Donnerstag, 28. März 2024

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Strategie gegen islamistischen Terror
"Sicherheitsbehörden müssen nahtlos zusammenarbeiten"

Eine Lektion aus den Attentaten von Paris im Jahr 2015 sei, dass europäische Geheimdienste und Sicherheitsbehörden ihre Informationen teilen müssen, sagte der Terrorismus-Experte Peter Neumann im Dlf. Als positive Beispiele nannte er den Einsatz von Frontex oder das neue Entry-Exit-System an den EU-Außengrenzen.

Peter Neumann im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 13.11.2020
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Die Attentate von Paris im November 2015 wurden vor allem in Brüssel geplant. Diese Tatsache machte unter anderem nochmals deutlich, dass eine Zusammenarbeit der europäischen Sicherheitsbehörden bei der Terrorismusbekämpfung dringend nötig ist. Der Terrorismusexperte Peter Neumann ist überzeugt davon, dass seit den Attentaten einiges erreicht wurde – und dass die Netzwerke des sogenannten Islamischen Staates in den Folgejahren erkannt wurden. Trotzdem brauche die Veränderung Zeit.
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Neumann betonte auch, dass man sowohl in Europa als auch an den Außengrenzen gegen Terrorismus kämpfen müsse. Terrorismus koste nicht nur Menschenleben, sondern habe auch das Ziel, Gesellschaften einzuschüchtern.
Jörg Münchenberg: Herr Neumann, Europa ist in den letzten Jahren ja von zahlreichen Anschlägen erschüttert worden – Paris 2015, später die Anschläge von Brüssel, Nizza, Breitscheidplatz bis hin zu den jüngsten Terrorattacken. Da stellt sich ja schon die Frage nach der Lernkurve bei den Sicherheitsbehörden.
Peter Neumann: Ja. - Sicherheitsbehörden sind ja im Prinzip wie große Tanker auf See. Das sind mächtige Operationen, wo es einige Zeit braucht, bis man sie in die richtige Richtung bringt. Aber wenn sie dann in die richtige Richtung schwimmen, dann tun sie es mit großer Macht. Und ich glaube, das haben wir schon beim sogenannten Islamischen Staat geschafft. Da waren die 2014/15 überrascht und hilflos, vor allem von der Größe des Phänomens. Aber ich denke schon, dass in den darauffolgenden Jahren die Netzwerke erkannt wurden, dass man angefangen hat, besser zusammenzuarbeiten, und dass in den allermeisten Staaten das Problem, wie es 2014/15 existiert hat, so nicht mehr existiert. Es ist ja auch so, dass der Islamische Staat seine Infrastruktur verloren hat, dass dieses sogenannte Kalifat mehr oder weniger zerstört wurde. Die Gefahr, wie sie heute existiert und wie wir sie in Frankreich und in Wien gesehen haben, ist eine geringere und ist eine andere, als sie 2014/15 existiert hat.
Münchenberg: Trotzdem heißt es ja jetzt auch von den Staats- und Regierungschefs, die Zusammenarbeit bei den Sicherheitsbehörden solle weiter verbessert werden. Das klingt ja schon eher danach, dass diese Zusammenarbeit noch immer nicht richtig funktioniert, dass die Dienste sich vielleicht teilweise immer noch nicht gegenseitig trauen.
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"Europol hat auch mehr Kompetenzen bekommen"
Neumann: Das stimmt und das ist auch eine nicht endende Aufgabe. Vor 2015, vor diesen Anschlägen in Paris war praktisch gar nichts passiert in diesem Bereich. Nach 2015 haben dann die Franzosen sehr stark gepusht und es ist einiges passiert. Europol hat auch mehr Kompetenzen bekommen. Aber das ist eine Aufgabe, die niemals zu Ende sein wird, und es gibt natürlich bei Nachrichtendiensten, bei Geheimdiensten, die geheim operieren, immer Vorbehalte dagegen, zum Beispiel Daten über Gefährder zu teilen. Aber die Lektion aus Paris ist ja, dass ein solches Teilen von Informationen stattfinden muss, denn die Anschläge in Paris waren Anschläge, die von Brüssel aus vorbereitet wurden von Attentätern, die aus beiden Staaten kamen, und trotzdem haben selbst die französischen und belgischen Dienste nicht routinemäßig und systematisch zusammengearbeitet. Wenn es überhaupt irgendeine Lektion aus diesen Anschlägen gibt, dann ja wohl die, dass wir in Europa, wo wir mehr oder weniger offene Grenzen haben, dass da dann auch die Sicherheitsbehörden nahtlos zusammenarbeiten müssen. Das ist letztlich eine Konsequenz aus Schengen.
"Es hat sich schon einiges geändert"
Münchenberg: Herr Neumann, Stichwort offene Grenzen. Es ist ja auch wieder im Gespräch, die Außengrenzen besser zu schützen. Das war der Tenor Anfang der Woche bei einigen Staats- und Regierungschefs, die über die Konsequenzen aus den jüngsten Terroranschlägen gesprochen haben. Da muss man ja schon auch sagen: Das alles wurde ja schon mal diskutiert, ohne dass sich scheinbar etwas groß geändert hat.
Neumann: Es hat sich schon einiges geändert. Es gibt jetzt Frontex, es gibt jetzt alle möglichen Maßnahmen auch elektronischer Art. Sie haben in Ihrem Bericht gerade von dem Entry-Exit-System berichtet, das jetzt eingeführt wird. Das sind alles positive Maßnahmen, wo man sich häufig dabei denkt, wenn man das hört – ich bin jetzt auch kein Experte, was Grenzsysteme angeht -, aber wo man sich häufig denkt, komisch, dass das noch gar nicht existiert hat. Und in der Tat ist auch das eine Aufgabe, wo es ständig weitergehen muss und wo man ständig Verbesserungen finden muss, und auch hier ist es so, dass es natürlich auch hier Eifersüchtigkeiten gibt nationaler Kompetenzen, europaweiter Kompetenzen, wer ist dafür zuständig, wer hat das letzte Sagen und so weiter.
Münchenberg: Wenn man jetzt mal den Anschlag von Wien herausgreift, der Mann war Österreicher, der Mann war polizeibekannt. Ebenso der Täter von Dresden. Beide waren ja als Gefährder schon eingestuft. Das hat jetzt mit dem besseren Schutz der Außengrenzen gar nichts zu tun.
Neumann: Richtig! Aber es ist natürlich eine Mischung, denn der Attentäter aus Nizza war einer, der erst vier Wochen zuvor nach Europa gekommen ist und eigentlich hätte wieder in sein Heimatland zurückkehren sollen. Wir haben es natürlich mit Attentätern zu tun, die in Europa geboren und aufgewachsen sind, zum Teil zweite oder dritte Generation, und wir haben auf der anderen Seite es mit Leuten zu tun, die erst vor kurzem zu uns gekommen sind. Es geht eben leider darum, dass man versuchen muss, wirklich an allen Fronten zu kämpfen, und dass es nicht möglich ist, sich nur auf ein einziges Profil oder einen einzigen Typus festzulegen.
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Münchenberg: Aus Sicht des Terror-Experten – sind offene Grenzen in Europa, Stichwort Schengen, so wie wir es jetzt kennen, noch möglich?
Neumann: Innerhalb Europas, meinen Sie?
"Wenn man offene Grenzen einführt, hat das eine Konsequenz"
Münchenberg: Ja, innerhalb Europas.
Neumann: Ich denke, die sind schon möglich. Aber es gibt hier eine ganz wichtige Lektion und die Lektion ist: Wenn man offene Grenzen einführt, wenn man die Schlagbäume entfernt, dann hat das natürlich eine Konsequenz und dann gibt es auch eine Implikation und eine Hausaufgabe. Die Grenzen zu öffnen, das ist der Nachtisch. Das ist das, wovon alle profitieren, was sich alle wünschen. Aber es gibt auch eine Hausaufgabe. Die Hausaufgabe ist, dass man umgekehrt dafür sorgen muss, dass die Sicherheitsbehörden innerhalb Europas dann wirklich nahtlos zusammenarbeiten. Denn wenn Kriminelle und wenn Terroristen quasi diese Grenzen ignorieren können, dann muss es auch so sein, dass auch für Sicherheitsbehörden im Prinzip diese Grenzen nicht mehr existieren. Als wir Schengen eingeführt haben, haben wir im Prinzip die Grenzen geöffnet, haben den Nachtisch zuerst gegessen, ohne die Hausaufgabe gemacht zu haben, und das ist, glaube ich, jetzt die Aufgabe, dass man das immer enger macht, dass man dafür sorgt, dass die Sicherheitsbehörden immer enger zusammenarbeiten innerhalb Europas, wo es diese Grenzen nicht mehr gibt. Denn keiner will ja Schengen abschaffen. Wenn man Schengen beibehalten möchte, dann muss man auch dafür sorgen, dass es funktioniert.
"Terrorismus hat einen gesellschaftlichen und politischen Effekt"
Münchenberg: Herr Neumann, ein wichtiger Ansatz ist ja auch Islamismus bekämpfen, bevor er überhaupt entsteht. Der französische Lehrer Paty hatte das ja versucht, bevor er ermordet worden ist. Geht am Ende nicht doch diese perfide Logik von solchen Attentätern auf, weil jetzt zum Beispiel engagierte Lehrer doch Angst um ihr Leben haben müssen?
Neumann: Hundertprozentig, und das ist die Gefahr beim Terrorismus. Es wird ja immer gesagt oder immer kritisiert, wir kümmern uns zu viel um den Terrorismus, weil da sterben eigentlich nur ganz wenige Menschen, verglichen mit Straßenverkehr oder mit anderen Sachen. In Wirklichkeit ist es natürlich so, dass Terror nicht nur das Ziel hat, Leute umzubringen, sondern auch Gesellschaften zu terrorisieren und einzuschüchtern. Es sind diese politischen, gesellschaftlichen Effekte, die hier wichtig sind. Wenn ich höre, dass sich in Frankreich kein Lehrer mehr traut, über Meinungsfreiheit zu sprechen im Unterricht, dann ist das auch eine Konsequenz des Terrorismus. Deswegen muss Terrorismus bekämpft werden – nicht nur, weil da Leute dabei umkommen, das ist natürlich schlimm, aber weil es einen gesellschaftlichen und politischen Effekt hat, weil es unsere Gesellschaften verändert.
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"Es gibt viel zu wenig deutschsprachige Imame"
Münchenberg: Nun ist auch ein Vorschlag, zum Beispiel die Ausbildung der Imame stärker an die Ländern zu koppeln, in denen sie dann auch predigen, dass man auch den Einfluss ausländischer Staaten und Institutionen auf die Moscheen einschränkt. Tut da Deutschland aus Ihrer Sicht zu wenig?
Neumann: Ich finde den Ansatz natürlich richtig und der Ansatz ist ja in Deutschland auch akzeptiert. Es gibt mittlerweile in Deutschland Fakultäten, islamische Fakultäten, theologische Fakultäten, die auch Imame ausbilden. Aber es gibt für die im Prinzip keine Gemeinden. Das bedeutet, es gibt erst mal viel zu wenig deutschsprachige Imame und es gibt letztlich auch keine Moschee-Vereine, die die so annehmen würden. Die Art und Weise, wie das in Deutschland zum Beispiel organisiert ist, ist in vielen Fällen dennoch nach wie vor über ethnische Zusammengehörigkeit und in vielen Fällen über Ditib. Da müsste man einen neuen Deal finden mit der Türkei. In dem Moment, wo man sagt, wir wollen nicht mehr, dass die Türkei die Imame liefert, dann müsste man natürlich den Ersatz haben, und den hat man momentan noch nicht, weil man nicht genügend deutschsprachige Imame produziert. Das heißt auch hier: Im Prinzip ist das Problem erkannt, aber die Lösung, die bisher geliefert wurde, war zu zäglich und einfach quantitativ auch nicht genug.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.