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Stickoxid-Belastung in Deutschland
"Fahrverbote in Innenstädten sind das letzte Mittel"

10.400 Tote allein in Deutschland durch Stickoxide, so die Zahlen der Europäischen Umweltagentur. Es müsse andere Mittel als Fahrverbote geben, um die Luft in Innenstädten rein zu erhalten, sagte die SPD-Verkehrspolitikerin Kirsten Lühmann im DLF. Ansetzen könnte man beispielsweise beim Busverkehr, von dem ein großer Anteil der Verschmutzung ausginge.

Kirsten Lühmann im Gespräch mit Ann-Kathrin Büüsker | 08.03.2017
    Die SPD-Politikerin Kirsten Lühmann
    Die SPD-Politikerin Kirsten Lühmann (imago / Müller-Stauffenberg)
    Ann-Kathrin Büüsker: 8,5 Millionen Autobesitzerinnen und Besitzer in Europa sind vom VW-Abgasskandal betroffen. Doch sie erhalten im Gegensatz zu den Kunden in den USA keine Entschädigung. Die EU-Verbraucherschutzkommissarin möchte das gerne ändern. Ihr fehlt allerdings die rechtliche Handhabe. Und so stehen die Kunden am Ende als die Gekniffenen da.
    Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Dieser Frage geht ein Untersuchungsausschuss im Deutschen Bundestag nach. Heute wird Bundeskanzlerin Merkel dort sprechen, voraussichtlich als letzte Zeugin.
    Die Frage, inwieweit fehlende Distanz zwischen Politik und Automobilindustrie in dieser ganzen Geschichte eine Rolle gespielt haben, die möchte ich nun vertiefen, und zwar mit Kirsten Lühmann, verkehrspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion und Obfrau der SPD im Abgas-Untersuchungsausschuss. Guten Morgen, Frau Lühmann.
    Kirsten Lühmann: Guten Morgen, Frau Büüsker.
    Büüsker: Frau Lühmann, wenn Niedersachsens Wirtschafts- und Verkehrsminister Olaf Lies mit großem Stolz in einer Pressemitteilung von gestern schreibt, "Das Herz der Automobilindustrie schlägt in Niedersachsen", wieviel kritische Herangehensweise kann man da noch von der Politik gegenüber Volkswagen erwarten?
    Lühmann: Politik hat immer zwei Aufgaben. Politik hat die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass es den Menschen in Deutschland gut geht, und das schließt die Wirtschaft ein, weil das Arbeitsplätze bedeutet. Aber auf der anderen Seite hat Politik auch die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass Gesetze eingehalten werden. Das machen wir aber nicht selber, sondern dafür haben wir Behörden, und diese Behörden sind absolut unabhängig. Das hat auch unser Untersuchungsausschuss gezeigt.
    Büüsker: Sie sprechen den Untersuchungsausschuss an. Jetzt ist es so: Da sitzen viele Verkehrspolitiker drin und viele von denen, auch Sie kommen aus Wahlkreisen, wo durchaus Arbeitsplätze in der Automobilindustrie eine Rolle spielen. Wie sichern Sie da, dass Sie nicht befangen sind?
    Lühmann: Das haben wir in der Politik aber überall. Ich bin in vielen Dingen, wenn Sie so wollen, befangen. Es ist unsere Aufgabe, dass wir alle Sichtweisen uns angucken, nicht nur übrigens bei dem Abgasskandal, sondern auch bei anderen Fragen wie Glyphosat, Gifte in der Landwirtschaft, oder Steuerbefreiungen oder dergleichen. Es ist eine Frage, die sich uns immer stellt, und die Wählenden müssen letztendlich entscheiden, die Personen, die da sitzen, machen die das wirklich in meinem Sinne, hören die sich alle Argumente an und urteilen sie dann möglichst objektiv, oder sitzen da Leute, die interessengeleitet sind.
    Büüsker: Sie haben eben gesagt, die Behörden agieren in dieser Sache. Die Behörden sind politisch unabhängig. Wie erklären Sie sich dann aus dem, was Sie bisher auch im Ausschuss gehört haben, dass die US-Umweltbehörde schon 2012 angefangen hat, in dieser Sache zu ermitteln, in Deutschland aber nichts passiert ist?
    Lühmann: Das ist so nicht richtig. In Deutschland ist auch etwas passiert, denn schon als diese Richtlinie in Kraft getreten ist, 2007, als man sie verabschiedet hat, wusste man schon, dass die Werte auf der Straße andere sind als auf der Rolle. Das haben uns die Zeugen und Gutachter übereinstimmend gesagt. Man war damals aber nicht in der Lage, ein anderes Prüfszenario aufzustellen, und hat gesagt, wir akzeptieren das, weil die Abweichungen noch nicht so groß waren. Das wurde ja auch in dem Beitrag erwähnt, dass die Abweichungen immer größer geworden sind.
    Instrumentarien für Prüfungen schaffen
    Büüsker: Frau Lühmann, wenn ich da kurz einhaken darf? Warum war man denn nicht in der Lage, andere Prüfverfahren einzuführen?
    Lühmann: Weil es die zu dem Zeitpunkt noch nicht gab. Das haben uns sogar die Sachverständigen der Grünen erzählt und haben gesagt, wir wussten 2007 nicht. 2007 gab es diese Prüfungen auf der Straße für LKW. Da hängt man hinten an den Auspuff eine große Prüfarmatur dran, die wiegt mehrere hundert Kilo. Wenn ich die an einen PKW dranbaue, dann verfälscht das natürlich das Ergebnis. Und man hat schon 2007, als man das verabschiedet hat, gesagt, wir müssen da was machen und wir sollten überlegen, dass wir diese Geräte, die wir im Moment nur für LKW haben, kleiner machen, dass wir sie auch für einen PKW nehmen können. Diese Entwicklung hat begonnen etwa 2010 und ist ja im letzten Jahr zum Abschluss gekommen.
    Büüsker: Und wieso hat das so lange gedauert?
    Lühmann: Das haben wir uns auch gefragt im Ausschuss. Aber die Fachleute, nicht die Politiker, die Fachleute haben uns gesagt, diese sieben Jahre wären schon sehr schnell gewesen, weil man ja nicht nur die Technik entwickeln muss, sondern man muss sich ja auch politisch mit allen 28 Mitgliedsstaaten der EU einigen auf die Prüfkriterien, denn auch bei einem Test auf der Straße muss es ja einheitliche Kriterien geben. Das Auto in Frankreich muss genauso geprüft werden wie in Deutschland oder Polen.
    Büüsker: Das heißt, die Konsequenz aus all dem muss eigentlich sein, dass wir für die Zukunft wirklich richtig strenge Prüfverfahren brauchen?
    Lühmann: Richtig. Und wir müssen auch Instrumentarien schaffen, dass die Prüforganisationen auch Durchgriff haben. Frau Nickels hat uns gestern deutlich gemacht, was ihre Behörde für Möglichkeiten hat. Sie hat 2012 den ersten Verdacht gemacht und sie hat uns erzählt, sie haben dann sogar einen neuen Prüfstand gebaut, weil sie festgestellt haben, dass sie mit ihrem alten Prüfstand nicht weiterkommen. Aber letztendlich konnte auch die amerikanische Behörde die Manipulation nicht feststellen. Sie haben einfach VW in die Ecke gedrängt, weil denen keine Ausrede mehr eingefallen ist.
    Büüsker: Aber wofür braucht man denn eigentlich Prüfstände? Man könnte doch auch mit normalen Autos auf der Straße messen?
    Lühmann: Ja. Wir müssen aber die Prüfarmaturen dazu haben und wir müssen vergleichen mit den Rollenprüftests. Wir haben jetzt auch in Europa eine Regelung, die sagt, die Autos werden zweimal geprüft, einmal auf der Rolle - das sind standardmäßige Bedingungen, die sind überall gleich in Europa – und dann auf der Straße. Und dieser Straßentest ist unterschiedlich, ob Sie nun in den Alpen fahren, ob Sie in den Niederlanden im Flachland fahren. Das kann man einfach nicht so exakt standardisieren wie die Rolle. Dann gibt es einen sogenannten Konformitätsfaktor. Das heißt, man sagt, wieviel maximal, egal wo ich bin in Europa, der Straßentest von der Rolle abweichen darf.
    10.400 Todesfälle durch Stickoxide
    Büüsker: Jetzt schauen wir auf die Belastungen, die wir in der Luft sehen hier in Deutschland. Es gibt Zahlen der Europäischen Umweltagentur von 2012, die geht von rund 10.400 Todesfällen in Deutschland aus aufgrund von Stickoxiden. Verursacher vor allem Dieselfahrzeuge. Ist das nicht ein bisschen zynisch, wenn sich vor diesem Hintergrund die Autokonzerne hinstellen und sagen, nee, eigentlich halten wir ja alles ein, was wir sollen?
    Lühmann: Zynisch ist eine moralische Bewertung. Ich glaube, das muss jeder Hörer, jede Hörerin selber entscheiden. Rechtlich ist diese Aussage nicht zu beanstanden, weil wir tatsächlich die Regeln so gemacht haben. Damals, 2007 war man der Meinung, das ist ein Riesenfortschritt. Das war es auch, wenn man sich die alten Richtlinien anguckt und die alten Grenzwerte. Aber im Laufe der Zeit haben wir festgestellt, dass die Automobilindustrie die Autos nicht für den Fahrverkehr auf der Straße optimiert haben, sondern nur für den Test auf der Rolle. Und ich finde, das ist vielleicht aus Sicht der Industrie verständlich, aber aus Sicht des Gesetzgebers und der Verbraucher auf keinen Fall.
    Büüsker: Müsste man vor dem Hintergrund dessen, was wir heute alles wissen, dann nicht eigentlich sagen, alte Diesel, die wirklich schlimme Dinge ausstoßen, die muss man stilllegen?
    "Fahrverbote in Innenstädten sind das letzte Mittel"
    Lühmann: Wir haben sie nicht verboten. Das haben wir nie gemacht, europaweit nicht. Ein Verbot muss man dann auch europaweit durchsetzen. Das heißt, wir müssen uns mit allen einigen, dass wir diese alten Fahrzeuge abschaffen. Es wird gerade diskutiert, ob man sie nachrüsten kann. Die Industrie sagt, das ist möglich, aber nicht für alle Fahrzeuge und nicht in jedem Alter. Ich glaube, das ist jetzt die Frage, die wir uns stellen, denn Fahrverbote in Innenstädten sind für mich das letzte Mittel.
    Büüsker: Aber warum?
    Lühmann: Weil die Menschen zu ihren Wohnhäusern fahren wollen. Sie haben Autos gekauft in gutem Glauben, dass sie Autos kaufen, die den Normen entsprechen. Das tun sie ja auch. Und dann kann ich nicht plötzlich von einem Tag auf den anderen sagen, schön, Du hast zwar ein Auto, das legal ist, aber da darfst Du nicht mehr hinfahren. Es muss andere Mittel geben, um die Luft in unseren Städten rein zu erhalten, und da gehören viele Maßnahmen dazu. Eine ist, dass man den Busverkehr auf Elektrobusse umstellt. Es gibt Untersuchungen, die stellen fest, dass ein sehr großer prozentualer Anteil von diesen Dieselverschmutzungen von Personenbussen verursacht wird, und wenn wir da herangehen, ist das ein erster Schritt. Das reicht nicht aus. Die Frage ist, ob wir umrüsten müssen, wie man das europäisch regeln kann. Das Ziel muss sein, dass die Luft besser wird, und ich gebe Ihnen Recht: Solange wir keine anderen Instrumentarien haben, müssen sich die Städte mit dieser Krücke Einfahrverbot für ältere Dieselfahrzeuge behelfen. Aber unser Ziel muss es sein, dass wir das anders hinkriegen, die Luft reinzuhalten.
    Büüsker: … sagt Kirsten Lühmann, SPD-Obfrau im Abgas-Untersuchungsausschuss, vor dem heute die Bundeskanzlerin als Zeugin aussagen wird. Frau Lühmann, vielen Dank für das Gespräch heute Morgen im Deutschlandfunk.
    Lühmann: Gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.