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Studie zur Musik
Vokale Musik als universelle Sprache

"Musik ist die universelle Sprache der Menschheit“ - so formulierte es der amerikanische Dichter Henry Wadsworth Longfellow 1835. Seitdem suchen Musikwissenschaftler und Ethnologen nach Belegen für diese These. Im Fachmagazin 'Science' schreiben Forscher nun, man sei fündig geworden - zumindest bei vokaler Musik.

Von Michael Gessat | 22.11.2019
Ausschnitt eines Selbsterstellten Videos an der Mitmachstation "Nimm dein Musikvideo auf!". Drei junge Menschen mit E-Gitarren
Werden musikalische Ausdruckformen kulturübergreifend verstanden? Was lange vermutet wurde, haben Forscher jetzt mit aufwändigen Datenanalysen belegt. (J. Vogel, LVR-LandesMuseum )
Noch bis vor kurzem wäre der Versuch einer systematischen, übergreifenden Auswertung musikethnologischer Forschung gar nicht möglich gewesen, sagt Samuel Mehr, ausgebildeter Musiker, Psychologe und Leiter des "Music Labs" an der Harvard University:
"Aber nun sind wir im Jahr 2019, jetzt ist es viel leichter, Zugang zu bekommen zu allem. Wir können viele, viele verschiedene Archive durchsuchen. Wir können Kollegen am anderen Ende der Welt kontaktieren und sie bitten, ihre persönlichen Sammlungen für Hörbeispiele zu durchstöbern. Und wir haben sehr günstigen Zugang zu Digitalisierungen alter Tonaufnahmen."
Tatsächlich ist das Datenmaterial von Samuel Mehr und seinen Kollegen zunächst einmal nicht selbst gesammelt, sondern bereits vorhanden:
"Die Rohdaten sind zum einen in Textform. Sie stammen aus ethnographischen Studien über 60 verschiedene kulturelle Gemeinschaften. Das sind also Beschreibungen, wie und in welcher Situation Mitglieder dieser Gemeinschaften bestimmte Lieder gesungen haben, sie sind veröffentlicht in einer Datenbank namens 'Human Relations Area Files' an der Yale Universität. Und die anderen Rohdaten bestehen aus Tonaufnahmen, die haben wir zusammengetragen aus Archiven und persönlichen Sammlungen von Anthropologen und Musikwissenschaftlern."
Musik als universelle Form des Ausdrucks
Wenn es so etwas wie Musik als eine "universelle Sprache der Menschheit" geben sollte, dann würde dies bedeuten, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen bestimmten Situationen des menschlichen Empfindens oder Verhaltens – und bestimmten musikalischen Genres oder Ausdrucksformen.
Schon in vorausgegangenen Studien hatten Samuel Mehr und seine Kollegen drei Kategorien, drei situative Kontexte identifiziert, die für eine möglichst objektive Einordnung von Musik zu einer soziologischen Bedeutung offenbar besonders aussagekräftig sind. Erstens: "Formalität" – hat die Situation zeremoniellen oder privaten Charakter, sind viele Erwachsene anwesend oder nur eine Person und ein Kind? Zweitens: Das Aufmerksamkeits- oder Erregungs-Level. Ist die Situation lebhaft mit vielen Teilnehmern oder ruhig und intim? Und drittens: Religiosität. Ist der Kontext spirituell oder weltlich?
Und andererseits gibt es offenbar, zumindest in der vokalen Musik bei Liedern vier besonders ebenso klar differenzierbare Typen: Tanzlieder, Einschlaflieder für Babys, rituelle Heilungslieder und schließlich Liebeslieder.
Der soziale Kontext prägt die musikalische Form
Samuel Mehr zufolge bestehen zwischen den soziologischen Situationen und den musikalischen Formen klare Zusammenhänge:
"Für jedes Lied aus den Archiven haben wir ein ganzes Spektrum von Daten erhoben. Zum einen eine algorithmische Analyse der Audiodateien, dann eine Hör-Beurteilung durch Laien, dann eine Beurteilung durch musikalische Experten und schließlich eine Analyse der Lied-Transkripte, also der Notation der Hörbeispiele. Wir haben - wiederum durch Algorithmen - bestimmte Informationen daraus extrahiert, die selbst die Profihörer so nicht liefern können, wie etwa die Tonhöhenverteilung und die durchschnittliche Intervallgröße."
Das Resultat: Auch musikalische Laien konnten Liedbeispiele aus fremden Kulturen recht treffsicher zuordnen – und eben als Tanz, Einschlaflied, Heilungs- oder Liebeslied identifizieren. Ein Maschinenlern-Algorithmus, der mit einer Untermenge der Daten trainiert worden war, konnte anschließend ebenfalls neue, ihm bislang unbekannte Lied-Beispiele mit hoher Treffsicherheit einem emotionalen oder situativen Kontext zuordnen.
Auch fremde Musik lässt sich treffsicher zuordnen
Es gibt zwar, so die Erkenntnis von Samuel Mehr und seinen Kollegen, nicht eine weltweit charakteristische Melodie oder einen charakteristischen Rhythmus für eine bestimmte situative Lied-Gattung. Ein Einschlaflied bei den Irokesen zum Beispiel klingt durchaus anders als eines aus Griechenland. Aber es gibt sehr wohl eine bestimmte charakteristische Balance objektiver musikalischer Faktoren in den Liedern aus allen untersuchten Kulturen - wie Tonhöhenumfang, Tempo, Komplexität von Melodik und Rhythmus, und dem am häufigsten verwendeten Intervall. Und das lässt sich offenbar sowohl von Hörern wie auch von Algorithmen identifizieren.
Das alles spricht dafür, dass es eben tatsächlich universelle Zusammenhänge gibt zwischen bestimmten grundlegenden psychischen Dispositionen von Menschen in allen Kulturen. Ihre emotionalen Stimmungen, Sehnsüchte und sozialen Anlässe führen zum Produzieren und auch Genießen von bestimmten Musikformen. Aber ist das ein Ergebnis evolutionärer Vor-Bestimmungen oder von kulturellen Prozessen? Hören wir so, weil es uns angeboren ist, oder weil wir es gelernt haben?
"Wir wissen das noch nicht wirklich. Wenn wir ein Phänomen oder Verhalten beobachten, das anscheinend weltweit universell zu sein scheint, ist eine Erklärung eben: das könnte im Gehirn fest verankert, könnte angeboren sein. Aber eine andere Erklärung wäre eben: Es könnte auch der Effekt einer konvergenten kulturellen Evolution sein, dass wir eben ähnliche Verhaltensweisen entwickeln, die dann so aussehen, als wären sie angeboren."