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Stig Dagerman: "Deutscher Herbst"
Empathie und kaltes Grauen

Der junge Schriftsteller Stig Dagerman reiste im Herbst 1946 im Auftrag der schwedischen Tageszeitung „Expressen“ nach Deutschland. Seine eindringlichen Reportagen aus einem zerstörten Land sind nun in einer neuen deutschen Übersetzung erschienen.

Von Christoph Schröder | 16.08.2021
Stig Dagerman: "Deutscher Herbst"
Stig Dagerman reiste 1946 ins zerstörte Deutschland, acht Jahre nach Veröffentlichung seiner Reportagen nahm er sich das Leben. (Foto und Buchcover: Guggolz Verlag)
Von der ersten Seite an ist zu spüren, dass man es hier nicht nur mit einem Journalisten, sondern mit einem Schriftsteller zu tun hat. Stig Dagermans Sprache ist facetten- und vokabelreich, hat Eleganz, atmosphärische Kraft und Anschaulichkeit. Zugleich aber wird schnell deutlich, dass es Dagerman bei seiner Deutschlandreise nicht darum geht, die literarischen Reize des Elends und der Zerstörung abzuschöpfen, um damit Effekte zu erzielen.

Im Keller schlafende Kinder

Das Buch heißt im Übrigen auch im schwedischen Original "Deutscher Herbst". Der Titel ist also keine nachträgliche Anlehnung an spätere Ereignisse. Die Titelgeschichte, die den Band eröffnet, ist eine Art Kondensat jener Themen, die Dagerman in seinen weiteren Reportagen noch intensiver beleuchten wird. Seine Reise beginnt im Ruhrgebiet, wo die Flüchtlinge aus den Ostgebieten in überfüllten Zügen ankommen und keineswegs willkommen geheißen werden. Dagerman zeigt die Hoffnungslosigkeit und die Tristesse, die zur Normalität geworden ist. Für eine Aufbruchsstimmung finden sich in Dagermans Reportagen keine Anhaltspunkte:
"Es ist verraucht, es ist kalt, und es herrscht Hunger in diesem Keller, und die Kinder, die in voller Montur geschlafen haben, gehen in das Wasser, das ihnen fast bis zu den Schäften der kaputten Schuhe steht, durch den dunklen Kellergang, in dem Menschen schlafen, die dunkle Treppe hoch, auf der Menschen schlafen, und in den kühlen, nassen deutschen Herbst hinaus. Sie gehen hinaus, um zu stehlen oder zu versuchen, mit der Technik des Diebstahls etwas Essbares aufzutreiben."

Reportagen mit Tiefenschärfe

Stig Dagerman war seit 1943 mit der Deutschen Annemarie Götze verheiratet. Deren Familie war 1934 aus Leipzig geflohen und über Irrwege in das politisch neutrale Schweden eingereist. Diese biografische Verbindung hat Dagermans Blick auf das postnationalsozialistische Land maßgeblich geprägt, was seinen Reportagen eine spannende Tiefenschärfe verleiht.
Dagerman, der gut Deutsch sprach, hört zu und sieht genau hin; er hat einen für sein damaliges Alter erstaunlich klaren Blick auf Menschen und deren Verhaltensweisen. Vor allem aber verurteilt er die Deutschen nicht in ihrer Gesamtheit, sondern lässt in seinen Beschreibungen auch immer wieder Empathie mit den Schwachen erkennen. Dort allerdings, wo er auf Täter und auf armselige Mitläufer trifft, ist Dagermans Tonfall von unterkühlter Distanz.

Ein Blick von außen auf die Entnazifizierungsverfahren

Eines der Kapitel trägt den Titel "Die Gerechtigkeit nimmt ihren Lauf". Darin schreibt Dagerman die Eindrücke auf, die er als Beobachter von Entnazifizierungsverfahren gewonnen hat. Der über 70-jährige, sich harmlos-larmoyant gebende Blockwart eines Frankfurter Mietshauses, der mit seinen Denunziationen mehrere jüdische Bewohner in den Tod geschickt hat, wird beispielsweise folgendermaßen charakterisiert:
"Währenddessen sitzt Herr Sinne da und lässt seine Eichhörnchenaugen zwischen den Zeugen hin- und herwandern, und vielleicht ist man Opfer eines Trugbilds, aber plötzlich hat man den Eindruck, dass Herr Sinne von einer Schicht kalten Grauens umgeben ist, der verdorrte Greisenkörper strahlt eine Todeskälte aus, die einem Zuhörer noch in zehn Metern Entfernung kalte Schauer durch den Körper jagt."
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Trauer um die verlorene Schönheit eines Landes

München, Essen, Frankfurt am Main und Hamburg sind nur einige der Stationen, die Stig Dagerman in den zwei Herbstmonaten des Jahres 1946 besucht. Und es sind auch die Schilderungen der ausgebombten Städte, die Eindrücke von den ungeheuerlichen Verheerungen, die das Buch zu einer so mitreißenden Lektüre machen. Alptraumhaft erscheinen ihm die Stadtlandschaften von Köln, wo die Rheinbrücken im Fluss liegen und der Dom finster die Trümmerwüste überragt, oder von Nürnberg mit seinen zusammengestürzten mittelalterlichen Türmen.
In Dagermans Entsetzen über das Ausmaß der Verwüstung schwingt auch stets die Trauer um die verlorene Schönheit des Landes mit. Als die eindrücklichste Erfahrung schildert Dagerman seinen Besuch in Hamburg. Im Gegensatz zu den Einheimischen, die während einer Zugfahrt durch die Stadt den Blick gesenkt halten, blickt Dagerman aus dem Fenster:
"Man fährt eine Viertelstunde mit dem Zug und hat ununterbrochen Aussicht auf etwas, das aussieht wie eine gigantische Müllkippe für kaputte Hausgiebel, einsame Hauswände, die mit ihren leeren Fensterlöchern wie aufgerissene Augen auf die Züge hinabstarren, undefinierbare Häuserreste mit breiten, schwarzen Erinnerungen an Brandrauch, hoch und kühn herausgehauen wie Siegesdenkmäler oder klein wie Grabsteine."
Gemessen an dem verhältnismäßig kurzen Zeitraum, den Dagerman in Deutschland verbracht hat, erfährt man aus diesem Buch erstaunlich viel sowohl über den Alltag als auch über die gesellschaftlichen Konflikte. Die Besatzermächte kritisiert Dagerman für ihr zögerliches Handeln ebenso wie den SPD-Vorsitzenden Kurt Schuhmacher, in dessen Reden Dagerman eine nationalistische Färbung erkennt.

Keine Stunde Null

Wer soll das Land aufbauen und gestalten? Die jungen, mit der NS-Ideologie indoktrinierten Menschen? Oder die alten, die an den Schalthebeln der Macht saßen? Im Verteilungskampf um Güter, Wohnungen und Machtpositionen, den er beobachtet, sieht Dagerman die von Konservativen vorgebrachte Behauptung, die deutsche Niederlage hätte auch die Klassengesellschaft in Deutschland abgeschafft, ad absurdum geführt.
Stig Dagerman, der bereits in jungen Jahren von Depressionen und Krisen geplagt war, nahm sich 1954 im Alter von 31 Jahren das Leben. Sein "Deutscher Herbst" ist ein Dokument, das die pauschale Erzählung vom deutschen Neuanfang nach 1945 auf imposante Weise ausdifferenziert.
Stig Dagerman: "Deutscher Herbst"
Aus dem Schwedischen von Paul Berf
Guggolz Verlag, Berlin. 190 Seiten, 22 Euro.