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Soziale Dramen und Psychoanalyse

Von Rassismus in den USA erzählt der Klassiker "Weißer Terror", vom Schulalltag in den Banlieus das französische Sozialdrama "La vie scolaire". Und die Doku "Freud intim" entwickelt ein Porträt des Vaters der Psychoanalyse aus dessen Briefkorrespondenz.

Von Hartwig Tegeler | 29.04.2020
Ein Mann im weißen Hemd sieht einen anderen Mann mit weißem Anzug und Stange in der Hand, hasserfüllt an
William Shatner und Leo Gordon in "Weißer Terror" von Roger Corman (www.imago-images.de (Courtesy Everett Collection))
Ein Mann kommt in eine Stadt tief im Süden der USA. "Diese kleine Stadt hier wird brennen."
Adam Cramer will etwas zurecht rücken, denn hier ist ein Skandal geschehen – aus seiner Sicht und der der Einwohner: Afroamerikanische Schüler sollen die High School besuchen dürfen, nachdem die Rassentrennung aufgehoben wurde.
Adam Cramer: "Wenn die schwarze Welle uns überflutet, dann sind die Neger die Machthaber hier."
William Shantner als rassistischer Agitator
Der rassistische Agitator wird gespielt von William Shatner, drei Jahre bevor er als Captain Kirk die Brücke des Raumschiffes Enterprise betrat. Er wiegelt die Bevölkerung auf. Am Ende wird ein junger Afroamerikaner der Vergewaltigung an einer weißen Mitschülerin bezichtigt und der weiße Mob will den Schüler aufhängen. Und nur das Eingreifen einer anderen Weißen kann den Lynchmord verhindern.
Dass die weißen Rassisten den Agitator aus der Stadt jagen, weil sie sehen, dass sie einen Schwarzen fast zu Unrecht ermordeten, mag aus heutiger Sicht naiv wirken. Damals – 1962 – allerdings war diese Kino-Geschichte den Produzenten ein zu heißes Eisen.
Roger Corman, Altmeister des US-Independent-Kinos, hatte Probleme, das nötige Geld für den Film aufzutreiben. Schließlich wurde "Weißer Terror" ein finanzieller Misserfolg. Die Kritik jedoch war begeistert. Die "New York Times" schrieb, Corman habe "einen Meilenstein in der Debatte um Integration gesetzt, der bisher nicht gewagt worden sei".
"Weißer Terror" ist bis Mitte Mai in der arte-Mediathek zu sehen.
Ein Flötenchaos ist zu hören. Wir befinden uns in einer Schule in Seine-Saint-Denis – Norden von Paris, Banlieu, prekäre Wohn- und Lebensverhältnisse. Wenn es dann gegen Ende in der gleichen Musikklasse so schön klingt, dann ist das kein Zeichen für ein hollywoodreifes Happy End.
Schulalltag im Pariser Banlieu
Denn mit einem guten Ende wartet "La vie scolaire – Schulalltag" von Medhi Idir und Grand Corps Malade nicht auf. Eher mit der Haltung: Du hast keine Chance, also nutze sie!
Samir, die junge Pädagogin aus der Provinz, jetzt hier im sozialen Brennpunkt, versucht, den Schwierigkeiten der Schüler gerecht zu werden und ihnen Unterstützung zukommen zu lassen. Janis beispielsweise, dem Verweigerer, clever, schlagfertig, aber gefangen im Gefühl eigener Wertlosigkeit. Auf die Frage, wofür er sich interessiert, antwortet er: "Also, um ehrlich zu sein, weiß ich das nicht. Abgesehen von Fifa-Spielen, Filme und Serien gucken, für nicht viel."
Semidokumentarisch und spannend
Mathieu Kassovitz erzählte 1995 in "Hass" vom Leben der Jugendlichen in den Banlieus, Ladj Ly in "Die Wütenden" von der Arbeit der Polizei in diesen sozialen Brennpunkten. Und auch der Schulalltag war schon in Laurent Cantets "Die Klasse" von 2008 Thema wie jetzt in "La vie Scolaire".
Was diese Filme so außergewöhnlich macht, das ist ihr semidokumentarischer Ton, und dass es ihnen gelingt, die soziale Realität nicht glattzubügeln, sondern sie zur spannenden Kinoerzählung werden zu lassen. "La vie Scolaire" von Medhi Idir und Grand Corps Malade ist ein schöner Film, der Hoffnung auf die Wirkung von Bildung verbreitet, die die Lehrer den Schülern vermitteln.
"La vie Scolaire" im Stream bei Netflix.
Selbstauskunft des Vaters der Psychoanalyse: "Ich bin am 6. Mai 1856 zu Freiberg in Mähren geboren, in einem kleinen Städtchen der Tschechoslowakei."
Dann zogen die Freuds zunächst nach Leipzig. Erinnerungen. Assoziationen. Das Vergangene wird in der Assoziation lebendig. Wie hier jetzt im Film. David Tebouls Doku "Freud intim" ist ein Streifzug in Texten, Brieftexten, die Freud mit Kollegen und Freunden geführt hat.
Freud auf der Couch
1895 kamen Freuds "Studien über Hysterie" heraus, im gleichen Jahr wie die Psychoanalyse wurde seine Tochter Anna geboren. Das ist der andere Strang der Doku - die Texte der Tochter, die beim Durchsehen der Korrespondenz des Vaters im Londoner Exil ein fiktives Zweigespräch mit ihm führt.
"Mein Vater pflegte zu sagen, Biographen seien Lügner", schreibt Anna.
Mit seinem Film verstößt David Teboul natürlich gegen dieses Diktum Freuds. Der sprach ja der Öffentlichkeit das Recht ab, mehr über seine Kämpfe, Enttäuschungen und Erfolge zu erfahren. Das Schöne aber, im Akt des Widersetzens gegen Freud: Filmemacher Teboul verfährt in seiner Schwarz-Weiß-Doku wie die Psychoanalyse, die ja auf die Enthüllung durch Sprechen und Assoziieren setzt.
Wir hören also Freud in seinen Briefen und sehen einen assoziativen Bilderfluss - Menschen, Landschaften -, denen wir uns halb aufmerksam hingeben dürfen, während wir ganz aufmerksam dem Vorgelesenen zuhören. Netflix streamt zurzeit die achtteilige Serie "Freud" als in "Blut getauchte[n] Backenbart-Operette", wie ein Kritiker schrieb. Weit weg von solch Spekulativen ist David Tebouls Doku.
"Freud intim" ist kostenfrei bis in den Juni hinein in der arte-Mediathek zu sehen.