden müssten. Doch Schockenhoff - in Zustimmung zu Schneider - fordert dazu auf, diese beiden Bewertungsebenen zu trennen: "Den Einzelfall und den Fall einer allgemeinen Regel."

    Das ausführliche Interview mit Eberhard Schockenhoff:
    Karin Fischer: Nikolaus Schneider, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, hat in zwei Interviews im "Stern" und in der "Zeit" erklärt, er würde seine an Brustkrebs erkrankte Frau im Ernstfall zum Sterben in die Schweiz begleiten. Der Fall ist interessant deshalb, weil er auf die sehr alltägliche Diskrepanz zwischen öffentlicher und privater Moral aufmerksam macht.
    Konkret: Dürfte ein Vertreter der Evangelischen Kirche sich persönlich anders verhalten als die ethische Position, die er grundsätzlich mit vertreten hat, besagt? Ich möchte diese Frage weitergeben an den katholischen Theologen und Mitglied im Deutschen Ethikrat, Eberhard Schockenhoff. Mit was für einem ethischen Dilemma, Herr Schockenhoff, falls es überhaupt eines ist, haben wir es hier zu tun?
    Eberhard Schockenhoff: Das Dilemma besteht darin, dass die grundsätzliche Prinzipienorientierung auch bei Herrn Schneider ja - das sagt er ja auch selbst - dafür spricht, dass er sagt, das Sterben ist ein teil des Lebens, und es kommt darauf an, einen anderen Menschen so lange wie möglich zu begleiten, ihm nahe zu sein und ihm durch die erwiesene Liebe und Solidarität es auch zu ermöglichen, das eigene Sterben anzunehmen und diesen, vor einem liegenden Prozess der Auseinandersetzung mit dem bevorstehenden Tod auch zu bestehen und persönlich anzunehmen. Das ist die entscheidende Aufgabe.
    Dann hat Herr Schneider hypothetisch gesagt, wenn ein Fall eintreten sollte, dass seine Frau von sich aus sagt, ich bin am Ende, ich kann das nicht mehr, dass er dann bereit wäre, diesen Weg mit ihr zu gehen. Das ist eine hypothetische Überlegung für einen Fall, von dem niemand weiß, ob er überhaupt eintritt. Da kann man natürlich sagen, dass er allen Respekt verdient für eine solche ganz persönliche Einzelfallentscheidung, aber da sie ja noch in hypothetischer Weise erfolgt, kann man auch fragen, warum das zum Gegenstand öffentlicher Debatten gemacht werden soll, was dabei das Kalkül ist, und das irritiert mich, ehrlich gesagt, auch etwas.
    Schockenhoff: Sterbehilfe hat vor allem menschliche Solidarität zum Ziel
    Fischer: Dazu kommen wir gleich, Herr Schockenhoff. Trotzdem noch mal eine Aussage von Nikolaus Schneider: "Beim Sterben jede Hilfe. Aber nicht zum Sterben." Das ist ja tatsächlich eine klare Position.
    Schockenhoff: Ja, und das ist auch die gemeinsame Position der christlichen Kirchen. Dahinter steht die Überlegung, dass Hilfe beim Sterben, das braucht jeder Mensch. Das umfasst einmal den medizinischen Sterbebeistand, insbesondere die palliativmedizinische Versorgung. Es ist ja längst nicht mehr so, wie Ärzte vielleicht früher einmal gedacht haben, dass sie dann, wenn sie keine kurativen, auf Heilung ausgerichteten Möglichkeiten mehr haben, ein Patient für sie auch nicht mehr Gegenstand ihrer Sorge und ihres medizinischen Bemühens wäre, sondern dann richtet sich das Behandlungsziel auf eine gute palliativmedizinische Versorgung. Das hat zum Ziel vor allem das frei sein von unerträglichen Schmerzzuständen, aber es umfasst auch Maßnahmen gegen innere Unruhe und Angst, also Begleitung, Leidminderung in einem umfassenden Sinn.
    Daneben hat die Hilfe beim Sterben vor allem menschliche Solidarität, wenn es sich um religiöse Menschen handelt auch geistlichen Beistand zum Ziel, und das ist das Entscheidende. Da sind Angehörige und einander nahestehende Menschen natürlich am wichtigsten. Das kann durch professionelle Helfer diese menschliche Nähe nur sehr begrenzt ersetzt werden.
    "Das mangelnde Vertrauen in die Palliativmedizin, das halte ich für unbegründet"
    Fischer: Das Problem scheint doch zu sein, Herr Schockenhoff, dass die Ehefrau Anne Schneider als Betroffene der Palliativmedizin, die ja tatsächlich, wie Sie sagen, in Deutschland große Fortschritte gemacht hat, nicht zu vertrauen scheint. Das ist das eine und das andere wäre die Frage: Auch in der Medizin - und Frau Schneider hat einen solchen Fall genannt gibt es natürlich eine Grauzone des Übergangs sozusagen von der passiven zur eher aktiven oder zulassenden Sterbehilfe.
    Schockenhoff: Das mangelnde Vertrauen in die Palliativmedizin, das halte ich für unbegründet. Das wäre auch ein fatales öffentliches Signal, wenn das bezweckt sein sollte, was ich aber nicht unterstelle und nicht annehme. Die Palliativmedizin hat heute Möglichkeiten, in 90 Prozent der Situationen für ein frei sein von unerträglichen Schmerzen zu sorgen. Für die übrigen zehn Prozent, die es natürlich auch gibt - und da muss man auch eine ehrliche Antwort darauf finden - gibt es außergewöhnliche Methoden der Palliativmedizin bis hin zur palliativen Sedierung, wo ein künstliches Koma vorübergehend herbeigeführt wird. Das ist noch eine Form, wo immerhin aus Respekt vor der Grenze des Todes der Tod nicht selbst herbeigeführt wird und ich meine, wir sollten in der öffentlichen Debatte diesen Respekt auch aufbringen. Palliativmedizin ist ein Dienst an Menschen, an Sterbenden und da gibt es keinen Grund, hier mangelndes Vertrauen entgegenzubringen.
    Und noch einmal: Das sind ja hypothetische Fälle. Niemand weiß, ob dieser Fall überhaupt eintreten wird. Deshalb bezweifele ich auch, dass es sehr sinnvoll ist, jetzt in einer generalisierten Betrachtung eines solchen Einzelfalles öffentlich darüber zu spekulieren.
    "Wir haben diese Debatte ständig"
    Fischer: Dazu noch mal die Nachfrage. Sie haben schon zu Beginn das Motiv hinter diesen Interviews hinterfragt. Andererseits ist jeder Schritt in die Öffentlichkeit, der zu einer Debatte anregt, ja grundsätzlich auch positiv. Wird diese Debatte über die Sterbehilfe in Deutschland deswegen verändert, und wenn ja, zum Guten oder zum Schlechten?
    Schockenhoff: Diese Debatte ist ein Dauerzustand. Das ist auch richtig. Man kann ja nicht sagen, dass sie jetzt erst ausgelöst würde. Wir haben diese Debatte ständig und es ist meistens nach dem Muster, dass man von einem Einzelfall ausgeht und dann fragt, welche Konsequenzen müssen wir ausgehend von diesem Einzelfall für die Regeln, die wir in Deutschland haben, auch für strafrechtliche Regeln, für die berufsethischen Regeln der Ärzteschaft schaffen. Und da hat Herr Schneider ja selber gesagt, man muss beide Bewertungsebenen trennen: Den Einzelfall - und da hat jeder Respekt, auch dass seine persönlichen Umstände, seine Gewissensentscheidung geachtet wird und den Fall einer allgemeinen Regel.
    Und da gilt ein sehr, sehr starkes Argument, das, glaube ich, durch die Betrachtung des Einzelfalls nicht schwächer wird. Wenn wir eine soziale Praxis in Deutschland hätten, die einem geänderten Regelbewusstsein folgen würde, in der die Tötung auf Verlangen, also die Hilfe zum Sterben und auch der assistierte ärztliche Suizid Gang und Gäbe wären, als etwas, was grundsätzlich gesellschaftlich akzeptiert ist, dann würde das den Druck, der auf Sterbenden und Schwerkranken lastet, erheblich verschärfen.
    Dann müssten sie sich nämlich rechtfertigen dafür, dass sie noch am leben sind und die Sterbephase nicht schon, wie es dann als vernünftig erscheinen würde, vorher durch eine Sterbebitte oder eine Bitte um Suizidbeihilfe abgekürzt hätten. Und diesen Zwang zur Rechtfertigung des eigenen Daseins in der ohnehin schwierigen Situation des Betroffenseins durch eine schwere Krankheit, der Auseinandersetzung mit den Vorwürfen, die man vielleicht auf sich gerichtet empfindet oder auch der Scham, die man selbst angesichts dieser Krankheit empfindet, das dürfen wir keinem Menschen zumuten.
    Und da greift auch das Menschenbild eines demokratischen Rechtsstaates, der auf dem Respekt vor dem Leben jedes einzelnen, jeder einzelnen seiner Bürgerinnen und Bürger gegründet ist und er darf nicht über die Rechtsordnung ein Signal in die Gesellschaft aussenden, das darauf hinausläuft, dass die Mehrheit der Bevölkerung es für vernünftig und vielleicht sogar für erstrebenswert und wünschenswert hält, dass schwerkranke Menschen von einem gewissen Zeitpunkt an, wo sie den Eindruck haben, jetzt falle ich den anderen nur noch zur Last, einfach sich selber unsichtbar machen, indem sie selbstbestimmt angeblich diese Gesellschaft verlassen.
    Schockenhoff: Schneider wollte Öffentlichkeit an privaten Überlegungen teilhaben lassen
    Fischer: Ganz kurz zum Schluss, Eberhard Schockenhoff: Spielt die Familie Schneider, wie ja auch unterstellt worden ist, der organisierten Sterbehilfe mit diesen Interviews in die Hände?
    Schockenhoff: Das will ich nicht unterstellen. Das hoffe ich auch nicht. Sie haben einfach von sich aus den Schritt tun wollen, die Öffentlichkeit an diesen privaten Überlegungen teilhaben zu lassen. Welche Motive sie dabei verfolgt haben, darüber möchte ich mich nicht an Spekulationen beteiligen.
    Fischer: Eberhard Schockenhoff war das, katholischer Theologe und Mitglied des Deutschen Ethikrats, zur Diskussion um die Sterbehilfe aus persönlicher und ethischer Sicht.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.