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Streit um Rechtsstaatlichkeit
"Polen wegen Verstoßes gegen die Grundwerte verurteilen"

Im Streit zwischen der EU-Kommission und Polen über die Rechtsstaatlichkeit in dem Land fordert der Grünen-Europaabgeordnete Jan-Philipp Albrecht Konsequenzen. Er hält die Änderungen der Regierung in Warschau für nicht ausreichend und plädiert dafür, Polen wegen eines Verstoßes gegen die Grundwerte zu verurteilen.

Jan-Philipp Albrecht im Gespräch mit Sandra Schulz | 21.02.2017
    Der Grünen-Europapolitiker Jan-Philipp Albrecht.
    Der Grünen-Europapolitiker Jan-Philipp Albrecht. (picture alliance / dpa / Bernd Thissen)
    Dies könne der EU-Rat mit Vier-Fünftel-Mehrheit beschließen, sagte der Vorsitzende des Innen- und Justizausschusses des Europäischen Parlaments im DLF. Zur letzten Option, Polen das Stimmrecht zu entziehen, werde es nicht kommen, betonte Albrecht. Dafür sei keine Einstimmigkeit unter den Mitgliedsstaaten zu erreichen.
    Konkret kritisierte Albrecht, dass zentrale Fragen, wann Richter des Amtes enthoben werden, nicht zufriedendstellend geklärt seien. "Die Regierung hat in bestimmten Fällen die Möglichkeit, Richter zu entlassen und kann eigene Kandidaten vorschlagen". Da greife man in den normalen Zyklus der "unabhängigen Ernennung" ein. Albrecht äußerte die Sorge, dass die Regierung auf diese Weise eine Mehrheit beim Verfassungsgericht schaffen könne, die dann der eigenen Linie folge.

    Das Gespräch in voller Länge:
    Sandra Schulz: Das war ein ausgesprochen ungewöhnlicher Vorgang, als sich im vergangenen Herbst die Präsidenten zweier europäischer Verfassungsgerichte zu Wort gemeldet haben in einem Doppelinterview mit "Süddeutscher Zeitung" und der französischen Zeitung "Le Monde". Bundesverfassungsgerichtspräsident Voßkuhle und der Präsident des französischen Verfassungsrats Fabius, die haben sich da sehr besorgt gezeigt über die polnische Verfassungsreform, die die rechtskonservative Regierungspartei PiS direkt nach ihrer Wahl Ende 2015 durchgesetzt hat, die viele Europäer als Einschnitt in die verfassungsgerichtliche Freiheit kritisieren und als eine Verwischung der Gewaltenteilung.
    Andreas Voßkuhle sprach von einem Irrweg, den die polnische Regierung im Umgang mit dem Verfassungsgericht eingeschlagen habe, und auch in Brüssel sind viele besorgt. Die Europäische Kommission hat schon vor etwa einem Jahr ein Verfahren in Gang gebracht. Das heißt formal ein Verfahren zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips. Sie hat mehrfach Fristen gesetzt, mehrfach abgewartet. Bis gestern sollte die polnische Regierung noch mal erklären, wie sie die Bedenken ausräumen will, hat aber vorher schon mehrfach in Warschau erklärt, wir sehen überhaupt kein Problem.
    Darüber habe ich vorhin mit Jan-Philipp Albrecht gesprochen. Für Bündnis 90/Die Grünen ist er stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres im Europäischen Parlament. Ich habe ihn gefragt: Wenn die polnische Regierung jetzt erklärt, dass alles gut sei, was denn eigentlich das Problem ist.
    Jan-Philipp Albrecht: Das Problem liegt hauptsächlich an der Benennung von Richtern und der Organisation des Gerichts. Da wird von der EU-Kommission kritisiert, dass möglicherweise Richter einfacher jetzt durch das neue Richtergesetz enthoben werden können, die der Regierung im Grunde genommen unliebsam sind, weil sie möglicherweise Gesetze der Regierung für verfassungswidrig erklären.
    Schulz: Hat das die Vorgängerregierung den nicht gemacht?
    Albrecht: Nein, wir haben diese Art von Enthebung von Richtern in Europa bislang nicht gesehen, und auch nicht in Polen, und hier, muss man durchaus sagen, hat diese PiS-Partei und insbesondere ihr Parteichef Kaczynski eine Politik an den Tag gelegt, die weit von dem weg ist, was wir als Grundwerte an Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union bisher für selbstverständlich erachtet haben.
    "Dahinter steht natürlich dann auch ein Drohpotenzial"
    Schulz: Es gibt aber auch ganz viele Punkte, an denen die polnische Regierung der EU-Kommission ja entgegengekommen ist. Es ist diese umstrittene Vorschrift gestrichen worden, wonach die Verfahren ihrem Eingang nach hätten bearbeitet werden müssen, was viele Kritiker als Behinderung des Gerichts gesehen haben. Und es reicht jetzt doch auch die einfache Mehrheit bei Entscheidungen, was die Verfassungsrechtler ja auch als einen wichtigen Punkt gesehen haben. Dieses Entgegenkommen reicht Ihnen nicht?
    Albrecht: Nein. Das Problem ist, dass zentrale Fragen etwa wie die Möglichkeit, Richter zu entheben, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht haben und nicht mehr eine bestimmte Eignung vorweisen, oder wenn sie zum Beispiel ein sogenanntes unethisches Verhalten aufwerfen, zum Beispiel Gesetze der Regierung für verfassungswidrig erklären wollen, dass in solchen Fällen die Regierung die Möglichkeit hat, diese Richter zu entlassen und selber Richter vorzuschlagen. Damit greift man in diesen normalen Zyklus unabhängiger Richterernennung und Entlassung ein und kann damit dafür sorgen, dass die Mehrheiten im Gericht der eigenen Linie folgen. Dahinter steht natürlich dann auch ein Drohpotenzial, das diese Richter möglicherweise deutlich in ihrer unabhängigen Handlungsfähigkeit einschränkt.
    Schulz: Wenn das nach wie vor so ist, wenn das alles rechtsstaatlich so heikel zugeht in Polen, wie unbefriedigend ist es da, dass das Europäische Parlament und ja auch die Europäische Kommission im Grunde nicht viel mehr machen können, als das immer wieder zu kritisieren?
    Albrecht: Das ist sehr unbefriedigend. Ich meine, wir haben jetzt die Möglichkeit, vor dieser letzten Option, das Stimmrecht zu entziehen, zu der es wahrscheinlich nicht kommen wird, weil keine Einstimmigkeit bei den Mitgliedsstaaten dazu zu erreichen ist. Davor gibt es noch die Möglichkeit, dass der Rat mit Vier-Fünftel-Mehrheit Polen verurteilt wegen eines Verstoßes gegen die Grundwerte.
    Das wäre auch wichtig, dass das jetzt geschieht. Nur man muss sagen, dass es wirklich fehlt, dass wir in der Europäischen Union ein alltägliches Verfahren der Überprüfung und auch der Sanktionierung solcher Verstöße gegen rechtsstaatliche Grundsätze haben, und wir müssen daran arbeiten. Es hat dazu viele Vorschläge gegeben, wie ein solcher Grundrechts- und Rechtsstaatsmechanismus weiter konkretisiert werden könnte, und hier müssen wir als Europäische Union auch gemeinsam daran arbeiten, dass letztendlich die Durchsetzung des EU-Rechts mehr Gewicht wieder bekommt.
    Schulz: Aber das Verfahren, das jetzt läuft, das hat man ja geschaffen, nachdem es dieses Beispiel aus Ungarn gab. Da konnte wirklich die Europäische Kommission oder die europäischen Institutionen konnten gar nichts machen. Danach hat man gesagt, solche Fälle müssen wir künftig ausschließen. Warum hat man dann wieder so einen zahnlosen Tiger geschaffen?
    Albrecht: Es ist zunächst einmal wichtig, dass dieses neue Verfahren jetzt auch entsprechend genutzt wird und zu Ende geführt wird. Dann muss man aus den Unzulänglichkeiten lernen, und eine der Unzulänglichkeiten ist, dass es unterhalb dieses fast nicht zu erreichenden Stimmrechtsentzuges wenig Sanktionsmöglichkeiten für solche Verstöße gibt, sondern im Grunde genommen nur bei Vertragsverletzungsverfahren ganz normaler Gesetze die Möglichkeit der Sanktionen besteht, aber dass auch nur dort, wo es auch EU-Kompetenzen gibt. In diesem Bereich, wo zum Beispiel Richter benannt werden, da gibt es keine großen EU-Kompetenzen.
    Da geht es um die Grundwerte und bei einem Verstoß gegen diese Grundwerte, da ist die Sanktionierung sehr, sehr schwer. Und das sollte geändert werden, denn wir sind eine Rechtsgemeinschaft, die dann natürlich auf allen Fragen basiert, die eine Rechtsgemeinschaft ausmachen, und nicht nur auf denjenigen, wo wir uns europäisch gemeinsam geeinigt haben, sondern auch vor allen Dingen auf denen, wo wir im Grunde genommen davon ausgehen, dass wir alle einen gemeinsamen Kanon haben an Grundregeln, die ja auch im Europarat vereinbart wurden.
    Albrecht: Müssen eine intensivere Diskussion führen, wofür Europa eigentlich steht
    Schulz: Herr Albrecht, wie einig ist sich Europa denn über diese europäischen Werte?
    Albrecht: Es gibt auf jeden Fall politische Kräfte, die diese in Frage stellen, aber das ist auch nicht neu. Dass die PiS-Partei in Polen eine solche, für uns rechtsstaatlich ja doch eher ferne Position einnimmt, das hat sie auch schon in der Vergangenheit in Polen. Dass sie jetzt so viel Zustimmung erhält, das ist das Problem. Dass auch in anderen Ländern wie in Ungarn eine solche rechtspopulistische Strömung, nationalistische Strömung wieder Zustimmung erhält, das ist ja eigentlich das Grundproblem. Deswegen müssen wir darüber eine intensivere Diskussion führen, wofür Europa eigentlich steht und welche Grundwerte es verkörpern soll und dass das natürlich auch in den anstehenden Wahlen eine zentrale Rolle spielen muss und dass wir dafür sorgen müssen, dass in Europa der Dialog über diese Grundwerte, was Europa ausmacht, stärker in die nationale Öffentlichkeit tritt.
    Schulz: Jetzt haben wir diese Aufregung beobachtet über US-Präsident Donald Trump, der den Richter, der den Einreisestopp gestoppt hat, als sogenannten Richter bezeichnet hat oder verunglimpft. Und in Polen haben wir die Situation, dass das Verfassungsgericht jetzt schon unzählige Urteile gesprochen hat, die die Regierung schlichtweg nicht akzeptiert, die sie behandelt, als wären sie gar nicht in der Welt. Ist diese europäische Kritik und auch diese europäische Diskussion, die Sie da anmahnen (da sind Sie ja jetzt auch nicht der erste), ist das nicht ein bisschen wohlfeil?
    Albrecht: Nein, das ist nicht wohlfeil. Das ist absolut notwendig, dass wir diese Diskussion führen. Und gerade der Blick in die USA zeigt ja, dass wir möglicherweise viel zu wohlfeil immer in andere Länder zeigen, während wir uns vor der eigenen Haustür in der Europäischen Union mit unseren eigenen Problemen nur halbherzig beschäftigen, und ich glaube, da müssen wir aufpassen. Es ist absolut richtig, dass wir auch in anderen Ländern darauf achten, dass die rechtsstaatlichen Grundsätze eingehalten werden.
    Aber wenn wir nicht auch gerade in der Europäischen Union, wo wir eigentlich ja mittlerweile fast schon bundesstaatähnlich organisiert sind, darauf achten, dass diese grundlegenden Regeln eingehalten und durchgesetzt werden, dann haben wir wirklich im Grunde genommen einen Doppelstandard und sind da auch nicht mehr wirklich in der Lage, die Probleme zu bewältigen, die wirklich dringend sind. Da muss es jetzt ein Umdenken geben. Wir müssen stärker europäisch innenpolitisch uns um diese Fragen kümmern und die müssen auch eine größere Rolle jetzt in den Wahlkämpfen spielen, damit wir letztendlich nicht außer Acht lassen, dass es hier auch um unsere rechtsstaatlichen Grundsätze geht. Denn das, was in Polen passiert, und das, was in Ungarn passiert, das hat am Ende auch Einfluss darauf, was hier in Deutschland passiert. Wir sind über die Europäische Union gemeinsam in einer politischen, in einer rechtsstaatlichen Union.
    Schulz: Jan-Philipp Albrecht, der stellvertretende Vorsitzende des Justiz- und Innenausschusses im Europäischen Parlament, heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk. Ganz herzlichen Dank dafür.
    Albrecht: Danke auch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.