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Forschung
Wie die Musik entstanden ist

Große Gefühle, elementarer Austausch, Ritual und Kommunikation: Musik fasziniert, und das über alle Zeiten und fast alle Kulturen hinweg. Wissenschaftler suchen nach der Quelle dieser Faszination - und stoßen dabei auf Nachtigallen, altsteinzeitliche Flöten, Nervenzellen und den Chill-Effekt.

Von Martin Hubert |
    Ein Mann vom Stamm der Choctaw Indianer am Mississippi spielt auf einer Holzflöte.
    Ohne Musik können die wenigsten Kulturen auskommen - dabei hat sie seit Tausenden von Jahren viele Funktionen (imago / UIG)
    Ein Flötenstück, virtuos gespielt von dem Hannoveraner Musikwissenschaftler Eckart Altenmüller.
    Der Gesang eines Weißhandgibbons, eines menschenartigen Altweltaffen. Mit seinen Rufen, die mehr als drei Kilometer weit zu hören sind, kommuniziert er mit Nachbarn, Fremden und Partnern. Es klingt nicht ganz so virtuos und grazil wie die Flötenmusik von Eckart Altenmüller, ist aber kaum minder intensiv und eindrucksvoll.
    Machen Tiere Musik?
    Muss man bei so viel Ähnlichkeit nicht annehmen, dass die Musik schon im Tierreich beginnt? Oder ist sie doch erst eine Erfindung des frühen Menschen? Welche evolutionäre Funktion und welchen Wert besitzt Musik überhaupt? Eckart Altenmüller ist dafür prädestiniert, Antworten auf solche Fragen zu geben. Er ist nicht nur Musikwissenschaftlicher an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. Er ist gleichzeitig Neurowissenschaftler, der in Hannover erforscht, wie Musik im Gehirn organisiert ist und wie sie die Psyche beeinflusst. In seinem Buch " Vom Neandertal in die Philharmonie. Warum der Mensch ohne Musik nicht leben kann", hat er die Ergebnisse seiner Forschungen zusammengefasst. Mit dem Buchtitel macht Altenmüller schon klar, dass die Entwicklung der Musik für ihn erst mit den Neandertalern einsetzt, die vor circa 200.000 bis 30.000 Jahren lebten. Aber das heißt nicht, dass er die akustischen Leistungen der Tiere gering schätzt.
    "Mit am meisten beeindruckt mich natürlich die Nachtigall. Wenn sie an einem Frühlingsabend oder in einer Frühlingsnacht durch ein Gebüsch gehen und sie hören dann diese fantastischen, sich immer neu erfindenden Gesänge der Nachtigall. Und es gibt ja auch gute Untersuchungen: eine ausgewachsene Nachtigall, die kann also bis zu 24.0000 unterschiedliche Strophen erfinden und sie wird auch - je erfindungsreicher sie sie ist - umso eher zum Zug kommen bei einem Weibchen. Es ist ja das Männchen, was es macht."
    Eine Nachtigall
    Hochkomplex: der Gesang der Nachtigall (dpa / picture alliance / DB BirdLife International)
    Auch andere Vögel können einen bekanntlich akustisch becircen. Und Buckelwale singen bis zu einer viertel Stunde lang Themen, die für ihre Herde charakteristisch sind. Für sie gilt nach Eckart Altenmüller aber dasselbe wie für die Nachtigall:
    "Trotzdem ist es für mich eben keine Musik, weil auch die Nachtigall dem Instinkt gehorcht und nicht willentlich und absichtlich ein akustisches Muster gestaltet. Das ist für mich eines der wichtigsten Kriterien der Musik, dass wir etwas absichtsvoll akustisch gestalten."
    Flöten in der Altsteinzeit
    Die ersten Zeugnisse für Instrumente, die das erlauben, stammen aus dem Donautal. Zum Beispiel eine Flöte mit fünf Grifflöchern, die in der Höhle "Hohle Fels" in der Schwäbischen Alp gefunden wurde.
    "Die ist voraussichtlich 45.000 bis 50.000 Jahre alt. Und das sind Flöten, die sind aus Knochen hergestellt worden, sind sehr sorgfältig hergestellt worden, zum Teil aus Elfenbein. Und da kann man an den Flöten auch erkennen, wie wunderbar die verziert sind."
    Die Steinzeitmenschen haben sich viel Mühe gegeben und ein Musikinstrument mit einer Skala geschaffen, mit der sich die Tonhöhen manipulieren lassen.
    "Wo wir rhythmisch und akustisch-melodisch differenzieren können- das gibt's mit Sicherheit seit 50.0000 Jahren."
    Bilder an den Wänden altsteinzeitlicher Höhlen zeigen, dass die Medizinmänner oder Schamanen auch andere Instrumente benutzten.
    "Wahrscheinlich das älteste ist die Darstellung eines Mundbogens. Der Schamane ist mit einem Rentierfell oder einem Hirschfell überzogen und hat dann im Mund diesen Mundbogen, das ist etwas, was der Maultrommel verwandt ist. Und damit macht er Musik und offensichtlich sind das dann Beschwörungen."
    Musik als Geburtshelfer der Sprache
    Zum Beispiel Beschwörungen, um den Jagderfolg zu erzwingen oder um Unwetter zu vertreiben. Dabei machte nicht ein Einzelner Musik für sich selbst. Er tat es mit und für andere.
    "Das frühe gemeinsame Musizieren hat vor allem Gruppenbindungsqualitäten, also dass wir etwas zusammen machen: Koordination von Bewegungen, Koordination von Arbeitsabläufen, aber auch emotionale Signalisierung 'Mir geht es gut!' oder 'Ich will euch emotional aufrichten'. Und dann natürlich auch noch die ganzen Kommunikationsfunktionen, also ich kann mit Musik auch Witze machen, ich kann da auch Humor zeigen, ich kann also interagieren und kann dann eben auch Bindungen noch mal vertiefen zwischen den Menschen."
    Ein Detail aus einer hinduistischen Darstellung des Gottes Krishna, in der er Flöte spielend dargestellt wird (19. Jahrhundert)
    Der Gott Krishna spielt Flöte - Musik spielt auch in Mythologie und Religion eine große Rolle (imago / UIG)
    Eckart Altenmüller definiert Musik als spezifisch menschliches Erzeugnis daher so: Es handelt sich um bewusst gestaltete, in der Zeit gegliederte und nichtsprachliche akustische Ereignisse in sozialen Zusammenhängen. Musik war nach Altenmüllers Theorie also vor der menschlichen Sprache da und knüpfte in einer Hinsicht doch direkt an die Tierwelt an: beim emotionalen Ausdruck.
    "Wir Menschen sind eben auch Säugetiere und wir haben ein ganz klares basales Signalsystem, was wir täglich einsetzen und das ist eigentlich auch so mit unseren emotionale Lautäußerung, die oft unbewusst sind und die übrigens auch angeboren sind, eben wie stöhnen, wie ächzen, wie lachen, wie vor Angst kreischen und wie drohen. Und da kann man eben, wenn man die Akustik anschaut, Parallelen zu fast allen Säugetieren sehen. Also Bedrohung oder ich drohe einem anderen Menschen, das mache ich mit einer Stimme, die ist tief, die ist rau und die hat einen Creszendocharakter, die wird lauter und dass ist dann so etwas wie auch bei einen Hund. Wenn er knurrt, haben sie ein "Wuääääh"!"
    Das signalisiert "Ich bin groß und stark und meine Muskeln sind gerade aufs äußerste gespannt: Vorsicht!" Anders bei positiven sozialen Lauten.
    "Wenn ich mich mit Menschen verbrüdern möchte, dann kommt eben dieses schmeichelnde "Eiaheiah". Also solche einfachen Laute und auch das ist im Tierreich, können sie beim Wedeln eines Hundes sehen, können sie bei Katzen sehen und so weiter, da haben wir emotionale Universalien in der Säugetierreihe."
    Verfeinerung über Tausende von Jahren
    Akustische Gesten, die der Mensch aus dem Tierreich übernommen hat, um elementare Emotionen auszudrücken. Sie gehen als Grundmuster auch in das Musizieren ein: Eine tiefe, starke und anschwellende Singstimme signalisiert Bedrohung und Macht, eine hohe und zarte Stimme Nähe und Geborgenheit.
    "Und dann kam eben im Laufe der Hunderttausenden von Jahren eine zunehmende Verfeinerung, wo dann noch Reste von diesem Emotionssystem bei uns behalten wurden, aber gleichzeitig das ganze kulturell enorm überformt wurde und verfeinert wurde. Und zwar mit dem Ergebnis, dass wir unser auditives Arbeitsgedächtnis, das Gehörgedächtnis dabei geschult haben und den Spracherwerb gebahnt haben: die Musik gewissermaßen als Geburtshelferin für die Entwicklung der menschlichen Sprache."
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Komplexe akustische Signale: Horn aus der Bronzezeit (Bernd Settnik / dpa)
    Bis heute gibt es daher einen starken Zusammenhang zwischen Musik und Sprache. Die französische, die englische oder die tschechische Sprache sind beispielsweise durch bestimmte durchschnittliche Satzlängen und Sprechphasen charakterisiert. Die gleichen Phasenlängen finden sich in der französischen, englischen oder tschechischen Musik. Auch die Hirnforschung liefert Hinweise für die innere Verbindung von Musik und Sprache.
    "Da kann man eben aus der Hirnphysiologie sehr schön zeigen, dass eben diese so genannte Sprachregion ist mitnichten eine Sprachregion, es ist eine symbolische Gestenregion: musikalische Gesten werden da programmiert, körperliche Gesten werden programmiert und die Sprechgesten werden programmiert".
    Die Musik, so die Theorie von Eckart Altenmüller, wird neben der Sprache als zweites, emotionales Kommunikationssystem des Menschen weiterentwickelt und differenziert sich immer mehr aus. Und zwar so, dass Regionen des gesamten Gehirns beteiligt sind, wenn wir Musik hören oder machen.
    "Musik machen ist natürlich etwas sehr kompliziertes und das ist unerschöpflich. Es kann immer komplexer werden und einer der Besonderheiten ist nicht nur, dass sich das Gehirn neuroplastisch anpasst. Das heißt, dass die viel übenden Musikerinnen und Musiker größere Zentren für die Hände, für das Hören haben, sondern einer der Besonderheiten ist vor allem, dass sie genauestens antizipieren und planen. Musikmachen hat vor allen Dingen etwas mit Planen zu tun."
    Warum wir Melodien hören
    Welcher Ton muss als nächstes kommen, in welcher Intensität und Geschwindigkeit, welcher Akkord begleitet ihn? Musik organisierendes Gehirn und planender Geist sind eng miteinander verwoben. Das zeigt sich auch bei einem Problem, das der phänomenologische Philosoph Edmund Husserl bereits im letzten Jahrhundert aufgeworfen hat. Warum nehmen wir einen bedeutungsvollen Satz wahr und nicht nur isolierte Einzelwörter? Warum eine Melodie und keine vereinzelten Töne? Der in Ottawa lehrende deutsche Philosoph und Neurowissenschaftler Georg Northoff hat sich mit diesen Fragen ausführlich beschäftigt.
    "Wir erleben einen kontinuierlichen Strom. Wenn Sie eine Melodie hören, dann hören Sie einen Ton, aber dann hören Sie den Ton in Bezug zu dem vorherigen Ton und dem nächsten Ton, obwohl der nächste Ton und der vorherige Ton überhaupt nicht mehr oder noch nicht präsent sind."
    Nahaufnahme von zwei Mädchen, die Klavier spielen
    Vom einzelnen Ton zur Melodie: eine komplexe Leistung des Gehirns (imago )
    "Und genau diese Relation, das ist der Moment, wenn sie eine Melodie hören. Hätten sie nicht so einen Bewusstseinsstrom, würden sie nur einfach eine Sequenz von Tönen hören, aber keine Melodie, die aus der Verknüpfung der Töne resultiert."
    Solche hintereinander auftretenden Hirnzyklen ermöglichen also die zusammenhängende Melodie.
    "Und die haben ganz lange Zyklusdauern, wo ein Zyklus zwei bis drei Sekunden dauern kann. Und in diesem einen Zyklus besteht die Chance, wenn diese Stimuli genau in diesen Zyklus fallen, dass sie dann integriert werden. Dass sie also zum Beispiel dann, wenn die Melodie sagen wir mal die entsprechenden zeitlichen Abstände hat, die beiden Töne, wenn die genau in diesen Zyklus fallen, dass sie dann gemeinsam in Bezug zum anderen wahrgenommen werden."
    Eine Melodie entsteht, indem wir einzelne Töne zu einer größeren zeitlichen Einheit verbinden. Diese Leistung der Musik beruht nach Georg Northoff auf einem fundamentalen Mechanismus des Gehirns. Seit einiger Zeit wissen die Neurowissenschaftler, dass das Gehirn nicht nur aktiv wird, wenn es einzelne Reize wahrnimmt. Es erzeugt auch von sich aus ständig Aktivitätswellen. Das heißt, die Aktivität bestimmter Nervenzellen geht kontinuierlich nach oben und unten. Diese spontanen Aktivitätswellen des Gehirns bilden eine Art inneres Auffanggitter für alle Stimuli, die aus der Außenwelt und dem Körper im Gehirn eintreffen, auch für einzelne Töne.
    Emotionale Dimensionen
    Wenn die Melodien einen dann besonders stark berühren, tritt der sogenannte Chill-Effekt auf. Eckart Altenmüller hat ihn ausgiebig erforscht.
    "Das sind diese Gänsehautmomente, wen ich besonders schöne Musik höre, da geht dann mit so einem Schauer, die den Rücken runtergehen, einher. Gleichzeitig habe ich manchmal da auch so ein Gefühl der Wehmut, der Nostalgie , manchmal sogar ein Kloßgefühl im Hals und feuchte Augen - sind seltene Momente, aber sehr intensive Momente, die sich sehr stark auch im Gedächtnis einprägen."
    Beim Chill-Effekt wird unter anderem das Belohnungssystem des Gehirns stimuliert, sodass verstärkt Glückshormone ausgeschüttet werden. Eckart Altenmüller wollte herausfinden, wann das genau passiert. Er stellte zwar fest, dass Menschen den Chilleffekt häufiger erleben, wenn sich plötzlich etwas unerwartet in der Musik ändert: eine Stimme löst sich aus dem Hintergrund, das Tempo wechselt. Aber insgesamt fand er keine allgemeine Gesetzmäßigkeit für den Effekt. Im Gegenteil:
    "Das Private, das Persönliche! Was sie als einen neuen Aspekt in der Qualität empfinden, das ist eben dann etwas, was sehr stark im subjektiven Bereich ist."
    Musik als Schutzraum des fühlenden Ich
    Musikgenuss hat immer auch etwas mit der Persönlichkeit des Hörers zu tun, mit seinem subjektiven Zustand und seinen Emotionen, die er körperlich empfindet. Der amerikanische Neurowissenschaftler Bud Craig von der Phoenix University hat diese Zusammenhänge untersucht. Craig führte viele Experimente an einer Region tief im Inneren des Gehirns durch, der so genannten Insula. Dabei entdeckte er, dass die Insula wesentlich an einem Nervensystem beteiligt ist, das alle Empfindungen des Körpers und alle Emotionen wie Wut, Trauer oder Freude permanent zu einem Gesamtzustand zusammenführt. Bud Craig spricht von "global emotional moments", von globalen Gefühlsmomenten. Für Craig bilden sie die elementaren Bausteine, aus denen sich eine Persönlichkeit über die Zeit hinweg zusammensetzt. Und er findet direkte Entsprechungen zur Musik.
    "Alles, was in Ihnen und um Sie herum gleichzeitig geschieht, wird also in einem Augenblick zusammengeführt. Wenn Sie diese Augenblicke dann hintereinander setzen, entsteht eine Art Film. Ich bin fest überzeugt, dass das Gehirn genau das macht: Es erzeugt einen zusammenhängenden Film individueller Momente über die Zeit. Auch Musik ist eine rhythmische, zeitliche Progression von emotional aufgeladenen Augenblicken über die Zeit hinweg."
    "Die linke Seite des Vorderhirns hat stärker mit Gefühlen der Zugehörigkeit zu tun, wenn eine Mutter etwa nach ihrem Kind schaut, wenn sie an Sex denken oder einfach fröhliche Gesichter sehen. Und besonders gefällt mir, dass diese linke Seite besonders aktiv ist, wenn wir Musik hören, die wir mögen."
    Musiker der Brandenburger Symphoniker spielen am 30.07.2013 in Rheinsberg (Brandenburg) im Heckentheater des Schlossparks bei der Aufführung der Phantastischen Oper "Hoffmanns Erzählungen" von Jacques Offenbach. 
    Wenn die Musik Glückshormone produziert - Streichinstrumente klingen oft besonders weich und schmelzend (picture alliance / Jens Kalaene)
    Das fühlende Ich und Musik bilden eine Einheit. Eckart Altenmüller sieht den Wert der Musik daher auch darin, dass sie ein Erfahrungs- und Schutzraum der menschlichen Gefühle ist - vor allem auch bei der Herausbildung der Persönlichkeit.
    "Der Nutzen der Musik ist in erster Linie ein emotionaler. Es geht nicht darum, dass wir mit Musik die Kinder intelligenter machen, das ist ein ganz kleiner Nebeneffekt, der nicht mal ganz sicher ist. Sondern es geht wirklich darum, dass wir Kindern wieder Zugang geben zu einem emotionalen Ausdrucksmittel, etwas geben, wo sie Gefühle äußern können und eben auch Gefühle wahrnehmen können von anderen Kindern, von anderen Menschen,. Und da ist glaube ich der wesentliche Punkt, warum wir Musik wieder stärker zurückbringen müssen in unseren Alltag."