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Streit um Stasi-Akten zwischen Schily und Birthler

10.07.2001
    Meurer: Die Entscheidung des Berliner Verwaltungsgerichts, wonach die Stasi-Akten über Helmut Kohl ohne seine Zustimmung nicht herausgegeben werden dürfen, schlägt immer noch hohe Wellen. Die Leiterin der Gauck-Behörde, Marianne Birthler, ignorierte gestern Mittag ein Ultimatum, das ihr Bundesinnenminister Otto Schily gesetzt hatte. Frau Birthler solle ab sofort Akten von Personen des öffentlichen Lebens nur noch dann herausgeben, wenn die Betroffenen zuvor ihre Zustimmung erteilt hätten. Schily hat vorerst aber nun auf eine Anweisung verzichtet. Er will noch einmal versuchen, mit Frau Birthler eine gütliche Lösung zu erreichen. Was sagen die einstigen Bürgerrechtler? - Wolfgang Ullmann war Mitbegründer von "Demokratie jetzt", später Bundestags- und Europaabgeordneter für die Bündnis-Grünen. Guten Morgen Herr Ullmann!

    Ullmann: Guten Morgen Herr Meurer.

    Meurer: Stehen Sie voll hinter Frau Birthler?

    Ullmann: Aber entschieden! Ich bin entsetzt über den Stil von Herrn Schily, den ich ja auch persönlich kenne. So kann man nicht miteinander umgehen. Ich denke, eine Entschuldigung ist die erste Voraussetzung, ehe er wieder mit ihr reden kann.

    Meurer: Wie erklären Sie sich, dass Otto Schily so massiv vorgegangen ist?

    Ullmann: Das kann ich mir nur so erklären, dass Herr Schily den Sinn des Stasi-Unterlagengesetzes noch nicht richtig verstanden hat. Das ist offenkundig die Lage vieler Politiker, die aus Westdeutschland stammen und nicht verstanden haben, dass dieses Gesetz für uns einer der Ecksteine der neuen deutschen Demokratie und ein Hauptsieg der friedlichen Revolution gewesen ist.

    Meurer: Was ist denn für Sie der Sinn des Stasi-Unterlagengesetzes?

    Ullmann: Entschuldigen Sie, ich kann Sie leider im Moment schlecht verstehen.

    Meurer: Ich habe Sie gerade gefragt, was ist denn für Sie der Sinn des Stasi-Unterlagengesetzes?

    Ullmann: Das steht im Gesetz selbst: die politische, historische und juristische Aufarbeitung. Die Bestrebungen, die jetzt von Teilen der CDU und Teilen der SPD im Gange sind, würden auf die völlige Verhinderung der politischen Aufarbeitung hinauslaufen.

    Meurer: Also faktisch würde das Stasi-Archiv praktisch geschlossen?

    Ullmann: Ja beziehungsweise es würde so behandelt wie jedes andere Archiv. Das ist nun genau das, was wir nicht gewollt haben. Aber man muss doch daran erinnern, dass ein deutscher Bundestag diesem Willen zugestimmt hat und eine Regierung, an deren Spitze Helmut Kohl gestanden hat.

    Meurer: Vielleicht war das Gesetz von damals aber nicht verfassungskonform?

    Ullmann: Das ist eine erlaubte Frage. Die kann aber nicht das Berliner Verwaltungsgericht beantworten. Ich glaube nicht, dass man hier feststellen kann, dass die Grundrechte, sagen wir etwa der Datenschutz, der freilich gar nicht in unserer Verfassung steht, was ich immer geändert haben wollte - - Wie gesagt, das ist eine Frage an die Adresse der Karlsruher Richter.

    Meurer: Was sagen Sie zur Argumentation des Berliner Verwaltungsgerichts, Opferschutz habe Vorrang?

    Ullmann: Das ist seine Interpretation. Die ist aber durch das Gesetz nicht gedeckt. Frau Birthler und ihre juristischen Berater haben hier völlig Recht. Das ist herrschende Lehre, das ist im Kommentar von Herrn Geiger nachzulesen. Das Berliner Gericht hat ein rechtsirriges Urteil gefällt.

    Meurer: Wie sollte Ihrer Meinung nach mit den Stasi-Akten von Politikern umgegangen werden?

    Ullmann: So wie bisher! Ich sehe gar nicht ein, was dort für eine neue Lage eingetreten sein soll, außer der, dass nun einmal Helmut Kohl ins Gespräch gebracht wird, aber das hat doch nichts mit dem Stasi-Unterlagengesetz zu tun, sondern damit, dass er Gegenstand eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses ist. Auch dafür gibt es ganz klare Regeln im Gesetz.

    Meurer: Wie erklären Sie sich, dass es zehn Jahre lang gedauert hat, bis ein Verwaltungsgericht sozusagen das Gesetz moniert?

    Ullmann: Das hängt damit zusammen, dass jetzt offenbar wird, dass es wie gesagt in beiden großen Parteien, CDU und SPD, offenbar Kräfte gibt, die eine nationale Front der Schlussstrichpolitik aufmachen wollen. Das war früher Hauptpolitik der PDS und es ist schon ein wunderbares Ereignis, dass jetzt ein Kern dieser Schlussstrichpolitik in einer rot/grünen Bundespolitik sitzt und dafür auch noch aus der SPD, aber auch aus Teilen der CDU Unterstützung erhält. Das hätte ich mir allerdings nicht vorstellen können, dass diese PDS-Politik einmal in dieses andere Lager hinüberwandert.

    Meurer: Wollen die Politiker der großen Parteien sich selber schützen?

    Ullmann: Wenn man sieht, wie sie sich jetzt über das geltende Recht und über das Gesetz hinwegsetzen, dann bekommt man freilich eine Neigung zu fragen, wie groß müssen die politischen Interessen sein, die hier wirksam sind, dass man so klar sich im Widerspruch zum Gesetz bewegt.

    Meurer: Entsteht für Sie der fatale Eindruck, für Westdeutsche gebe es mehr Opferschutz als für Ostdeutsche?

    Ullmann: Der könnte entstehen. Er entsteht zur Zeit noch nicht, aber was ich sagen möchte ist: Es ist dasselbe Problem, das wir auch bei unseren ostdeutschen Zeitgenossen hatten. Genauso wie jetzt von Herrn Schily wurde ja damals argumentiert, als das Gesetz noch im Entstehen war. Genauso wurde gegen mich argumentiert, als ich die Ergebnisse der Überprüfung von Volkskammerabgeordneten im Plenum vortragen wollte. Das ist genau dieselbe Stimme. Da unterscheiden sich die Ostdeutschen und die Westdeutschen überhaupt nicht.

    Meurer: Frau Birthler, die Leiterin der Gauck-Behörde, hat ja vor einigen Monaten schon einen Kompromiss eingeführt, nämlich dass in Abweichung zur Vergangenheit Personen des öffentlichen Lebens darüber informiert werden, wenn jemand ihre Akte einsehen möchte. War das ein guter Kompromiss?

    Ullmann: Es war ein Kompromiss, der aber vom Gesetz nicht erzwungen wurde, der aber zeigt, dass die Behördenleiterin alles tun will, um sich im Rahmen des Gesetzes und auf der anderen Seite im Rahmen des Personen- und Datenschutzes zu bewegen.

    Meurer: War es ein taktischer Fehler von Marianne Birthler?

    Ullmann: Das will ich jetzt nicht beurteilen. Ich will nur sagen, Frau Birthler vorzuwerfen, dass sie den Daten- und Personenschutz nicht ernst nimmt, ist völlig abwegig.

    Meurer: Manche sagen, Herr Ullmann, mit Joachim Gauck wäre Otto Schily nicht so umgesprungen. Ist Frau Birthler schwächer als Herr Gauck?

    Ullmann: Nein, nein. Das denke ich auch. Hier sieht man aber, wie gewisse deutsche Politiker mit Frauen meinen umgehen zu können. Er wird sich bei Frau Birthler freilich immer wieder täuschen.

    Meurer: Wolfgang Ullmann, Mitbegründer von "Demokratie jetzt", bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk zum Streit um die Herausgabe von Stasi-Akten. - Herr Ullmann, besten Dank und auf Wiederhören!

    Link: Interview als RealAudio