Mittwoch, 24. April 2024

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Studie zu Missbrauch in der Katholischen Kirche
"Eine Selbsterkenntnis, die uns alle erschüttert zurücklässt"

Die Dramatik des Themas Missbrauch sei allen Beteiligten massiv bewusst geworden, sagte der Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Thomas Sternberg, im Dlf. Die Aufgabe sei nun, Machtverhältnisse und Strukturen in der Kirche zu verändern.

Thomas Sternberg im Gespräch mit Jasper Barenberg | 14.09.2018
    Der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Thomas Sternberg.
    Der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, Thomas Sternberg. (imago / epd)
    Jasper Barenberg: Sexuelle Gewalt durch Kleriker gab es in großem Umfang in Deutschland. Die Taten wurden oft vertuscht, sie wurden selten bestraft. Opfern wurde oft genug nicht geholfen. So lässt sich wohl zusammenfassen, was Wissenschaftler über das Ausmaß von Missbrauch in der Zeit zwischen 1946 und 2014 herausgefunden haben – im Auftrag der Katholischen Kirche, allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: Am Ende entschied immer die Kirche selber, was an Informationen aus ihren Archiven an die Forscher weitergegeben wurde. Die Katholische Bischofskonferenz will Ende des Monats über diese Studie beraten. In den letzten Tagen sind aber immer mehr Informationen über die Ergebnisse öffentlich geworden. Wir können in den nächsten Minuten darüber mit Thomas Sternberg sprechen, dem Präsidenten des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, dem Zusammenschluss von Gremien und Verbänden katholischer Laien. Schönen guten Morgen, Herr Sternberg.
    Thomas Sternberg: Guten Morgen, Herr Barenberg.
    Barenberg: Gebhard Fürst, der Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart, hat die Ergebnisse der Studie gestern "erschreckend" genannt, obwohl er die Dimension des Missbrauchs geahnt haben will, wie er sagt. Ist das auch Ihr vorläufiger erster Eindruck, es ist alles noch viel schlimmer als gedacht?
    Sternberg: Ich bin mir nicht ganz sicher. Das weiß ich einfach nicht. Die Studie ist mir natürlich nicht bekannt, wie übrigens auch den meisten Bischöfen nicht bekannt. Diese Vorab-Information, dieses Durchstechen war sicher ein großer Schaden, insbesondere für die Betroffenen, um die es hier im Wesentlichen geht, die Betroffenen, bei denen vielleicht jetzt wieder etwas aufbricht im Reden über diese Studie. Für die sollte oder wird in 14 Tagen, wenn die Bischofskonferenz sich drei Tage lang damit beschäftigt, ein eigenes Telefon eingerichtet. Ich glaube, es ist ganz wichtig, dass die Bischofskonferenz sich auch mit den Ergebnissen der Studie sorgfältig beschäftigt, und das werden auch wir tun, wenn sie denn vorliegt.
    Die ganze Frage ist eine sehr, sehr schmerzhafte, aber gleichwohl sehr wichtige Frage. Vor acht Jahren hat unser früheres Mitglied, der Jesuit Pater Klaus Mertes aus damals Berlin, die Diskussion auch in Deutschland aufgebracht, hat gesagt, wir müssen uns wirklich schonungslos erinnern, auch diesen schmerzhaften Erinnerungsprozess machen, damit man glaubhaft sich verändern kann.
    "Die Kirche nimmt Vorreiterrolle ein"
    Barenberg: Über Klaus Mertes können wir gleich noch sprechen, weil er hat ja auch ein paar Vorbehalte, was die Studie selber angeht. Wir haben im Deutschlandfunk gestern auch mit ihm gesprochen. Aber noch mal zurück zu den dürren Zahlen, sagen wir mal, die jetzt bekannt sind, wie einiges andere an Ergebnissen. 3677 Kinder und Jugendliche als Opfer von 1670 aktenkundigen Tätern. Das heißt, etwa 4,4 Prozent der Priester, Ordensmänner und Diakone sind mutmaßliche Täter gewesen. Kann das nur eine Annäherung an das Ausmaß der Vorkommnisse in der Katholischen Kirche bieten, weil wir alle wissen, dass die Zahlen in Wahrheit eigentlich aller Erfahrung nach immer viel höher sind? Da sprechen die Kriminologen ja immer von der Dunkelziffer.
    Sternberg: Ja. Wenn ich richtig informiert bin, haben aber die Verfasser der Studie genau diese Thematik und diese Frage auch genau analysiert und mit wahrgenommen. Das ist ja schon eine sehr, sehr sorgfältige und genaue Untersuchung. Was hier passiert, sowohl diese sehr sorgfältige Untersuchung, als auch vor allen Dingen die Präventionsmaßnahmen, die daraus erwachsen und in den Diözesen leider etwas ungleich umgesetzt werden, das sind eigentlich Vorgänge, für die, glaube ich, die Kirche hier etwas gemacht hat, was andere Systeme in der Gesellschaft noch vor sich haben. Wir wollen ja nicht so tun, als wäre Kindesmissbrauch nur eine Frage von Klerikern. Das ist natürlich eine sehr, sehr weitgehende Frage.
    Barenberg: Und Sie glauben, das ist Ihr Argument, die Kirche ist da weiter als andere Bereiche der Gesellschaft?
    Sternberg: Ich glaube, dass mit dieser Diskussion und diesem extrem schmerzhaften Diskussionsprozess sie tatsächlich da eine Vorreiterrolle einnimmt, und ich bin ziemlich sicher, dass das auch in anderen gesellschaftlichen Großbereichen noch aussteht.
    "Die Dramatik dieses Themas, ist allen massiv bewusst geworden"
    Barenberg: Wenn wir aber bedenken, dass nur etwa ein Drittel der Bistümer alle Aktenbestände einbezogen hat in diese Untersuchung, und wenn wir bedenken – das hatte ich eingangs ja erwähnt -, dass keiner dieser
    Wissenschaftler auch nur eine der Akten selber in die Hand nehmen konnte, dass die Kirche beauftragt hat und sich quasi selber kontrolliert, muss man dann nicht zunächst einmal auch sagen, das ist im besten Fall halbherzig?
    Sternberg: Na vorsichtig! So ist es auch nicht. Sie können selbstverständlich, egal wo, nicht beliebige Leute an alle Personalakten lassen. Das geht bestenfalls bei Strafermittlungen von Staatsanwaltschaften, mit entsprechender richterlicher Verfügung und Ähnlichem, Vereidigung und Ähnlichem. Sie können nicht Personalakten beliebig öffnen. Das würden Sie selbstverständlich beim Deutschlandfunk auch niemals zulassen.
    Aber es hat hier eine sehr, sehr intensive Zusammenarbeit gegeben in, ich glaube, allen Bistümern. Das kann man wohl sagen. Denn die Dramatik dieses Themas, die ist allen wirklich massiv bewusst geworden. Denn die Dramatik dieses Themas geht weit über die Einzelfälle hinaus. Die Tatsache, dass man hier einmal grundsätzlich die Perspektive geändert hat, von der Institution auf die Betroffenen, und stärker auf die Betroffenen geachtet hat, das führt dazu, dass doch hier eine Selbsterkenntnis vor sich geht, die ja geradezu brutal ist und die uns alle in der Kirche wirklich erschüttert zurücklässt.
    "Wo sind Abhängigkeitsstrukturen, die so etwas begünstigen?"
    Barenberg: Sie haben eben gesagt, dass Persönlichkeitsrechte vor allem der Opfer natürlich zu respektieren und zu schützen sind. Da sind wir wohl alle einig. Warum ist es dann aber so, dass beispielsweise im US-Bundesstaat Pennsylvania oder auch in Irland und Australien, wie zu lesen ist, Taten und Täternamen genannt werden und dass da viel klarer alles auf den Tisch kommt als jetzt in dieser Studie?
    Sternberg: Ich halte überhaupt nichts davon, Namen auf den Tisch zu legen oder so etwas zu machen. Man muss sich hüten bei solchen Studien, dass das nicht sensationalistisch ausgeschlachtet wird. Darum geht es nicht. Es geht nicht um irgendwelche Sensationen. Es geht darum, wie man hier in den Institutionen wirklich schonungslos mit den eigenen Fällen umgeht, wie man die behandelt, wie man die behandelt hat - hier geht es ja vor allen Dingen um in früheren Zeiten zurückliegende – und wie man die Strukturen verändern kann, auch die Strukturen zwischen Macht und Ohnmächtigen oder überhaupt zwischen Machtverhältnissen, wie man die so verändern kann, dass sie möglichst dazu führen, dass das nicht vorkommt, und auch dringend verändert die Ausbildungswege, die Ausbildungsformen, die Bildungselemente. Das, was jetzt an Präventionsarbeit läuft, ist ja sehr, sehr weitgehend für alle, die in der Kirche mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben – übrigens nicht nur Priester. Das betrifft ja auch nicht nur Priester. Diese Untersuchung geht jetzt auf Priester hin, aber das ist ja eine Sache, die grundsätzlich die Frage betrifft, wo sind Abhängigkeitsstrukturen, die so etwas begünstigen.
    Barenberg: Gehört zu dieser schonungslosen Aufklärung und schonungslosen Selbstbetrachtung, möchte ich mal sagen, auch dazu, warten auch Sie darauf, dass Verantwortliche sich melden und sagen, ich bin für so etwas verantwortlich gewesen, dass es Persönlichkeiten innerhalb der Katholischen Kirche gibt, die an die Öffentlichkeit gehen und Verantwortung, persönliche Verantwortung dafür übernehmen?
    Sternberg: Ja! Aber ich glaube, das passiert doch hier genau. Wenn die Bischofskonferenz sich jetzt hier hinstellt und sagt, wir stellen uns dieses Themas, wir lassen uns das nicht nur von anderen jetzt aufdrängen, sondern wir stellen uns selber dieses Themas mit aller Schärfe und Deutlichkeit, dann passiert doch genau das. Das passiert im Moment nicht nur in der Kirche in Deutschland; das passiert in der Kirche weltweit. Wir sind ja weltweit erschüttert von diesen Fragen.
    "Stärkere Partizipation von Frauen an Ämtern und Aufgaben"
    Barenberg: Zum Schluss noch eine Frage nach den Konsequenzen. Sie haben von der Bedeutung der Strukturen gesprochen und von Prävention. Ich lese heute Morgen, dass die Vorsitzende des Bundes der katholischen Jugend, Lisi Maier, Männerbünde innerhalb der Katholischen Kirche auch für die fehlende Aufklärung verantwortlich macht über diesen sexuellen Missbrauch, und sie vorschlägt, dass diese Karrierenetzwerke aufgebrochen werden müssen. Sind Sie da bei ihr?
    Sternberg: Ich würde da gerne erst mal noch genau die Studie lesen. Aber im Prinzip hat sie natürlich insofern recht, dass man bestimmte Strukturen des Klerikalismus aufbrechen muss, um zu wirklicher Prävention zu kommen, um da Verschleierungen grundsätzlich zu verhindern. Da wird man fragen müssen, an welchen Stellen man da justieren muss, wo man da vorgehen muss.
    Sicherlich wäre es gut, wenn generell auch die Wahrnehmungen solcher Dinge auch weiblicher und weiblich-männlich anders besetzt und durchmischt wären. Wobei auch da wieder: Wir haben noch keine Untersuchungen, wie es ist mit Missbrauchsfragen unter Frauen, die wohl – so sagen alle Studien – in keinem Fall so hoch sind. Aber ich glaube, ganz generell wäre es gut, wenn wir in der Katholischen Kirche eine stärkere Durchmischung von Frauen und Männern hätten, wie wir überhaupt einen Bedarf haben einer stärkeren Partizipation von Frauen an Ämtern und Aufgaben.
    Barenberg: Der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken hier live im Deutschlandfunk. Thomas Sternberg, danke für das Gespräch.
    Sternberg: Danke, Herr Barenberg.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.