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Syrer in Deutschland
Wie der Krieg in der Heimat das Leben im Exil belastet

Seit Ausbruch des Kriegs in Syrien vor fast zehn Jahren haben viele Menschen dieses Land verlassen. Knapp 800.000 Syrer leben nun in Deutschland. Doch der Konflikt in ihrer Heimat belastet sie immer noch – und vergiftet das Zusammenleben im Exil in Deutschland.

Von Kristin Helberg | 21.08.2020
Amin Al Magrebi spricht auf einer Kundgebung anlässlich der Innenministerkonferenz in Kiel
Amin Al Magrebi spricht auf einer Kundgebung anlässlich der Innenministerkonferenz in Kiel (Privat)
"Solange Assad in Syrien herrscht, kann Syrien kein sicheres Herkunftsland sein, es kann und darf nach Syrien nicht abgeschoben werden…"
12. Juni 2019, die Innenminister tagen in Kiel. Vor dem Konferenz-Hotel haben sich Abschiebegegner versammelt, in einem Käfig sitzt ein Aktivist als Gefangener unter dem Porträt des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad. Auf der Bühne davor steht ein junger Mann, grüne Sportjacke über schwarzem T-Shirt, kurz gestutzter Vollbart.
"Amnesty international hat die Gefängnisse in Syrien als Schlachthäuser für Menschen bezeichnet. Wir fragen: Wie kann ein Schlachthaus ein sicherer Herkunftsort sein?"
Der syrische Präsident Bashar al-Assad
Assads Handlanger vor deutschem Gericht
Syrische Oppositionelle erheben schwere Vorwürfe gegen Präsident al-Assad. Nun stehen zwei Ex-Geheimdienst-Funktionäre vor Gericht – im weltweit ersten Verfahren gegen Mitglieder des Regimes.
Die Ideen der Revolution treiben Amin Almagrebi an
Amin Almagrebi ist 22 Jahre alt, er studiert Geschichts- und Medienwissenschaften an der Berliner Humboldt Universität. Für die Revolution in seiner Heimat Syrien war er zu jung, aber ihre Ideen treiben ihn heute an: Freiheit, Anti-Faschismus, die Würde und die Rechte jedes Menschen. Regelmäßig fährt Amin zu den Innenministerkonferenzen, um klarzumachen, dass Syrien unter der Herrschaft des Assad-Regimes nicht sicher ist. Viele seiner syrischen Freunde hätten dagegen aufgehört, die deutsche Öffentlichkeit zu informieren, erzählt er in einem Café in Berlin Mitte.
"Es gibt die eine Haltung, wo man sagt, ja ok, nee, ich will ihnen nichts erklären, wenn sie das nicht wissen, dann weil sie dumm sind, und es ist ihre Aufgabe, sich zu informieren. Aber irgendwie bin ich eher der Meinung, ich kann als neues Mitglied in dieser Gesellschaft zur Uni gehen, arbeiten und gleichzeitig auch versuchen, was für Syrien oder die Revolution zu machen. Weil irgendwie gehört das auch zu mir. Alles, was den Menschen dort angetan wird, wird auch mir angetan."
Amin Al Magrebi spricht bei Innenministerkonferenz in Kiel
Amin Al Magrebi spricht bei Innenministerkonferenz in Kiel (Privat)
Amin kam 2015 mit seinen Eltern und Brüdern nach Deutschland. Sieben Monate lang lernte er von morgens bis abends Deutsch, schaffte es im Sommer 2016 auf das Gymnasium. Drei Jahre später machte er Abitur mit einem Notendurchschnitt von 1,6. Bei Veranstaltungen in Berlin traf Amin Gleichgesinnte und wurde Teil einer aktiven Szene von Syrern und Deutschen. Bei einem Workshop der Organisation Adopt a Revolution, die seit 2011 von Berlin aus den zivilen Widerstand in Syrien unterstützt, lernt Amin Oday Almassarani kennen.
Aktivist der ersten Stunde
Der 25-Jährige ist ein Aktivist der ersten Stunde, ab Frühjahr 2011 organisiert er Proteste in seiner Heimatstadt Homs. Oday wird verhaftet und gefoltert und kommt nach vier Wochen nur dank seiner Mutter frei, die als Alawitin Zugang zu Geheimdienstkreisen hat.
"Beim ersten Verhör wussten sie alles über mich, auch, dass meine Mutter Alawitin ist. Das hat die Folter noch schlimmer gemacht, denn aus ihrer Sicht war ich ein Verräter. Beim zweiten Verhör haben sie keine Fragen gestellt, sondern nur gefoltert – mit Elektroschocks, einem Plastikrohr, mit Schlägen auf den ganzen Körper. Beim dritten Mal hatte es offensichtlich Vitamin B gegeben. Der Offizier sagte, er werde mir helfen, wenn ich mich dafür nach meiner Freilassung erkenntlich zeigen würde. Er wollte Geschenke und Geld. Zu dem Zeitpunkt war ich total am Ende und habe allem zugestimmt. Aber als mich meine Mutter nach meiner Freilassung anrief und mir erklärte, was sie alles unternommen hatte, wurde mir klar, dass ihre Kontakte mir geholfen hatten und nicht der Offizier."
Kinder auf einer Straße mit Wasserbehältern in Tadmur, Provinz Homs
Kinder auf einer Straße mit Wasserbehältern in Tadmur, Provinz Homs (Andrei Gryaznov/TASS/dpa)
Ende 2015 flieht Oday in den Libanon, von dort in die Türkei und über die Balkanroute nach Deutschland, wo er im Januar 2016 ankommt. Inzwischen hat er eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung und studiert Medienwissenschaften in Würzburg. Angesichts der Verbrechen in seiner Heimat fühlt er sich verpflichtet, in Deutschland politisch aktiv zu sein.
"Es gibt viele Syrer, die gar nichts machen wollen. Sie wollen Syrien vergessen und ein neues Leben anfangen. Und sie vergessen völlig den Grund, aus dem sie in Deutschland sind. Ihr seid hier, weil es ein Problem mit dem syrischen Regime gibt. Darüber müsst ihr reden, sonst werdet ihr irgendwann zu diesem Regime zurückkehren. Wenn der deutsche Staat sieht, dass ihr gar kein Problem mit diesem Regime habt, dann wird er euch alle zurückschicken."
Keine Minderheit wuchs so stark wie die Syrer
Knapp 800.000 Syrer leben in der Bundesrepublik. Vor zehn Jahren waren es noch etwa 30.000. Keine Minderheit ist in so kurzer Zeit so stark gewachsen. Dadurch ist die Gruppe sehr vielfältig geworden. Waren es vor 2011 vor allem Akademiker und Intellektuelle, die seit den 1970er Jahren aus Assads Syrien geflohen waren und sich hier als Ärzte und Ingenieure einen guten Ruf erarbeiteten, kamen im Zuge des Krieges auch viele Bewohner ländlicher Gebiete, die meist weniger gebildet sind und traditioneller denken.
Allen gemein ist die Sorge um Verwandte, die bis heute in Syrien leben. Ein regimekritisches Engagement in Deutschland könnte die Familie zuhause in Gefahr bringen, da der syrische Geheimdienstapparat auch hierzulande Informanten hat. Wie gut die Regime-Kanäle zwischen Deutschland und Syrien funktionieren, weiß Oday durch seine alawitische Mutter.
"Meine Mutter hat mich angerufen und erzählt, dass sie ihr das Leben schwermachen wegen meiner Aktivitäten – wegen Veranstaltungen und dem, was ich auf Facebook oder Twitter schreibe. Sie wollte, dass ich mich zurückhalte, aber ich habe ihr gesagt, ich kann nicht. Ich kann nicht den Mund halten, ich lebe in Deutschland und soll mich noch immer vor dem syrischen Regime fürchten? Ich habe ihr gesagt, sie solle sich von mir distanzieren. Sag ihnen, 'das ist nicht mehr mein Sohn, ich habe nichts damit zu tun.' Seitdem haben wir nicht viel miteinander geredet. Ich will nicht, dass sich meine Arbeit auf ihr Leben auswirkt, aber ich will hier in Deutschland frei reden."
"Lisa maudschud" - zu Deutsch: "noch immer da"
2018 gründete der Student mit einigen anderen Syrern die Initiative "Lisa maudschud", zu Deutsch "noch immer da". Sie dokumentiert und archiviert Ereignisse der Revolution, die schon jetzt in Vergessenheit geraten. Das liege auch an der Propaganda hier lebender Assad-Anhänger, glaubt Oday. Dass Verteidiger des syrischen Regimes in Deutschland die öffentliche Meinung beeinflussen können, ist für Oday schwer zu ertragen.
"Wir als oppositionelle Aktivisten, die wir um Asyl gebeten haben und einen sicheren Ort brauchen, können uns nicht sicher fühlen. Während diese Assad-Anhänger, die kein Problem mit dem Regime haben und in Syrien unter dessen Herrschaft leben könnten, hierherkommen, Asyl bekommen, ihre Meinung ungehindert äußern und uns dann noch bedrohen."
Die meisten Syrer und Syrerinnen kämpfen mit psychischen Problemen. Sie sind traumatisiert von Krieg oder Flucht und leben zwischen zwei Welten, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Sie fühlen sich zerrissen zwischen ihrem Alltag in Deutschland, in dem sie schnell erfolgreich sein wollen und der anhaltenden Katastrophe in Syrien, die sie lähmt und frustriert.
"Die Stadt meiner Erinnerungen sollte immer Homs bleiben"
Yasmin Merei liest kaum noch Nachrichten zu Syrien. Sie stammt aus einer konservativen sunnitischen Familie im Umland von Homs und hat Linguistik studiert. Zu Beginn der Revolution flieht sie mit ihrer Familie in die südsyrische Stadt Sweida. Als ihr Vater und zwei Brüder verhaftet werden, setzt sich Merei in die Türkei ab, wo sie als Journalistin und Menschenrechtsaktivistin arbeitet. Über ein sechsmonatiges Stipendium in den USA im Jahr 2015 erhält sie schließlich eine Einladung nach Berlin.
"Als ich ankam, versuchte ich, Berlin nicht zu mögen. Ich wollte kein alternatives Gedächtnis aufbauen – die Stadt meiner Erinnerungen sollte immer Homs bleiben. Deshalb bin ich nur U-Bahn gefahren, ich wollte Berlin nicht oberirdisch sehen, wollte den Straßennamen keine Bilder zuordnen. Das war verrückt und krank. Inzwischen sehe ich Berlin als offenen Ort, der mehr anbietet als du erwartet hast."
Amin Al Magrebi beim Filmscreening "The Impossible Revolution"
Amin Al Magrebi beim Filmscreening "The Impossible Revolution" (Privat)
Die 37-Jährige arbeitet im Auftrag des Berliner Senats mit geflüchteten Frauen. In verschiedenen Stadtteilen werden junge Frauen zu lokalen Führungskräften ausgebildet. Gut informiert über politische Strukturen und die Lebensumstände von Geflüchteten sollen sie zwischen Politik und Kiez vermitteln. Doch das Thema Syrien holt Yasmin Merei immer wieder ein. Dann kämpft sie mit Wut, Schmerz und einem schlechten Gewissen.
"Du spürst deine Nationalität nicht mehr. Wir haben das Gefühl, ein gespaltenes Volk zu sein, es gibt interne Syrer und externe Syrer. Zu einer bestimmten Zeit hast du die gleichen Erfahrungen gemacht wie die Menschen dort – ich habe Bombardierung erlebt, wurde vertrieben, habe meinen Vater verloren, wurde bedroht und habe das Land deshalb verlassen. Aber jetzt lebe ich seit sieben Jahren in Sicherheit. Ich habe 24 Stunden Strom und warmes Wasser, ich kann ohne Angst einkaufen gehen. All das macht dich verrückt. Du hast diese interne Krise und fühlst diese Spaltung, dass du physisch hier lebst, aber emotional und mental woanders bist."
18 Millionen Syrer haben ihre Heimat verlassen
Die Zerrissenheit zwischen alter und neuer Heimat, das emotionale Pendeln zwischen Vergangenheit und Gegenwart sind typisch für Diaspora-Gruppen. Diese bestehen aus einer ethnischen oder religiösen Minderheit, die sich über Generationen hinweg über ihre gemeinsame Herkunft definiert, obwohl sie in ihrem Aufnahmeland längst integriert ist.
Im Fall der Syrer leben inzwischen mehr Staatsbürger im Exil als innerhalb des Landes. 18 Millionen Syrer haben ihre Heimat im Laufe des 20. Jahrhunderts verlassen, schätzt der unabhängige Think Tank Arab Reform Initiative mit Sitz in Paris. Hinzu kämen sechs Millionen Syrer, die seit 2011 geflohen sind. Dem gegenüber steht eine Inlandsbevölkerung von 16 Millionen.
Nahla Osman
Nahla Osman, Fachanwältin für Migrationsrecht (Privat)
Die Revolution und der darauffolgende Krieg waren für diese Auslandssyrer Anlass, politisch Position zu ergreifen und Hilfe zu organisieren. Bis heute leisten Exilverbände einen wichtigen Beitrag zur humanitären Versorgung ihrer Landsleute in Syrien und in den Nachbarländern – vor allem im Gesundheits- und Bildungsbereich. In Deutschland haben sich einige dieser Organisationen zu einem Dachverband zusammengeschlossen – dem Verband deutsch-syrischer Hilfsvereine, kurz VDSH. Nahla Osman, die als Kind syrischer Eltern in Rüsselsheim geboren wurde, ist Fachanwältin für Migrationsrecht und sitzt im Vorstand des VDSH.
"Die Bundesregierung braucht Ansprechpartner, und wir als VDSH versuchen, das zu stemmen. Andererseits natürlich versuche ich auch immer, der syrischen Gemeinschaft Informationen mitzuteilen, wie schnell sie ihren Aufenthalt verlängern können, wie man die Familie holen kann, also ich versuche, Brücken zu bauen zwischen der Gemeinschaft und der Regierung."
"Die Syrer müssen ihre Interessen besser vertreten"
Als zweitgrößte Migrantengruppe in Deutschland müssten die Syrer ihre Interessen besser vertreten, meint Osman. Leider sei der VDSH unter den Syrern aber noch zu unbekannt. Es gebe zu viele Vereine, die nichts voneinander wüssten, so die Anwältin.
"Ich würde mir bei den Syrern eine engere Vernetzung wünschen, eine Aufgabenteilung. Dass die Älteren die Jüngeren auch ernst nehmen. Wir haben ganz viele junge engagierte Syrer und Syrerinnen, dass die Frauen eine größere Rolle bekommen. Ich habe dann schon manchmal das Gefühl, dass diese Vereine unter sich bleiben wollen. Es ist traurig, dass man jetzt zum Beispiel in Berlin oder Bremen oder wo auch immer ganz viele Vereine hat, aber nicht die vorhandenen Strukturen nutzt, die schon seit Jahren diese Arbeit machen."
Außerdem würden sich syrische Akteure mancherorts zerstreiten statt aufeinander zuzugehen, beklagt Nahla Osman. Der anhaltende Konflikt in der Heimat vergiftet das Zusammenleben im Exil. Die gesellschaftlichen Fronten verhärten sich, weil aus der Ferne jeder nur das wahrnimmt, was die eigene Meinung bestätigt. Amin Al Magrebi, der Berliner Geschichts-Student, ist sich seiner Vorurteile bewusst. In einem Uni-Seminar traf er eine Syrerin mit einem typisch alawitischen Nachnamen. Instinktiv dachte er, sie sei bestimmt Assad-Anhängerin und vermied jedes Gespräch. Doch dann kam Amin ins Grübeln.
"Auch wenn sie Alawitin ist, auch wenn sie Assadistin ist – sie ist nicht diejenige, die mir meine Träume kaputtgemacht hat und mich jetzt mit Traumata gelassen hat. Und vielleicht ist sie auch gewissermaßen schon genug traumatisiert? Vielleicht hat sie auch Verwandte, die im Krieg gestorben sind, egal ob sie wirklich Kriegsverbrecher sind oder unschuldige Leute, die sich am falschen Ort befunden haben. Es ist auch nicht so cool, wenn man einen Verwandten hat, der zu einem Kriegsverbrecher wird und dann stirbt."
Nicht gelungen, eine syrische Identität zu entwickeln
Was den Syrern fehlt, ist ein einendes Band. Seit der Staatsgründung Syriens 1930 ist es nicht gelungen, eine syrische Identität zu entwickeln, die sämtliche Bevölkerungsgruppen als gleichberechtigte Bürger miteinschließen würde. Die seit 1963 regierende Baathpartei und die Herrschaft der Assads seit 1970 haben jeden offenen Diskurs über ein gemeinsames Selbstverständnis verhindert. Generationen von Syrern sind morgens in Schuluniform angetreten, um Assad und die arabische Nation hochleben zu lassen. Was Syrer bis heute zusammenhält, ist deshalb entweder ihr Nationalismus oder die eigene Konfession.
Rechtsanwältin Nahla Osman kennt das tiefsitzende Misstrauen der Syrer untereinander aus eigener Erfahrung.
"Ich hatte letztens sechs kurdische Aktivisten, die wollten fragen, wie sie einen Verein gründen können, weil sie wollen Hilfe in Qamishli zum Beispiel oder in anderen kurdischen Gebieten organisieren. Und dann hat einer von denen gesagt, ‚meinst du nicht, dass die Nahla Osman anti-kurdisch ist?‘, und dann hat der andere gesagt, ‚Nein, wie kommst du denn darauf?‘ Und dann haben sie sich untereinander gestritten. Und dann waren sie bei mir und dann habe ich ihnen gesagt, ‚hier hallo, vier meiner Cousinen sind mit Kurden verheiratet, ich kenne das seit klein auf. Da gibt es keinen Konflikt untereinander.‘ Und ich glaube, das müssen wir einfach lernen."
Die Anfeindungen zwischen syrischen Arabern und Kurden haben sich durch das militärische Eingreifen der Türkei im Norden des Landes verstärkt. Betrachten sunnitische Araber den türkischen Präsidenten Erdogan als Verbündeten, ist er für Kurden ein Aggressor. Die Tatsache, dass ehemalige syrische Aufständische inzwischen in Ankaras Auftrag gegen ihre eigenen kurdischen Landsleute kämpfen, erschwert die Diskussion zusätzlich.
Lernen, sachlich miteinander zu kommunizieren
Umso dringender müssten die Syrer lernen, sachlich miteinander zu kommunizieren, meint Samer Alhakim. Der 35-Jährige lebt seit 2009 in Deutschland und arbeitet als Softwareingenieur in Nürnberg. Statt jeden politischen Widerspruch als persönlichen Angriff misszuverstehen, sollten die Syrer versuchen, Meinungsverschiedenheiten auszuhalten und Kompromisse auszuhandeln, sagt Alhakim. Genau das versucht die Initiative Visions For Syria – ein loser Zusammenschluss junger Syrerinnen und Syrer. Im Sommer 2019 organisierte sie ein politisches Sommercamp, bei dem 40 Leute drei Tage lang über Identität, Diskriminierung und die Folgen der Revolution diskutierten. Samer Alhakim ist noch heute begeistert.
"Zum ersten Mal habe ich mit unterschiedlichen Menschen aus Syrien über ganz dringende Fragen innerhalb Syriens diskutiert. Zum ersten Mal habe ich mich gefühlt, so soll die Diskussion in Syrien sein, oder unter den Syrern, so soll es sein. Das bedeutet nicht, dass wir einer Meinung waren, es gab Diskussionen, aber sie waren sehr konstruktiv."
Bildnummer: 59574706 Datum: 23.04.2013 Copyright: imago/Gallo Images Scenes in Syria DARKOUSH, SYRIA - APRIL 23: A FSA Free Syrian Army soldier in a room where political prisoners were hanged by Al-Assad forces inside the central prison on April 23, 2013, in Darkoush, Syria. The prison was bombarded by fights between Al-Assad forces and Fee Army fighters three months ago. ( PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY Gesellschaft Syrien Fotostory Bürgerkrieg Rebellen xjh x1x 2013 quer 59574706 Date 23 04 2013 Copyright Imago Gallo Images Scenes in Syria Syria April 23 a FSA Free Syrian Army Soldier in a Room Where Political Prisoners Were hanged by Al Assad Forces Inside The Central Prison ON April 23 2013 in Syria The Prison what bombarded by Fights between Al Assad Forces and Fee Army Fighters Three MONTHS PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY Society Syria Photo Story Civil war Rebels XJH x1x 2013 horizontal
Mutmaßliche Folterer aus Syrien in Deutschland vor Gericht
Vor neun Jahren gingen viele Menschen in Syrien für Freiheit und Gerechtigkeit auf die Straßen. Das Regime in Damaskus schlug mit voller Härte zurück. Hunderttausende verschwanden in den Gefängnissen.
Angesichts der vielen Themen, die für Syrer in Deutschland wichtig sind, sollten diese effektiver zusammenarbeiten, fordert der Ingenieur. Beim Aufenthaltsrecht und Familiennachzug, bei der Pflicht zur Passbeschaffung bei der syrischen Botschaft und bei der juristischen Aufarbeitung der in Syrien begangenen Verbrechen.
"Heute sind wir wieder vor dem Oberlandesgericht Koblenz."
Appell an die Innenminister
Seit April fährt Samer Alhakim regelmäßig nach Koblenz zum Oberlandesgericht. Dort sind zwei ehemalige syrische Geheimdienstmitarbeiter angeklagt – wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, 58-fachen Mordes und Folter in mindestens 4.000 Fällen. Im Internet schildert Alhakim seine Eindrücke von dem Prozess, im Juni schickt er aus Koblenz eine Botschaft an die Innenminister, die – wieder einmal – über Abschiebungen nach Syrien diskutieren.
"Ich möchte Sie fragen: Mit wem wollen Sie sprechen? Mit den Geheimdienstlern Assads, die schon seit Jahrzehnten eine grausame Todes- und Foltermaschinerie führen? Wollen Sie mit Menschen kooperieren, gegen die internationale Haftbefehle stehen und gegen die die Bundesstaatanwaltschaft ermittelt?"
Politisch aktive Syrer, die sich wie Samer Alhakim für die Werte des Grundgesetzes einsetzen, könnten sich als Partner in einem gemeinsamen Kampf für Bürgerrechte und Freiheit anbieten. Eine solche Allianz würde nicht nur die sich formierende syrische Diaspora stärken, sondern auch das demokratische Selbstverständnis der deutschen Einwanderungsgesellschaft.