Samstag, 20. April 2024

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Streit um Wahlrechtsreform
Roth warnt vor drohendem Kollaps des Bundestags

Claudia Roth mahnt zu einer raschen Einigung in der Wahlrechtsreform. Wenn der Bundestag noch größer werde, sei Gesetzesarbeit nicht mehr machbar, sagte die Bundestags-Vizepräsidentin (Bündnis 90/Die Grünen) im Dlf. In der Klimapolitik warf Roth der Bundesregierung „Handlungsunfähigkeit“ vor.

Claudia Roth im Gespräch mit Barbara Schmidt-Mattern | 02.02.2020
Claudia Roth, Vizepraesidentin des Deutschen Bundestags (Bündnis 90/Die Grünen) in Bielefeld 2019
Im Kampf gegen den Rechtsextremismus forderte Roth eine "Taskforce" im Bundesinnenministerium, an die bedrohte Menschen sich wenden können (imago / Sven Simon)
Claudia Roth drängt auf eine schnelle Einigung in der Kontroverse. Der Bundestag sei bei einer Richtzahl von 598 Parlamentariern mit derzeit 708 Mitgliedern zu groß. Das Parlament müsse arbeitsfähig bleiben, mahnte die Bundestags-Vizepräsidentin an.
Wenn Ausschüsse die Größenordnung eines Landtags annähmen, sei es sehr schwer, an Gesetzen zu arbeiten. "Dann ist das eigentlich gar nicht mehr machbar", betonte Roth. Schon heute sei der Bundestag weltweit eines der größten Parlamente: "Ich glaube wir sind auf Platz zwei hinter dem Parlament in China, was ich nicht wirklich als Parlament bezeichnen möchte."
Die Sitze des Bundestags in Berlin im Reichstagsgebäude durch die Glaskuppel von oben gesehen.
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Der Bundestag platzt aus allen Nähten – eine Folge des komplizierten deutschen Wahlrechts. Alle Fraktionen fordern deshalb eine Reform. Doch die Debatte kommt seit Jahren nicht vom Fleck. Was steckt hinter dem politischen Feilschen der Parteien?
Der Einwand der Union, zu große Wahlkreise würden die Bürgernähe behindern, ist für Roth der Versuch "auf Teufel komm raus, am Wahlkreis festzuhalten". Roth räumte zwar ein, dass es nicht einfach sei, Wahlkreise zu verkleinern, mahnte jedoch an: "Wir müssen eine Antwort finden auf einen drohenden Kollaps, wenn wir über 800 Kolleginnen und Kollegen im Bundestag hätten."
Die Grünen-Politikerin Claudia Roth sitzt zusammen mit Dlf-Hauptstadtkorrespondentin Barbara Schmidt-Mattern im Hauptstadtstudio des Deutschlandfunk
Grünen-Politikerin Claudia Roth im Gespräch mit Dlf-Hauptstadtkorrespondentin Barbara Schmidt-Mattern (Deutschlandradio / Ansgar Rossi)
Im Kampf gegen den Rechtsextremismus forderte Roth eine "Taskforce" im Bundesinnenministerium, an die bedrohte Menschen sich wenden können. Nötig sei auch eine "bessere Aufstellung der Sicherheitsbehörden". Zudem kritisierte sie das aktuelle Waffenrecht in Deutschland als "immer noch viel zu locker". Nötig sei außerdem "ein Demokratieförderungsgesetz, das all diejenigen abfedert, die für unsere Demokratien und unseren Rechtsstaat eintreten", so Roth.
Roth: Bundesregierung in der Klimapolitik nicht handlungsfähig
Scharf ins Gericht ging Roth mit der Klimapolitik der Bundesregierung. Explizit kritisierte sie den Gesetzentwurf zum Kohleausstieg. Man könne nicht einerseits sagen, "wir müssen raus aus der Kohle, weil sie ein Turbo ist für die Klimakrise" und gleichzeitig in Datteln ein neues Kohlekraftwerk ans Netz zu nehmen.
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"Die Bundesregierung zeigt sich leider nicht handlungsfähig in einer Frage, die nicht ein Nebenschauplatz ist, sondern die eine ganz zentrale Aufgabe für eine Industrienation", sagte Roth. Deutschland müsse der Welt beweisen, "dass die ökologisch-soziale Transformation eine Voraussetzung ist, der Klimakrise etwas entgegenzusetzen und die Voraussetzung neue Arbeitsplätze zu schaffen".
Die Fridays-for-Future-Bewegung habe ein klares Anliegen, sagte Roth, deswegen werde die junge Generation trotz nachlassender Medienpräsenz der Fridays-Demonstrationen "auch nicht einfach aufgeben. Meine Sorge ist, dass eine große Frustration entsteht, dass die jungen Leute sagen, wir haben jetzt ein Jahr demonstriert, und die Politik liefert nicht." Sie forderte Geduld ein:
"Da kann ich den Jungen allerdings nur sagen: Gut, ein Jahr demonstrieren ist lang. Aber manchmal braucht‘s eben Geduld und viel Beharrlichkeit, damit sich tatsächlich politisch etwas ändert." Es brauche eine Verbreiterung der Bewegung hin zu Gewerkschaften und Kirchen, und mehr Druck auf die Parteien, "damit sie was umsetzen."
Zum Elend in den griechischen Flüchtlingslagern sagte Roth: "Was die Europäische Union im Bereich humanitäre Schutzverantwortung nicht tut, ist wirklich eine Schande für Europa." Sizilien sei jahrelang alleingelassen worden, jetzt auch Griechenland: "Das ist eine humanitäre Katastrophe. Das ist ein EU-Hotspot, das ist europäische Flüchtlingspolitik. Ich schäme mich dafür, denn Europa hat mal den Friedensnobelpreis gewonnen. Wenn man sich diese Orte anschaut, dann haben sie es nicht verdient."

Schmidt-Mattern: Hier im sonnigen Studio des Deutschlandfunks, im Hauptstadtstudio im Regierungsviertel begrüße ich ganz herzlich bei uns im Deutschlandfunk Interview der Woche Claudia Roth.
Roth: Danke schön, ich begrüße Sie auch.
Schmidt-Mattern: Und ich würde gerne beginnen mit – ja – einem Ärgernis, glaube ich, das am Freitag dieser Woche im Bundestag stattgefunden hat. Da war wieder einmal die Regierungsbank unbesetzt, während der Plenarwoche. Sie haben öfter schon kritisiert als Bundestagsvizepräsidentin die mangelnde Präsenz der Bundesregierung im Parlament. Was ist da jetzt konkret am Freitag vorgefallen?
Roth: Es geht ja darum, dass die Exekutive dem Parlament gegenüber ihren Respekt zeigt, denn das Parlament ist der Souverän. Wir sind die Legislative, wir sind die Vertreterinnen und Vertreter der Bevölkerung. Und da kann es nicht sein, dass bei Kerndebatten am Donnerstagmorgen, am Freitagmorgen, dass da keine Minister, keine Ministerinnen anwesend sind. Und am Freitag war der Fall, dass wir in der Kernzeit um 9 Uhr ein sehr spannendes Thema aufgesetzt hatten, und zwar die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik, dass der Außenminister als Erster geredet hat, aber dass er dann nach einer halben Stunde wortlos gegangen ist. Und das geht einfach nicht.
Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) spricht bei der Debatte im Bundestag über den Haushalt des Auswärtigen Amtes 2020.
Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) im Deutschen Bundestag (dpa-news / Sven Braun)
Schmidt-Mattern: Ist das eine Entwicklung, von der Sie sagen würden, dass sie zunimmt, dass Sie immer öfter auf der Regierungsbank Kabinettsmitglieder vermissen? Oder ist das eigentlich schon lange ein Problem des Deutschen Bundestags?
Roth: Es ist schon ein Problem des Deutschen Bundestags, schon lange. Jetzt muss ich natürlich auch sagen, es gibt unendlich viele Termine, Verpflichtungen. Wenn ich nur an die Kanzlerin denke, die dann in Brüssel oder bei anderen wichtigen Terminen ist. Aber das Kabinett hat ja viele Minister, Ministerinnen und die müssen vor Ort im Deutschen Bundestag sein. Und der Deutsche Bundestag hat die Mittel, die Minister dann zu zitieren. Und das ist passiert am Freitag.
"Wir haben 709 Abgeordnete. Eigentlich ist die Richtzahl 598"
Schmidt-Mattern: Nun wird man sowieso in diesen Tagen den Eindruck nicht ganz los, dass ein bisschen Krisenstimmung bei Ihnen im Hohen Haus herrscht. Seit langem jetzt bemühen Sie sich um die Wahlrechtsreform. Es gibt auch ganz dringlichen Anlass dafür, nämlich der viel zu große Bundestag. Manche würden sogar sagen, er ist überbläht mit 709 Abgeordneten seit der letzten Bundestagswahl im Jahr 2017. In der aktuellen Stunde, auch in dieser Woche am vergangenen Mittwoch, haben alle Fraktionen darüber noch einmal diskutiert, dass der Bundestag sich verkleinern muss. Nur kommt anscheinend ja keine Einigkeit zustande, wie das geschehen soll. Vielleicht können Sie zunächst mal sagen: Warum muss der Bundestag eigentlich verkleinert werden?
Roth: Na ja, also, ich glaube, der Bundestag braucht ja eine Arbeitsfähigkeit. Die Ausschüsse brauchen eine Arbeitsfähigkeit. Und wenn Ausschüsse Größenordnungen annehmen, also der Wirtschaftsausschuss oder Finanzausschuss oder Arbeit und Soziales, die so groß sind wie ein Landtag, dann ist es sehr, sehr schwer, konkret eine Gesetzesarbeit zu vollziehen. Dann ist es eigentlich gar nicht mehr machbar. Und wir sind heute schon eins der größten Parlamente auf der Welt. Ich glaube, wir sind heute schon auf Platz zwei hinter dem Parlament in China, was ich nicht wirklich als Parlament bezeichnen möchte. Wir haben 709 Abgeordnete. Eigentlich ist so die Richtzahl 598. Das ist schon viel, aber wir haben eben noch mal über 100 Kollegen mehr dazubekommen. Und es ist schon bemerkenswert, dass es die Oppositionsfraktionen waren, dass es die Fraktion der FDP, der Linken, von Bündnis 90/Die Grünen waren, die den Vorschlag gemacht haben, wir müssen die Zahl der Wahlkreise verkleinern.
Schmidt-Mattern: Und genau da sagt ja nun beispielsweise die Unionsfraktion, das geht nicht, wir können nicht einfach mal so die Wahlkreise verkleinern. Das heißt im Umkehrschluss, dass drei Landkreise zu einem Wahlkreis beispielsweise zusammengefasst werden. Da geht ja alle Bürgernähe flöten.
Roth: Ach, das … ja, das ist natürlich der Versuch, auf Teufel komm raus am Wahlkreis festzuhalten. Natürlich ist es nicht einfach, Wahlkreise zu verkleinern oder zu verändern. Das ist nicht einfach, aber wir müssen doch eine Antwort finden auf eine drohende, ja, auf einen drohenden Kollaps, wenn wir über 800 Kolleginnen und Kollegen im Bundestag hätten.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier während seiner Rede auf dem Fünften World Holocaust Forum in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem am 23. Januar 2020. anlässlich des 75. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz
Rede des Bundespräsidenten in Yad Vashem Der Bundespräsident habe bei seiner Rede zum Holocaust-Gedenktag Klischees verwendet, weil sie unvermeidbar seien, so Germanist Karl-Heinz Göttert. Er betonte aber den hohen Stellenwert der Rede wegen des wiedererstarkten Rechtsextremismus.

Schmidt-Mattern: Nun ist das Hohe Haus ja nicht nur ein Ort des Streitens, sondern auch ein Ort der Erinnerung. Auch in dieser Woche hat stattgefunden im Deutschen Bundestag die Gedenkstunde zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus. Und Frank-Walter Steinmeier hat unter anderem in seiner Rede gesagt, seine Sorge sei, dass wir die Vergangenheit inzwischen besser verstehen als die Gegenwart. Da denkt der Bundespräsident an den Überfall auf die Synagoge in Halle, an den ermordeten Regierungspräsidenten in Kassel. Ist das vielleicht die größere Herausforderung inzwischen, die Vergangenheit immer im Blick zu haben, aber stärker auch auf die rechtsextremen Tendenzen der Gegenwart zu gucken?
Roth: Ja, wir müssen uns erinnern, aber das Erinnern heißt nicht, dass man sich in der Vergangenheit aufhält, sondern das Erinnern muss immer ein Erinnern sein in das Heute und in das Morgen und viel mehr als vielleicht in den vergangenen Jahren – viel, viel mehr. Denn wir haben riesengroße Probleme. Wir haben ein Rechtsextremismus-Problem. Wir haben ein Antisemitismus-Problem, Antiziganismus, Homophobie, Sexismus, Rassismus. Das ist das Problem in unserem Land. Jetzt muss wirklich gehandelt werden.
"Wir brauchen endlich eine Task Force Rechtsextremismus"
Schmidt-Mattern: Was heißt das denn konkret, Frau Roth?
Roth: Das heißt staatliches Handeln. Wir brauchen endlich eine Task Force Rechtsextremismus. Viele, viele Menschen fühlen sich bedroht, stehen möglicherweise auf Feindeslisten, auf Todeslisten, wissen überhaupt nicht, an wen sie sich wenden können. Das heißt, im Innenministerium braucht es eine Einrichtung, wo Menschen sich dran wenden können. Wir brauchen endlich eine bessere Aufstellung der Sicherheitsbehörden, Analysefähigkeit, Polizei. Da braucht es deutliche Nachbesserung. Menschen müssen effektiv geschützt werden. Wissen Sie, wir haben nicht nur Antisemitismus in unserem Land, sondern wir haben immer mehr Menschen, die Angst haben in diesem Land – Juden, Jüdinnen, Muslime, Obdachlose, Schwule, Lesben. Das heißt: Wie schützen wir Menschen effektiv vor rechtsextremer Bedrohung und Gewalt? Das heißt: Waffenrecht, immer noch viel zu locker. Das heißt, wir haben ein Vollzugsdefizit bei Delikten. Und wir haben immer und immer wieder das Problem, dass Opferberatungsstellen nicht wissen, ob sie im nächsten Jahr noch gefördert werden. Wir brauchen endlich ein Demokratieförderungsgesetz, das dauerhaft absichert all diejenigen, die für unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat eintreten. Und die Bedrohung, die geht ja immer weiter. Es sind CDUler, die genauso bedroht werden. SPD. Es gibt Kolleginnen und Kollegen, die sich überlegen, ob sie überhaupt noch mal kandidieren sollen – auf kommunaler Ebene.
Dr. Andreas Hollstein (Buergermeister von Altena, CDU) in der ZDF-Talkshow maybrit illner am 03.03.2016 in Berlin
Gewalt gegen Politiker - "Man muss auch Mut und Haltung zeigen" Hass, Hetze und Gewalt gegen Amtsträger - Andreas Hollstein hat es erlebt. Die Zivilgesellschaft müsse deutlich machen, dass sie das nicht akzeptiere, sagte der Bürgermeister von Altena im Dlf. Er wurde 2017 mit einem Messer angegriffen.
Schmidt-Mattern: Auch bei den Grünen?
Roth: Es gibt bei uns auch die Debatte – ich habe das jetzt im Kommunalwahlkampf in Bayern erlebt – wo sich Menschen, Eltern Sorge machen, wenn sie aktiv sichtbar sind, ob das möglicherweise eine Gefährdung für ihre Kinder bedeutet. Und das kann doch nicht wahr sein. Ich meine, wir haben den Mord an Herrn Lübke erlebt. Wir erleben, dass Bürgermeister zurücktreten. CDU-Bürgermeister in Kerpen sagt: "Ich habe Angst um meine Familie. Ich trete nicht mehr an." Ein anderer Bürgermeister in Kamp-Lintfort sagt: "Ich muss mich bewaffnen." Ja, wo sind wir denn hingeraten? Das ist der gezielte Angriff auf unsere Demokratie, auf eine wehrhafte demokratische Zivilgesellschaft. Und deswegen richtig, sich zu erinnern an wichtigen Gedenktagen, aber jetzt muss das Handeln kommen.
Schmidt-Mattern: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit Claudia Roth, Bundestagsvizepräsidentin und Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen.
Roth: Vielleicht, wenn ich darf … darf ich einen Punkt noch machen, was ich sehr bedauere? In dieser Woche im Deutschen Bundestag in Berlin waren Gäste da, die Nachfahren waren von Opfern des Nationalsozialismus. Und es wurde ein Antrag eingebracht zu einem Gesetz zur Wiedergutmachung im Staatsangehörigkeitsrecht. Der wurde eingebracht unter anderem von den Grünen. Es wurde ein Antrag eingebracht aber auch von der FDP-Fraktion. Und es wäre ein unmittelbares Signal gewesen zu sagen: Ja, wir ermöglichen ein Recht auf die deutsche Staatsbürgerschaft von nachfolgenden Generationen ehemaliger Opfer des Nationalsozialismus, denn was ist das für ein Geschenk, wenn Menschen, deren Vorfahren Opfer des Nationalsozialismus waren, sagen, wir würden gerne die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen, wir würden Deutsche sein. Leider ist den Gesetzesentwürfen nicht zugestimmt worden
"Erlasse sind kein Rechtsanspruch"
Schmidt-Mattern: Mit welchem Argument?
Roth: Ich kann mir nur vorstellen, dass man gesagt hat, man stimmt keinem Antrag zu, der aus der Opposition kommt. Man hat gesagt: Wir haben ja schon Erlasse. Aber Erlasse sind kein Rechtsanspruch. Und deswegen bedauere ich das sehr. Man hat eine Chance vertan zu zeigen, auch in Deutschland, wo es Antidemokraten gibt, dass es einen demokratischen Konsens gibt, der über die Fraktionsgrenzen hinweggeht.
Blick auf einen  Helikopter, der Waldbrände aus der Luft löscht
Waldbrände in Australien - Verheerende Folgen für Tiere und PflanzenNoch immer brennen die Wälder im Südosten Australiens. Dort, wo die Feuerwalzen ganze Landstriche verwüstet haben, suchen Ökologen nun nach überlebenden Tieren und Pflanzen.
Schmidt-Mattern: Es gibt noch ein ganz anderes Thema, wo manche den gesellschaftlichen Frieden auch gefährdet sehen. Das ist das Thema Klimaschutz und vor allem der Kohleausstieg, den die Bundesregierung jetzt nach monatelangem Warten, muss man sagen, auf den sie sich geeinigt hat in dieser Woche im Kabinett. Nun gibt es bereits Ankündigungen aus der Szene der Umweltaktivisten. Ende Gelände kündigt zum Beispiel an, dass man im Mai demonstrieren will in Datteln in Westfalen, wo das neue Steinkohlekraftwerk dann in Betrieb genommen wird. Im August will man im Hinblick auf die Dörfer, die noch abgebaggert werden rund um Garzweiler 2 auf die Straße gehen. Ist dieser Frieden, den die Kohlekommission vor einem Jahr weitgehend erreicht hatte, ist der jetzt wieder gefährdet?
Roth: Also, ich glaube nicht, dass es da eine Spaltung gibt in der Gesellschaft oder eine große Polarisierung. Denn es ist doch gerade dieses Jahr 2020, das begonnen hat, wie es eigentlich nicht hätte beginnen sollen, wo jeder von uns die Bilder gesehen hat von einer Erde, die brennt. Wir haben alle die Bilder gesehen in Australien, wie die Erde brennt, wo ein Gebiet, das so groß ist wie Bayern und Baden-Württemberg kaputtgeht, wo über eine Milliarde Tiere – das sind unfassbare Zahlen – sterben, dieses Feuer nicht überleben. Und dann wird doch deutlich, die Klimakrise ist real und nicht irgendeine Fiktion. Ich glaube, da gibt es eine große, große Mehrheit, die das anerkennt und sieht. Und es war richtig, wenn denn die Kohle ein Turbo ist für die Klimakrise, alles zu versuchen, so schnell wie möglich aus der Kohle auszusteigen. Es war richtig, dass es eine Kohlekommission gab, die sich sehr bemüht hat, mit Vertreterinnen und Vertretern aus ganz unterschiedlichen Bereichen sich zusammenzusetzen und zu einem Kompromiss zu kommen. Der Kompromiss wäre jetzt … für mich als Grüne war er, ja, er war ein Kompromiss. Er ging nicht so weit, wie ich mir das gewünscht hätte, aber er war ein Kompromiss. Und er hätte genau befrieden können. Der ist vor einem Jahr fertig geworden und dann ist er erst mal liegengelassen worden.
Eon-Kraftwerk Datteln 4 beim Dortmund-Ems-Kanal
Datteln 4 ist das wohl umstrittenste Kraftwerk in Deutschland. Es darf trotz des Kohleausstiegs ans Netz gehen. (imago / blickwinkel / S. Ziesex)
Schmidt-Mattern: Ja, aber dass nun tatsächlich ein neues Kohlekraftwerk, wie etwa in Datteln, in Betrieb genommen wird, ist ja ein offener Widerspruch zur Kommission.
Roth: Ja, das ist freundlich ausgedrückt – ein offener Widerspruch. Man hat ein Jahr nichts gemacht und jetzt hat die Bundesregierung tatsächlich den Ausstiegspfad des Kohlekompromisses definitiv verlassen. Man hat wertvolle Zeit vergeudet. Man sagte, es dauert viel zu lang. Und dann zu sagen, wir müssen raus aus der Kohle, weil sie ein Turbo ist für die Klimakrise, und dann in Datteln neu einzusteigen, das hat nun mit verantwortlicher Politik überhaupt nichts mehr zu tun. Und gleichzeitig aber das, was wir doch brauchen, die Erneuerbaren Energien – Wind und Sonne und, und, und, alles drauf und dran zu setzen, dass das möglich wird, auch das passiert nicht. Und das Letzte, das völlig absurd ist, dass man auch noch mit unfassbar viel Geld sozusagen alte Kohlekraftwerke jetzt auch noch finanziert oder kompensiert, obwohl es gar nicht zu erwarten gewesen wäre. Ich glaube, die Bundesregierung zeigt sich leider nicht handlungsfähig. Sie zeigt sich nicht handlungsfähig in einer Frage, die nicht ein Nebenschauplatz ist, sondern die eine ganz zentrale Aufgabe ist für eine Industrienation Bundesrepublik Deutschland. Wir müssen beweisen der Welt, dass wir es können, dass wir als Industrienation zeigen können, dass die ökologisch-soziale Transformation eine Voraussetzung ist, der Klimakrise was entgegenzusetzen und die Voraussetzung, neue Arbeitsplätze zu schaffen.
"Nicht die Politikverdossenheit fördern"
Schmidt-Mattern: Und wir haben eine Jugendbewegung, spätestens seit letztem Jahr, die versucht genau darauf immer wieder hinzuweisen und auch wirklich Druck zu machen – die Fridays-for-Future-Bewegung. Manche sagen inzwischen, die jungen Leute die hätten ihren Zenit überschritten, weil sich das so ein bisschen verbraucht, dieser Protest jeden Freitagvormittag auf der Straße. Sie schütteln den Kopf. Das heißt, Sie teilen diese These nicht? Aber das mediale Interesse zumindest, das hat ja deutlich abgenommen.
Roth: Ja, aber bei den Jugendlichen … also, zu Recht, ich meine, für die junge Generation, das muss ich jetzt einfach so sagen, das ist überhaupt nicht übertrieben, das ist eine Überlebensfrage. Es ist eine Überlebensfrage. Und es ist nicht nur eine Überlebensfrage auf pazifischen Inseln, die jetzt schon drohen zu versinken oder in Äthiopien oder im Tschad, in vielen Regionen im globalen Süden, wo die Klimakrise jetzt schon zu über 30 Millionen Klimaflüchtlingen geführt hat, sondern es ist auch eine Überlebensfrage hier bei uns. Und ich glaube nicht, dass die junge Generation einfach aufgeben wird. Meine Sorge allerdings ist, dass eine große Frustration entsteht, dass die jungen Leute sagen, wir haben jetzt ein Jahr demonstriert, jeden Freitag und die Politik liefert nicht, dass das zu einer Demokratieverdrossenheit führt. Und wir müssen eben zeigen, dass wir als demokratischer Rechtsstaat die Herausforderungen annehmen und nich und nicht Demokratieverdrossenheit fördern. Und da kann ich den Jungen dann allerdings nur sagen: Na ja, gut, ein Jahr demonstrieren ist lang, aber manchmal braucht es eben Geduld und viel Beharrlichkeit, damit sich tatsächlich politisch etwas ändert. Es gibt einen schönen englischen Satz, der heißt: There are no jobs on a dead planet. Was nützt uns gute Arbeit, wenn es überhaupt keinen Planeten mehr gibt? Die Kirchen in Deutschland, die eine hohe Bindewirkung haben, die sehr eindeutig sind. Also, wir brauchen eine Verbreiterung der Bewegung und natürlich auch Druck auf die Parteien, dass sie nicht nur Sonntagsreden machen, sondern dass sie tatsächlich was umsetzen.
Die winterlich gekleidete Klimaaktivistin Greta Thunberg steht bei einer Kundgebung vor einer weißen Fahne, auf der das runde Logo "Fridays for Future" zu sehen ist. Im Hintergrund sind Häuser zu erkennen.
Klimaschutz 2019 - Die Gretas werden weiter gebraucht
Die Fridays-for-Future-Bewegung, die Hitzesommer und die Wahlerfolge der Grünen hätten erst uns als Gesellschaft und dann auch die Bundesregierung wachgerüttelt, kommentiert Barbara Schmidt-Mattern im Dlf. Im Jahr 2020 könne diese nun vieles besser machen.
"Was die Europäische Union im Bereich humanitäre Schutzverantwortung nicht tut, ist eine Schande"
Schmidt-Mattern: Claudia Roth, lassen Sie uns bitte zum Schluss auf die Außenpolitik eingehen. Es hat gerade in der vorletzten Woche wieder Demonstrationen von tausenden Bewohnern auf den griechischen Ägäis-Inseln gegeben. Die haben skandiert: Wir wollen unsere Inseln und unser Leben zurück. Angesichts der völlig überfüllten Lager mit tausenden, zehntausenden geflüchteten Menschen. Jetzt plant die griechische Regierung sogenannte schwimmende Barrieren. Die sollen Migrantenboote an der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland verhindern. Wie bewerten Sie diesen Vorstoß?
Roth: Ich sage, was die Europäische Union im Bereich humanitäre Schutzverantwortung nicht tut, ist wirklich eine Schande für Europa. Wenn man sich anschaut, wie jahrelang tatsächlich in Italien Sizilien alleingelassen worden ist, als wäre das Mittelmeer nur ein italienisches Meer. Wenn ich mir anschaue, wie seit Jahren jetzt Griechenland alleingelassen wird, und ich war auf Lesbos, ich war in diesem Lager im letzten Jahr. Da war es schon total überfüllt mit über 10.000 Menschen. Heute sind über 40.000 Menschen. Das ist eine humanitäre Katastrophe. Das ist aber nicht nur ein griechisches Lager dort, sondern das ist ein EU-Hotspot. Das ist europäische Flüchtlingspolitik. Ich muss Ihnen sagen, ich schäme mich dafür, denn Europa hat mal den Friedensnobelpreis bekommen. Ich weiß nicht, wenn man sich diese Orte anschaut, dann haben sie es nicht verdient. Und deswegen ist die Verweigerung, auch die wir in dieser Woche im Deutschen Bundestag gehört haben, dem Vorschlag zuzustimmen, dass wenigstens, wenigstens unbegleitete Kinder, Minderjährige aus dieser Hölle herausgeholt werden, die ganz besonders verletzlichen Gruppen – Schwangere, alte, kranke Menschen – rausgeholt werden aus dieser Hölle, zu uns gebracht werden.
Der CDU-Politiker Alexander Mitsch ist Vorsitzender der sogenannten Werte-Union.
Habeck-Vorschlag zu Aufnahme von Flüchtlingskindern - "Wir würden wieder eine Ausnahmesituation schaffen"
Alexander Mitsch von der konservativen Werteunion hält nichts vom Vorschlag des Grünen-Chefs Robert Habeck 4.000 Kinder aus griechischen Flüchtlingslagern nach Deutschland zu holen. Es solle keine weitere ungeregelte Migration geben.
Schmidt-Mattern: Ihr Parteivorsitzende, Robert Habeck, hat ja genau das vor Weihnachten schon vorgeschlagen.
Roth: Robert Habeck hat das vorgeschlagen.
Schmidt-Mattern: Er wurde in einem Zeitungsinterview gefragt, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, ungefähr 4.000 Kinder, die unbegleitet in den Lagern sind, nach Deutschland zu holen. Das war ein Vorstoß. Danach hat man von den Grünen nie wieder gehört, dass sie da drangeblieben sind an dieser Forderung. Warum nicht?
Roth: Na ja, nein, das stimmt nicht. Wir haben sogar einen Antrag eingebracht im Deutschen Bundestag, wo wir das noch mal präzisieren. Es gab von der grünen Fraktion eine Veranstaltung, wo Vertreter der Seebrücke da waren. Wir haben über 120 Gemeinden, Städte, die sagen: Ja, wir wollen Menschen aufnehmen. Wir haben mit Herrn Pistorius, dem Innenminister aus Niedersachsen, eine Landesregierung, die sagt: Wir wollen aufnehmen. Nur der Innenminister und die Bundesregierung sagt: Nein, das tun wir nicht.
Ein Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos im Regen: Menschen laufen durch Matsch, Müll liegt rum.
Flüchtlingslager in Griechenland - Warum der EU-Türkei Deal nicht funktioniertMehr als 40.000 Geflüchtete leben in den Lagern der griechischen Ägäis-Inseln - obwohl nur Platz für rund 7.500 Menschen ist. Die katastrophale Lage zeigt vor allem eins: Der EU-Türkei-Deal ist gescheitert.

Schmidt-Mattern: Frau Roth, ich nehme da einen gewissen Widerspruch wahr zwischen dem, was die Bundespartei, Ihre Bundespartei fordert – sei das jetzt Robert Habeck oder auch Sie als Bundespolitikerin der Grünen – und dem, was die Grünen in den Ländern, wo sie mitregieren, also in Regierungsverantwortung sind, praktisch umsetzen. Aus Hamburg, da wurde abgestimmt über diesen Vorstoß von Boris Pistorius, den Sie eben schon genannt haben, dass man Länderaufnahmeprogramme macht, die Initiative ergreift. Niedersachsen wollte da voranschreiten und Menschen von den griechischen Inseln holen. Berlin und Thüringen haben dem zugestimmt. Hamburg hat dagegen gestimmt, auch die Grünen in Hamburg. Ist da dann doch im Wahlkampf vor den Bürgerschaftswahlen der Wahlkampf wichtiger als der humanitäre Auftrag?
Roth: Also, ich bedauere, wenn das so rüberkommt. Ich weiß, das war ein Antrag der Linken und dem ist nicht zugestimmt worden. Denn es entscheidet ja in dem Fall nicht der Bundesrat, ob die Menschen kommen können, sondern das entscheidet das Bundesinnenministerium. Und ich erwarte natürlich auch von den Hamburgern, wenn es denn zu einer Aufnahme kommt, oder wenn die 5.000 Menschen, die wir jetzt in dieser Woche ja noch mal gefordert haben, dass die nach Deutschland kommen können, dass es da eine Verteilung gibt, weil es die Städte und Gemeinden und Stadtteile gibt in ganz Deutschland, seien sie nun CDU regiert oder SPD oder grün regiert. Es gibt die Bereitschaft.
Schmidt-Mattern: Also, sollte Katharina Fegebank im Wahlkampf jetzt zu den Bürgerschaftswahlen offensiv damit werben?
Roth: Ich finde, man kann und muss als Grüne offensiv mit Humanität werben, denn der gesunde Menschenverstand und das europäische Verantwortungsbewusstsein muss doch deutlich machen, dass wir Griechenland und die Menschen, die Bewohner in Lesbos auch nicht allein lassen können. Ich habe die Bürgermeister auch getroffen. Und die sind natürlich völlig überfordert von dieser Situation. Das ist übrigens auch die Folge dieses EU-Türkei-Deals, der nicht nur asylrechtswidrig ist, weil die Türkei alles andere als ein sicherer Drittstaat ist, sondern voll auf Lasten Griechenlands geht. Und da muss Hilfe passieren. Und, wenn ich dann höre von CDU-Kollegen im Deutschen Bundestag, dass sie sagen, ja, aber da würde ein Pull-Faktor entstehen. Das kann man europäisch … das kann man immer nur.
HANDOUT - 19.01.2020, Berlin: Bundeskanzlerin Angela Merkel (M, CDU) und Heiko Maas (SPD), Außenminister von Deutschland, eröffnen im Bundeskanzleramt die Libyen-Konferenz. Ziel der Konferenz ist ein dauerhafter Waffenstillstand in dem Bürgerkriegsland. Foto: Guido Bergmann/Bundesregierung/dpa - ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung und nur mit vollständiger Nennung des vorstehenden Credits | Verwendung weltweit
Libyen Konferenz in Berlin - Fragiler diplomatischer Erfolg
Es ist gut, dass die EU sich wieder um Libyen kümmert, meint Carsten Kühntopp. Allerdings kann ein Friedensprozess nur gelingen, wenn die Störenfriede in dem Bürgerkriegsland künftig klar benannt werden.
Schmidt-Mattern: Also, dass noch mehr Menschen dazu dann ermutigt werden.
Roth: Ja, das kann man nur europäisch machen. Ja, liebe Leute, es geht um Kinder, es geht um ein europäisches Problem. Wir unterstützen ein europäisches Mitgliedsland, ein Mitgliedsland der Europäischen Union. Und, wenn wir es nicht tun, dann versündigen wir uns tatsächlich an dem, was Humanität bedeutet.
Schmidt-Mattern: Vor genau erst zwei Wochen hat hier in Deutschland in Berlin eine große Libyen-Konferenz stattgefunden mit der Hoffnung hinterher, man könnte das Waffenembargo jetzt endlich durchsetzen und zu einem Waffenstillstand kommen. Wo wir jetzt beim Thema Flucht und Migration sind, nach nicht einmal zwei Wochen werden wieder Waffen geliefert. Schon am ersten Tag wurde die Waffenruhe wohl nach der Konferenz wieder gebrochen. Das heißt, diese Konferenz hat im Grunde nichts gebracht.
Roth: Ja, es ist wirklich … also, eigentlich ist es richtig schrecklich, weil die Initiative für diese Konferenz, die war ja absolut richtig und die kann ich nur aus vollem Herzen unterstützen. Aber der Versuch, die Konferenz zu einem Erfolg zu erklären, ist im krassen Widerspruch zur Realität. Ja, es sind schon wieder Waffen angekommen. Ja, General Haftar hat Angriffe gestartet – Misrata, eine sehr wichtige Stadt. Ja, es sieht so aus, dass der UNHCR in Tripolis, in der Hauptstadt, Flüchtlingslager, schreckliche Orte, verlassen hat, weil es viel zu gefährlich geworden ist. Das heißt, die Hoffnung, die verknüpft war mit der Libyen-Konferenz, ist im Moment leider überhaupt nicht erfüllt. Vielleicht wenigstens positiv, dass die Mitgliedsländer der Europäischen Union nicht mehr an unterschiedlichen Strängen ziehen, wie es vorher war, dass Frankreich und Italien vielleicht zusammenfinden und zusammen für eine politisch friedliche Perspektive kämpfen. Aber die Tragödie in Libyen ist, dass die Gewalt offensichtlich ist, dass es grauenhafte Situationen und Orte gibt für Geflüchtete und Migranten, und dass die Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Libyen auch in diesen Tagen schon dazu geführt hat, dass von türkischen Militärs Geflüchtete nach Libyen zurückgepuscht worden sind. Also, leider auch da eine ganz große schreckliche humanitäre Katastrophe, aber auch ein Erdteil, der dort brennt, mit einer ganz, ganz, ganz großen Gefährdung für die gesamte Region.
Menschen laufen durch Trümmer einer durch Kämpfe und Luftangriffen zerstörten Häuserzeile.
Zerstörungen nach Kämpfen in der Stadt in der Provinz Idlib (dpa-bildfunk/AP/Ghaith Alsayed)
Schmidt-Mattern: Sie wirken da jetzt frustriert. Kann Deutschland überhaupt etwas tun?
Roth: Ja, wir dürfen noch einen Ort nicht vergessen. Am Freitag kamen die Meldungen über eine riesengroße Tragödie, dass nämlich ein Stück weit außerhalb der allgemeinen Aufmerksamkeit ohne Unterbrechung in Idlib, in Syrien, bombardiert wird. Es wird bombardiert. Assad und seine russischen Partner bombardieren, dass 700.000 Menschen auf der Flucht sind. 700.000 Menschen sind auf der Flucht in Richtung Nordwesten Syriens, in Richtung Türkei. Nur, da ist eine Mauer. Erdogan hat eine Mauer errichtet. Wo bitteschön gehen diese Menschen hin? Und Erdogan hat nun vor wenigen Wochen, Monaten völkerrechtswidrig Nordsyrien militärisch besetzt, wo ungefähr 200.000, vor allem kurdische Menschen geflohen sind. Und, wenn dann Frau Merkel zu Erdogan in die Türkei fährt und in Aussicht stellt, dass sich Deutschland am Bau von Unterkünften beteiligt in Nordsyrien, dann ist es natürlich fast schon Komplizenschaft. Denn das würde den Vertreibungsdruck von Menschen, die aus Syrien in die Türkei gekommen sind, erhöhen und würde stillschweigend diese völkerrechtswidrige Aktion legitimieren.
Schmidt-Mattern: Eine schwierige Lage. Claudia Roth, vielen Dank für diese Zusammenfassung und für das Interview der Woche.
Roth: Ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.