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Stig Sæterbakken: "Durch die Nacht"
Anatomie eines Trauerprozesses

Am Anfang steht der Selbstmord eines jungen Menschen in Stig Sæterbakkens düsterem Roman "Durch die Nacht". Es folgt eine schonungslose Abrechnung des Vaters und Ich-Erzählers mit sich selbst. Viel Licht gibt es nicht in diesem Meisterwerk der norwegischen Literatur.

Von Angela Gutzeit | 05.08.2019
Buchcover: Stig Sæterbakken: „Durch die Nacht“
Buchcover: Stig Sæterbakken: „Durch die Nacht“ (Foto: Möller, Buchcover: DuMont Verlag)
Eine gewisse Schwermut scheint auf nicht wenigen Autoren der norwegischen Literatur zu lasten. Man könnte es als autofiktionale Verzweiflungsprosa bezeichnen, was zum Beispiel Karl Ove Knausgard, Merethe Lindstrøm oder Tomas Espedal in den vergangenen Jahren vorgelegt haben. Auch wenn der Selbstbezug nicht immer im selben Maße erkennbar ist, so ist ihnen zumindest eine obsessive Beschäftigung mit Angst, Trauer und Verlust gemeinsam. Das trifft im besonderen Maße auf Stig Sæterbakken zu, ein in Norwegen hochgeschätzter Autor.
Abgesehen von dem schmalen Heftchen "23 Notizen über den Alkohol", erschienen 2015 in einem Kleinverlag, war von ihm im deutschsprachigen Raum bislang noch nichts lesen. Sæterbakkens nun vorliegender Roman "Durch die Nacht" ist die letzte größere Prosaarbeit des Autors vor seinem Freitod 2012. Ein verstörendes Buch, das mit Empathie von einem Mann erzählt, der jeglichen Halt verliert. Das erste Wort dieses Romans lautet "Trauer". Diese Trauer wird Sæterbakkens Protagonisten begleiten, und egal, was er auch tut, sie wird ihn nicht mehr loslassen. Die Trauer ist die negative Kraft in diesem Buch, die die Handlung vorantreibt.
"Trauer tritt in so vielen Formen auf. Sie ist wie Licht, das ein- und ausgeschaltet wird. Sie ist da, sie ist nicht auszuhalten, dann verschwindet sie, weil sie unerträglich ist, weil man sie nicht permanent ertragen kann. Man wird gefüllt und geleert. Tausend Mal am Tag vergaß ich, dass Ole-Jakob tot war. Tausend Mal am Tag fiel es mir plötzlich ein. Beides war unerträglich. Ihn zu vergessen war das Schlimmste, was ich tun konnte. An ihn zu denken war das Schlimmste, was ich tun konnte. Kälte kam und ging. Wärme kam nie. Es gab nur Kälte und die Abwesenheit von Kälte. Wie mit dem Rücken zum Meer zu stehen. Eiskalte Knöchel jedes Mal, wenn eine Welle anrollte. Sie lief ab. Dann kam sie wieder. Während ich so dastand, ging die Sonne unter, und es wurde Nacht. Seitdem ist Nacht."
Die Axt im Fernseher
Ole-Jakob war der Sohn des Ich-Erzählers Karl Christian Andreas Meyer. Im Alter von 18 Jahren brachte Ole-Jakob sich um. Er nahm das Auto seines Vaters und fuhr frontal auf einen entgegenkommenden Lastwagen. Das ist die brennende Wunde in diesem Roman, der um Schuld, Versagen und um existenzielle Fragen zum Verhältnis von Individuum und Welt kreist. Diese Wunde wird sich nicht mehr schließen.
Sæterbakkens Protagonist, ein Zahnarzt in den mittleren Jahren, sucht verzweifelt nach Antworten. Der Roman wird ganz aus seiner Perspektive erzählt, in der Art eines Erinnerungsberichts, man kann auch sagen: einer Beichte. Dabei springt er vor und zurück in der Zeit. Der Ausgangspunkt ist der Tod des Sohnes, ohne dass der Leser zunächst Näheres über die Ursache erfährt. Dann beginnt der Ich-Erzähler die Ereignisse episodenhaft aufzurollen, die sich vor und schließlich nach der Katastrophe ereignet haben. Die Eingangsszene zeigt eine Familie im Modus der Zerstörung und Auflösung kurz nach der Beerdigung von Ole-Jakob. Die Tochter weint unentwegt, ihr Vater sitzt in dumpfer Depression vor dem Fernseher bis seine Frau Eva ausrastet.
"Der verdammte Scheiß-Fernseher!" Eines Abends, in der Pause zwischen zwei Serien, die ich verfolgte, stand ich draußen und rauchte, da sah ich Evas Schatten über den Hof huschen wie ein Gespenst. Dann drangen Geräusche aus der Garage, aber ich dachte mir nichts weiter dabei. Als ich wieder ins Wohnzimmer trat, war der Fernseher ein Trümmerhaufen, der Stil der Axt ragte aus dem Bildschirm, der mehr nach einer schwarzen Masse als nach zersplitterten Glas aussah. Eva stand mitten im Raum und keuchte, als hätte sie Mühe zu atmen."
Die Unerträglichkeit des Seins
Vorausgegangen ist der Selbsttötung Ole-Jakobs der Ehebruch des Vaters. Eines Tages lernt er auf einer Party die 20 Jahre jüngere Mona kennen und verlässt zunächst die Familie. Die Liaison mit der jungen Frau erweist sich jedoch als Desaster, als Irrtum, als eine unbegreifliche Tat. Sæterbakkens Ich-Erzähler verliert den Boden unter den Füßen. Es drängt ihn nach einer radikalen Lösung, die allerdings einer Selbstauflösung gleicht.
"Und wieder einmal tauchte der alte Gedanke in mir auf, der uralte Traum, der unmögliche Traum: Alles loslassen, weggehen, ein anderer werden, alles hinter sich zurücklassen, noch einmal ganz von vorn anfangen, unbelastet, ohne eine einzige Verbindung zu dem, was einmal war. Nicht spurlos verschwinden, aber spurlos auftauchen."
Die Rückkehr zu Ehefrau und Tochter ist nur von kurzer Dauer. Eines Tages packt Karl Mayer wieder seinen Koffer und verschwindet erneut, flieht vor der alptraumhaften Stagnation der familiären Beziehungen, vor allen Dingen aber vor sich selbst.
Das Buch ist zwar in mehrere Kapitel aufgeteilt, aber nach der inneren Dramaturgie des Romans zu urteilen, endet hier der erste Teil. Auf Szenen, die das Familien- und Eheleben beleuchten und den Suizid des Sohnes thematisieren, folgt im zweiten Teil die Schilderung einer fieberhaften Reise des Erzählers. Sie führt ihn nach Deutschland und schließlich in die Slowakei, wo er sich auf der Suche begibt nach einem mystischen Haus, das ihm sein Schwager Boris, ein Science-Fiction-Autor, empfohlen hat. Ein Haus, wie es heißt, in dem man entweder vernichtetet wird oder das man geläutert wieder verlässt. Ein Mittelsmann, der ihm den Eintritt zu diesem Haus ermöglicht, warnt ihn:
"Was ich sagen will und was ich dir sagen muss, ist Folgendes: Noch hast du die Möglichkeit, dich zurückzuziehen. Aber von dem Moment an, in dem du die Schlüssel bekommst, gibt es keinen Weg zurück. Und dann kann dir auch keiner mehr helfen. Du bist allein mit dem, was passiert. Es hängt kein Zettel mit einer Notrufnummer am Eingang, um es so auszudrücken."
Das mysteriöse Haus
Die Handlung kippt hier ins Alptraumhaft-Surreale, von der Außenwelt und dem Umfeld des Helden in sein Inneres, in die Abgründe seines Seelenlebens. Das mutet zunächst etwas befremdlich an. Aber man sollte auf die Signale und Zeichen achten, die der Norweger von Anfang an in seinen Text eingewoben hat. Da ist zum Beispiel von Science-Fiction-Büchern die Rede. Es tauchen rätselhafte Figuren auf. Filme, Theaterstücke, Computerspiele mit Horrorpotential werden genannt. So verschieben sich wohlkakuliert die Gewichte und lösen damit diesen unglücklichen Helden aus allen Verankerungen in seiner bisherigen Existenz, um ihn ins schließlich ins Unwirkliche und Bodenlose fallen zu lassen. Der innere Zustand des Protagonisten spiegelt sich in Verweisen auf Literatur und andere Medien, um sich dann zunehmend aufzusplittern.
Sæterbakkens Figuren ist eigen, dass sie sich selbst nicht ganz begreifen. Sie werden von großer Sehnsucht und selbstzerstörerischen Handlungen getrieben, auch in Sæterbakkens bislang noch nicht ins Deutsche übertragenem Roman "Self-Control". Hier eröffnet ein Mann seiner Tochter, dass er sich von ihrer Mutter scheiden lassen wird, obwohl er vorher noch nie darüber nachgedacht hatte.
Sæterbakkens nahezu suggestive Erzählweise zieht den Leser tief in das Geschehen hinein. Sein tragischer Held Karl Meyer ist vermutlich für den Tod des Sohnes verantwortlich. Trotzdem fällt es schwer, ihn zu verurteilen oder zumindest Distanz zu ihm zu wahren. Der Grund liegt in dieser schonungslosen Offenheit, mit der Sæterbakken seine Figur Rechenschaft ablegen lässt. Dabei klagt sie niemanden an, nur sich selbst, nüchtern, ohne Gnade: "Ich war erbärmlich. Ich war ein Idiot"- diese Aussage wiederholt sich in verschiedenen Variationen. Dieser Ich-Erzähler macht sich vollkommen nackt. Er trägt individuelle Züge, weist aber gleichzeitig über sich hinaus. Nicht zuletzt der Allerweltname Karl Meyer trägt dazu bei.
Die Sehnsucht nach der Ganzheit
Immer wieder ist in diesem wuchtigen, unerträglichen und doch so lesenswerten Roman die Rede von "versagender Sprache", von einem einzigen Satz, der alles zerstören kann, sowie von "der Unkenntnis des nächsten Menschen". Nachdem Karl Meyer seiner Frau Eva das Verhältnis mit Mona gestanden hatte, so erinnert er sich rückblickend, dachte er folgendes:
"Alles, was ich im Lauf der zwanzig Jahre unseres Zusammenlebens über dich gelernt habe, trägt jetzt nicht mehr. Es spielt keine Rolle, wie gut ich dich kennengelernt habe, nämlich nachdem das hier passiert ist, weiß ich fast nichts mehr über dich, nicht, was du denkst, was du fühlst, wie du mich siehst, wie du beurteilst, was ich gesagt und getan habe, mein Geständnis (…). Wir wissen nichts voneinander, dachte ich. Wir kennen einander nicht. Menschen, die am Abgrund stehen, kennen sich nicht."
Stig Saeterbakkens Prosa ist eine Rebellion gegen die aus seiner Sicht unerträgliche Gespaltenheit der Existenz. Sie beklagt den Abgrund, der sich zwischen Menschen auftut, die sich liebten. Sie ist durchdrungen von Sehnsucht nach Ganzheit, sowie nach der Möglichkeit, sich neu zu erfinden. "Was einfach nur andauert", heißt es an einer Stelle, "hat etwas Unerträgliches an sich."
Als Karl Meyer das mysteriöse slowakische Haus betritt, in der Hoffnung, seinen Seelenqualen ein Ende bereiten zu können – oder einfach nur, wie auch immer, an ein Ende zu kommen, sieht er sich mit einer Person konfrontiert, vor der er sich wohl am meisten gefürchtet hat – mit sich selbst.
"Ich drehte mich halb um, so weit es sich in diesem Schlauch von einem Raum bewerkstelligen ließ. Das Einzige, was die, die sich vor mir in diesem Haus aufgehalten haben, fanden und was sie verrückt gemacht hat, waren sie selbst, ihre gespenstische Leere, dachte ich, plötzlich von einer Verzweiflung so sehr überwältigt, dass ich einen Schrei nicht zurückhalten konnte, lang gezogen und so fremd wie von einem anderen Menschen."
Stig Sæterbakken: "Durch die Nacht".
aus dem Norwegischen von Karl-Ludwig Wetzig
DuMont Buchverlag, Köln. 287 Seiten, 22 Euro.