Donnerstag, 25. April 2024

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Steve Sem-Sandberg: "W."
Der Woyzeck hinter Büchners Woyzeck

In der Lesart von Georg Büchner gibt er einem der meistgespielten deutschen Theaterstücke seinen Titel. Doch was machte Woyzeck zum Mörder? Wo Büchner auf mehrere historische Figuren zurückgreift, widmet Steve Sem-Sandberg der wichtigsten, Johann Christian Woyzeck, nun einen ganzen Roman.

Von Rainer Moritz | 26.05.2021
Der Schriftsteller Steve Sem-Sandberg und sein Roman "W."
Steve Sem-Sandberg, geboren 1958 in Oslo, gilt als einer der renommiertesten skandinavischen Autoren. Sein Woyzeck-Roman "W." wurde von der schwedischen Presse gefeiert und vielfach ausgezeichnet. (Cover Klett-Cotta / Autorenportrait picture alliance / Marijan Murat)
Mit einem Paukenschlag setzt dieser Roman ein, mit einer Stimme, die lauthals ruft: "Stich, stich die Woostin tot. Stich sie tot, tot!" Wer hier aus welchen Gründen zugestochen hat im Juni 1821 und was es mit diesen peinigenden Stimmen auf sich hat, das gilt es zu klären – eine Aufgabe für die Polizei und für die Gerichte: "Beim Polizeiverhör, das hernach stattfand, konnte er sich nicht erinnern, woher die Worte gekommen waren oder was für eine Stimme sie gesprochen hatte, er sagte nur, es sei gewesen, als packe ihn die Hand eines Riesen bei der Brust und schleuderte ihn zu Boden."
Generationen von Schülerinnen und Schülern wurden mit diesem Fall, mit Georg Büchners kurzem, Fragment gebliebenem "Woyzeck" konfrontiert und lernten, welche weit in die Moderne reichende Sprengkraft von diesem Theaterstück ausgeht, das so wenig mit den klassischen Dramen der Goethezeit gemein hat. Dass Büchner auf mehrere zeitgenössische "Fälle" zurückgriff, um seiner Figur des Frauenmörders Woyzeck Konturen zu geben, ist vielfach dokumentiert. Im Zentrum dabei stand und steht die Gestalt des 1780 geborenen Johann Christian Woyzeck der, nachdem er die Witwe Johanna Woost brutal erdolcht hatte, 1824 in seiner Heimatstadt Leipzig öffentlich hingerichtet wurde – mitten auf dem Marktplatz, geifernd angestarrt von Tausenden Schaulustigen.

Dokumente und Fiktionen

Literatur- und Medizinhistoriker nahmen sich früh dieses spektakulären Geschehens und des sich über Jahre hinziehenden Prozesses an. Hofrat Clarus, zweimal zum Gutachter bestellt, versuchte Woyzecks Lebensgeschichte und die Beweggründe seiner Tat zu eruieren. Der 1958 geborene Schwede Steve Sem-Sandberg, seit 2010 Mitglied des Komitees der Schwedischen Akademie, hat diese gut überlieferten, reichhaltigen Dokumente studiert, Archivmaterialien ausgehoben und all das für seinen neuen Roman "W." fruchtbar gemacht.
Kaum ein anderer Autor wäre wohl besser geeignet als Sem-Sandberg, um Woyzecks vielfach nacherzählter Geschichte neue Töne abzulauschen. Schon in der Vergangenheit – etwa in seinen Romanen "Die Erwählten" oder "Die Elenden von Łódź" – demonstrierte er kunstvoll ein Verfahren, historische Dokumente mit fiktionalen Elementen zu verquicken und dem Erzählten so besondere Eindringlichkeit zu geben. Auch für "W." hat Sem-Sandberg einen Weg gefunden, auf unterschiedlichste Textformen – Protokolle, Gespräche, Gutachten, Gerichtsurteile – zurückzugreifen und die eher konventionell nacherzählte, in vielem frei ausgemalte Biografie Woyzecks immer wieder aufzubrechen.
Zu diesen einbezogenen Dokumenten gehören auch die Versuche der Verteidigung, Woyzecks Schuldfähigkeit in Zweifel zu ziehen und das Todesurteil in eine Haftstrafe umzuwandeln: "Alles zusammengenommen, weisen diese Äußerungen auf einen tief verstörten Sinneszustand des Inquisiten hin, einen Zustand, der am verständlichsten mit dem Ausdruck 'Manie' zu bezeichnen ist."

Ein Mann, der sich im Krieg verliert

Wie Woyzecks unglückseliges Leben zu Ende ging, ist bekannt und muss deshalb nicht in einem künstlich gebauten Spannungsbogen hergeleitet werden. Es geht darum, diesen Mann zu verstehen – diesen Mann, der seine Eltern früh verlor, bei einem Perückenmacher in die Lehre ging, sich in den Napoleonischen Kriegen als Soldat verdingte, in zwanzig Jahren halb Europa sieht, mit der Stralsunderin Marie Thiessen (so sein Glauben) ein Kind zeugt, das diese ihm entzieht, sich in die Witwe Woost verliebt, die seine Eifersucht schürt, mehr und mehr verwahrlost, kaum noch einen Unterschlupf findet und schließlich mordet.
Steve Sem-Sandberg holt weit aus, um den Leserinnen und Lesern Woyzeck in all seinem Unglück, seiner Hinterlist und seiner Verzweiflung darzustellen, und lässt es nicht an erzählerischer Opulenz fehlen. Vor allem wenn es darum geht, den Soldaten Woyzeck, der so gern in der Kameradschaft aufginge, zu schildern, findet Sem-Sandberg großartige Bilder, die das (Kriegs-)Elend in zahlreichen Details nachzeichnen. Da regiert der nackte Hunger, da verzehrt man rohes Pferdefleisch, da werden Beine amputiert, da quillt das Blut an allen Ecken und Enden hervor, und da werden einem Pfarrer bei lebendigem Leib die Augen aus dem Kopf "geschält". Und nicht zuletzt zeigt der Roman auf, wie Gewalt und Sexualität zusammenhängen, wie allmählich eine Enthemmung einsetzt, die keine gesellschaftlichen Schranken mehr akzeptiert.

Der Ausgestoßene braucht keinen Namen

Woyzeck, der Ausgestoßene, hat nicht einmal einen von allen akzeptierten Namen. Als "Woyetz" oder "Wutzig" redet man ihn an und raubt ihm damit permanent einen Teil seiner Identität. Er taumelt durch diese Szenerien des Schreckens, und weiß, dass er ein Außenseiter bleiben wird, der von keiner Gemeinschaft auf Dauer angenommen wird.
"Und nun beginnt es von Neuem: das, was ihn für den Rest seines Lebens zum Gespött machen wird. Das Herumgeschleiche. Das Beäugen von Menschen und Dingen aus der Ferne. Die Lust, sich zu verstecken. Aber auch die Schrankträume: Er wünscht, dass die Welt einem Schrank gliche und er selbst bestimmen könnte, wie alles darin beschaffen ist."
Eine Sensibilität, die er nicht in Worte fassen kann, wird zu seinem Kennzeichen, das seinen Mitmenschen Angst einflößt. Diese schotten sich ab, verspotten ihn und wollen nichts mit ihm zu tun haben. Und nicht zuletzt ist Woyzeck einer, der von seinen inneren Dämonen heimgesucht wird, der halluziniert und ein Krankheitsbild abgibt, das nicht leicht zu bestimmen ist.

Wie folgerichtig verläuft ein Leben?

Der depressive Woyzeck, der vom Krieg traumatisierte Woyzeck, der paranoide Woyzeck, der schizophrene Woyzeck – Advokaten, Pfarrer und vor allem Hofrat Clarus versuchen Licht ins Dunkel zu bringen und die entscheidende Frage zu klären: War Woyzeck, als er die Woostin tötete, zurechnungsfähig? Oder handelte er im Wahn, hörte er "Stimmen", die ihn anstachelten, die Tat zu begehen? Sem-Sandberg nimmt immer wieder – zusammengehalten durch ein Netz von Leitmotiven – neue Anläufe, die Hintergründe auszuleuchten, und lässt gleichzeitig Interpretationsspielraum. Was zum Beispiel hat es mit der Tatwaffe, einer Degenklinge, auf sich, für die Woyzeck eigens einen Holzgriff erwarb? Tat er das bereits in der Absicht, sich an seiner treulosen Geliebten zu rächen, oder waren es verhängnisvolle Zusammenhänge, die in eine Tragödie mündeten?
Sem-Sandberg erzählt, ohne sich in bloßer Empathie für Woyzeck zu ergehen, von einem armen, einsamen Individuum, das früh die "Schmach des stets Übervorteilten" kennenlernt, und er weiß genau, dass auch ein solches Leben nicht nach eindeutigen Kausalitäten abläuft. In einer Schlüsselstelle gegen Ende des Romans wird das deutlich – und damit auch die Erzählmethode des Romans: "Wie erzählt man von einem Leben? Als Bewegung vom unbekannten Ursprung zum immer klarer voraussagbaren und allmählich immer deutlicher erkennbaren Ende? Sein Leben aber lässt sich so nicht darstellen. Es ist nie in nur eine Richtung verlaufen. Vielmehr scheint es jedes Mal ein unsicheres Stückchen vorangeschritten zu sein, um dann auf sich selbst zurückgefaltet zu werden, wie wenn man Stoff zusammenlegt."
Hofrat Clarus kann, allein schon aus Berufsgründen, mit derartiger Komplexität wenig anfangen. Er will "klaren Bescheid", er will die "Ereignisse in eindeutig überschaubarer Reihenfolge dargelegt bekommen". So kommt sein Gutachten zu einem Ergebnis, das Woyzecks Schuldfähigkeit bejaht – eine Eindeutigkeit, mit der gelungene Romane in der Regel nichts anzufangen wissen. Steve Sem-Sandberg hat einen solchen geschrieben und das letztlich Unergründliche des Menschen umkreist. Mit einer Offenheit, die bemerkenswert ist.
Steve Sem-Sandberg: "W."
Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 414 Seiten, 25 Euro