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"Bildungsgerechtigkeit in Deutschland hat sich positiv entwickelt"

Es gebe mehr Bildungsaufsteiger als -absteiger, sagt Christina Anger vom Institut der Deutschen Wirtschaft im DLF. Der Einfluss des sozioökonomischen Hintergrunds auf den Bildungserfolg habe nachgelassen.

Christina Anger im Gespräch mit Jörg Biesler | 02.06.2016
    Matheunterricht in einem Oberstufen-Kurs am Gymnasium.
    Auch Schüler, die aus einem schwierigeren Umfeld kommen, haben bessere Bildungsperspektiven. (picture alliance / dpa / Marijan Murat)
    Jörg Biesler: Bildungsgerechtigkeit, das ist ein Thema, das intensiv diskutiert wird, seit die PISA-Studie nachgewiesen hat, dass der Bildungserfolg in Deutschland stark abhängig ist von der sozialen Herkunft. Das ist auch der Tenor einer Vielzahl von Studien seitdem und daran hat sich nicht viel geändert. Auch der aktuelle OECD-Bildungsbericht attestiert zwar Verbesserung, im internationalen Vergleich aber sieht er Deutschland weiter hinten. Die Entwicklung seit der PISA-Studie 2000 hat auch das Institut der Deutschen Wirtschaft untersucht im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung. Heute ist die Analyse erschienen, Christina Anger ist eine der Autorinnen. Guten Tag, Frau Anger!
    Christina Anger: Guten Tag!
    Biesler: Ihre Bewertung fällt positiver aus als die zum Beispiel der OECD. Wie hat sich die Bildungsgerechtigkeit entwickelt in Deutschland in den letzten 16 Jahren?
    Anger: Wir konnten feststellen, dass die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland sich positiv entwickelt hat. Das zeigt sich darin, dass wir mehr Bildungsaufsteiger als Bildungsabsteiger haben und dass auch der sozioökonomische Hintergrund, also deren Einfluss auf die Bildungsergebnisse, der hat nachgelassen. So ist zum Beispiel auch die PISA-Risikogruppe, also die Kinder, die als nicht ausbildungsreif gelten, weil sei eben geringe Kompetenzen haben, die ist gesunken. Und auch besonders konnten sich Kinder mit Migrationshintergrund verbessern in den PISA-Studien. Sodass wir insgesamt zu dem Fazit gekommen sind, dass zwar immer noch Potenzial nach oben da ist, aber dass es in den letzten Jahren doch deutliche Verbesserungen im Bildungssystem gegeben hat.
    Biesler: Ja, Verbesserungen, wie gesagt, hat zum Beispiel auch die OECD Deutschland bescheinigt. Aber ich habe mich gefragt, warum sie nicht so weit geht in ihrer Bewertung wie Sie jetzt gerade. Also, die Verbesserungen, die Sie feststellen, gehen doch deutlich weiter. Und habe dann noch mal geguckt, wie wird denn Bildungsgerechtigkeit eigentlich definiert? Und das ist bei Ihnen deutlich unterschiedlich: Für die OECD heißt Bildungsgerechtigkeit, jedes Kind wird bestmöglich gefördert, nach seinen Fähigkeiten; bei Ihnen lese ich, als eine Verbesserung der Bildungsgerechtigkeit wird angesehen, wenn die Leistung am unteren Ende der Leistungsskala bei den Kindern sich verbessern, ohne dass es am oberen Ende zu einer Verringerung kommt. Das ist schon eine unterschiedliche Definition, oder?
    Startchancengerechtigkeit verbessern
    Anger: Ja, wir sind davon ausgegangen, dass es eben wichtig ist, dass es Verbesserungen gerade im unteren Bereich gibt. Man hat ja in den letzten Jahren gesehen, dass der Abstand zum Beispiel zwischen Kindern mit Migrationshintergrund und den Kindern, die einen deutschen Hintergrund haben, dass der sehr groß war. Und der ist geringer geworden, ohne dass die Kinder, die schon immer gut waren im Bildungssystem, dass die schlechter geworden sind. Es ist eben wichtig, die Startchancengerechtigkeit zu verbessern und auch Kindern, die aus einem schwierigeren Umfeld kommen, eben gute Bildungsperspektiven zu eröffnen.
    Biesler: Auffällig ist ja, dass, wenn man sich die Statistik anguckt, unter den Kindern von Nichtakademikern – das ist ja auch Ihrer Studie zu entnehmen – nur ein Fünftel studiert ungefähr, während es bei den Akademikerkindern um die 70 Prozent sind. Das liegt ja dann nicht an den Fähigkeiten der Kinder, sondern daran, dass sie nicht entwickelt werden, oder?
    Anger: Es stimmt, dass unter den Studierenden immer mehr Kinder aus Akademikerhaushalten kommen. Es gibt allerdings auch viel mehr Akademikerhaushalte, auch die Elterngeneration ist inzwischen besser ausgebildet, sodass es natürlich auch mehr Kinder aus Akademikerhaushalten gibt. Wir haben uns dann mal angeguckt, wie hat sich der Zugang zu den Hochschulen von Nichtakademikerkindern entwickelt, und da festgestellt, dass immer mehr von denen studieren in den letzten Jahren. Das heißt, man kann nicht sagen, dass sich der Zugang für diese Kinder, dass der schwieriger geworden ist. Im Gegenteil, er ist einfacher geworden. Es gibt natürlich immer noch mehr Kinder, die aus Akademikerfamilien studieren, aber trotzdem gibt es da auch eine positive Entwicklung bei den Nichtakademikerkindern.
    Biesler: Na ja, auch wenn es mehr Akademikerhaushalte gibt, aus diesen Akademikerhaushalten gehen halt 70 Prozent der Kinder auf eine Hochschule und kommen zum Abschluss, und aus den Nichtakademikerhaushalten ist die Steigerung, die Sie nachweisen, von 18 auf, ich glaube, 22 Prozent. Also, man muss sagen, es sind 50 Prozent Unterschied beim Studienerfolg zwischen Akademikerkindern und Nichtakademikerkindern. Das ist eine Verbesserung, das will ich gar nicht in Abrede stellen, aber ist es so, dass man sagen kann, die Bildungsgerechtigkeit hat sich insgesamt verbessert?
    Anger: Die hat sich in dem Fall verbessert, weil ja immer gesagt wird … Man guckt sich ja immer die Zusammensetzung der Studierenden an und sagt, da sind immer mehr Akademikerkinder und deshalb wird das nachteilig für die anderen. Und das kann man so einfach nicht sagen, weil es halt auch unter den Nichtakademikerkindern einen Zuwachs gegeben hat. Das heißt jetzt noch nicht, dass der Anteil noch weiter steigen könnte.
    Hier hat zum Beispiel auch das Bachelorsystem durchaus Vorteile, weil das eben ein kürzerer Studiengang ist und es möglicherweise eben nicht so eine große Bildungsinvestition ist, als wenn man ein langes Diplomstudium vor sich hat, und dass möglicherweise auch mehr Kinder aus bildungsferneren Schichten eben dann ein kürzeres Studium gerne beginnen möchten.
    Flüchtlingskinder möglichst früh an die deutsche Sprache heranführen
    Biesler: Damit sind wir bei den Sachen, die man dann vielleicht doch noch verbessern kann in Deutschland, auch in Ihrer Analyse: Welche wären das?
    Anger: Also, was man ja immer noch sieht – auch hier hat es Verbesserungen gegeben –, dass Kinder aus bildungsferneren Schichten oder mit Migrationshintergrund, dass die seltener in den Kindergarten gehen zum Beispiel. Das ist auch besser geworden in den letzten Jahren, aber da ist immer noch eine Lücke da. Da ist es eben wichtig, dafür zu werben, dass Kinder schon möglichst sehr früh mit dem Bildungssystem in Kontakt kommen, um vor allen Dingen die deutsche Sprache zu lernen. Das ist natürlich jetzt vor der Perspektive der vielen Flüchtlingskinder, die jetzt nach Deutschland gekommen sind, besonders wichtig, dass man die möglichst früh an die Sprache heranführt. Also, da gerade im frühkindlichen Bereich hinsichtlich Sprachförderung zu stärken. Das geht natürlich in der Schule weiter, auch hier wird man sehr viele Lehrkräfte noch benötigen, die Deutsch als Fremdsprache unterrichten können. Man wird erst mal viel mehr Plätze an Kindergärten und Schulen schaffen müssen, um da eben auch eine Startchancengerechtigkeit für diese Kinder eben zu schaffen.
    Biesler: Christina Anger vom Institut der Deutschen Wirtschaft, eine der Autorinnen der heute erschienenen Studie Bildungsgerechtigkeit in Deutschland.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.