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Streitschrift zu Resozialisierung
Gegen die Wegsperrmentalität

Die Hälfte der Häftlinge in Deutschland wird nach ihrer Entlassung wieder straffällig. Nach Ansicht des Soziologen Bernd Maelicke liegt das am Resozialisierungssystem. In seiner Streitschrift "Knastdilemma" liefert er Argumente dafür, dass die Verantwortung der Gesellschaft nicht an den Gefängnismauern endet.

Von Almuth Knigge | 15.06.2015
    Eine unbewohnte Zelle in der Justizvollzugsanstalt Gelsenkirchen (Nordrhein-Westfalen), aufgenommen am 28.07.2014. Foto: Marius Becker/dpa
    Wegsperren oder resozialisieren? Das ist nach Ansicht von Bernd Maelicke das "Knastdilemma". (dpa / Marius Becker)
    "Damals nannten sie mich Glatze. Wegen der Läuse hatte man mir den Kopf rasiert. Wir waren zu fünft, der Junge war alleine (...). Er kam aus der Richtung der Nicolaikirche, wo am Nachmittag noch Markt gewesen war und nahm die Abkürzung durch den Park. Das war sein Fehler."
    Die Gang überfiel den Jungen, trat den am Boden liegenden und ließ ihn dann hilflos liegen. Glatze stand dabei, wie so oft, und spürte - nichts.
    "Das war in Göttingen im Jahr 1953. Ich war gerade 12 Jahre alt und ein emotional verwahrlostes Kind auf der Suche nach Zuwendung und Anerkennung."
    Heute ist das Kind von damals einer der renommiertesten Strafvollzugsexperten Deutschlands. "Da hab ich dann Glück gehabt", erklärt Bernd Maelicke, die Glatze von damals, heute Professor, "ich war von meiner Mutter getrennt, das war so diese Kriegskinderfahrung, die damals viele gemacht haben und da war ich richtig gefährdet und da drohte auch Heimerziehung. Ich hätte damals, wenn ich ins Heim gekommen wäre - ich war am Beginn dieser Karrieren, die wir heute ja auch nach wie vor haben."
    Seitdem wisse er, dass Menschen andere Menschen retten könnten. Maelicke ist sich sicher, die Heimkehr zur Mutter hat ihn gerettet - vor dem Gefängnis, vor dem "Knastdilemma" - so der Titel des Buches, in dem der 74- Jährige einen tiefen Einblick in den deutschen Strafvollzug gibt - und dessen vielfaches Scheitern erklärt.
    "Nachdem ich mich mehr als 50 Jahre ehrenamtlich, hauptamtlich, wissenschaftlich und politisch mit diesem Thema befasst habe, sind meine Haupterkenntnisse und mein Hauptvorwurf, dass wir in Deutschland trotz besseren Wissens - und das empört mich am meisten - nicht alles fachlich Mögliche und Erprobte tun, um Kriminalität zu verhindern und Opfer zu schützen. Die Gesellschaft, die Politik, die Medien sind fixiert auf den vermeintlichen Königsweg des Wegsperrens der Täter hinter Gefängnismauern."
    Gute Beschreibungen der Akteure
    Bernd Maelicke, der Professor, der mal auf der Kippe stand, war früh politisch aktiv. Er war ein Träumer. War überzeugt davon, dass Gefängnisse Zeichen staatlicher Repression sind.
    "Das hat mich seit dem Studium stark interessiert, was eigentlich passiert mit den Menschen im Gefängnis, und wieso man behaupten kann, dass sie in dieser Totalinstitution resozialisiert werden. Weil es ja offenkundig ist, dass was hinter den Mauern stattfindet, was völlig anderes ist, ein völlig anderes Leben als außerhalb der Mauern. Was ist das für eine Idee, die sagt, ich kann in den Mauern die Menschen befähigen und fit machen für das Leben nach der Entlassung, also draußen
    Maelicke kennt sie alle, die Akteure aus der Welt des Verbrechens und der Sühne. Täter, Opfer, Staatsanwälte, Richter, Anwälte, Bewährungshelfer. Und deshalb kann er sie auch so wunderbar beschreiben. Genauso spannend und authentisch wie auch seine Exkurse in Geschichte und Politik. Resozialisierung ist sein Lebensthema. Während des Jurastudiums in Freiburg war er ehrenamtlicher Helfer im Gefängnis, seine Doktorarbeit schrieb er zum Thema "Entlassung und Resozialisierung" - das war 1976, in einer Zeit, in der die Resozialisierung als Gesetzesziel festgeschrieben wurde.
    "Also ich träume immer noch davon, einer gefängnislosen Gesellschaft. Das ist gar keine Frage - aber es gibt weltweit keine - es gibt weltweit keine Gesellschaft ohne Gefängnisse."
    Heute geht es ihm nicht mehr darum, Gefängnisse abzuschaffen. Er will sie verbessern, und er weiß, dass die Opfer und die Gesellschaft fordern, Täter zu bestrafen. Doch er erklärt sehr plausibel in seinem Buch anhand vieler, vieler Lebenswege das "Knastdilemma" - dass man eben nur in Freiheit auch reif für das Leben in Freiheit wird. Dass das Gefängnis ist keine Seelen-Waschmaschine. Es wäscht die Menschen nicht rein. Im Gegenteil - das Gefängnis ist eine Schule des Verbrechens. Die Wölfe kommen nicht als Schafe wieder heraus. 96 Prozent aller Gefangenen werden wieder entlassen. Die Hälfte aller Strafgefangenen wird nach Entlassung wieder kriminell. Jeder Vierte muss zurück in den Knast.
    "So und das zeigt, da ist strukturell was falsch. Wir können nämlich den Vollzug modernisieren wie wir wollen, das ist die Ausgangsthese, der Knast ist was anderes als die freie Gesellschaft. Wir können tolle Behandlungsprogramme in den Gefängnissen schaffen, das ist Trockenschnee, das ist schwimmen ohne Wasser, das hat mit der Realität draußen nachher wenig zu tun."
    Das mulmige Gefühl der Bürger
    In seiner Streitschrift vergisst Bernd Maelicke aber auch nicht den Blick der Mehrheit. Er benennt das mulmige Gefühl, das der brave Bürger angesichts von Straftätern hat. Er beschreibt den Fluchtimpuls vor dem vermeintlich Bösen. Und weil er uns so genau entlarvt, gibt er dem Leser die Chance zum Umdenken, schließt er ihn auf für seine Argumente - gegen die populäre politische Forderung vom "Wegsperren für immer". Auch wenn damit Wahlen gewonnen werden. Denn in Wahrheit hat die Ausstattung des Vollzuges Auswirkungen auf die Sicherheit der Bürger, die potenziellen Opfer:
    "In der Kriminalpolitik entscheiden die Politiker allerdings weitgehend nach Kriterien der politischen Opportunität, nicht nach denen einer systematischen Qualitäts- und Kostenkontrolle."
    Dabei betragen die Gesamtkosten für den Strafvollzug geschätzte drei bis vier Milliarden Euro pro Jahr für ein System, das mehr Probleme erzeugt, als es löst. Das Buch von Bernd Maelicke ist eine lesenswerte wie schonungslose Analyse der Stärken und Schwächen es Resozialisierungssystems - nicht ohne einen Ausweg aufzuzeigen aus dem "Knastdilemma" - und es ist ein Appell:
    "Wir tun gut daran, jeden Straffälligen, der im Gefängnis einsitzt, bereits zu Beginn seiner Freiheitsstrafe auf den Tag seiner Entlassung vorzubereiten und ihm auch danach zur Seite zu stehen. Nicht deshalb, weil wir Mitleid mit dem Täter haben, sondern weil seine Resozialisierung die einzige Möglichkeit ist, weitere Straftaten dauerhaft zu verhindern und weitere Opfer zu schützen."
    Bernd Maelicke: "Das Knast-Dilemma. Wegsperren oder resozialisieren? Eine Streitschrift." Verlag C. Bertelsmann, 256 Seiten, 19,99 Euro, ISBN: ISBN: 978-3-570-10219-0.