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Syrische Flüchtlinge in Nahost
"Die Menschen verlieren jegliche Perspektive"

Die Situation in den Flüchtlingslagern in den Nachbarländern Syriens habe sich in den vergangenen Jahren verschlechtert, sagte der Generalsekretär der Deutsch-Syrischen Gesellschaft, Salem El-Hamid, im DLF. Die Menschen wollten nach Deutschland. Gleichzeitig müsse Deutschland mehr zur Beilegung des Syrien-Konflikts beitragen, mahnte El-Hamid.

Salem El-Hamid im Gespräch mit Jasper Barenberg | 10.09.2015
    Der Generalsekretär der Deutsch-Syrischen Gesellschaft, Salem El-Hamid
    Der Generalsekretär der Deutsch-Syrischen Gesellschaft, Salem El-Hamid (picture alliance / dpa / Marius Becker)
    In den Flüchtlingslagern in den syrischen Nachbarländern könnten die Kinder nicht zur Schule gehen, so El-Hamid. Es sei schwierig, Arbeit zu finden und es gebe keine staatliche Unterstützung wie das Kindergeld in Deutschland. Die Menschen hätten nun gemerkt, dass keine rasche Lösung in Sicht sei. Er sprach von "einer Generation von Menschen, die überhaupt keine Zukunft mehr sehen".
    Es sei keine Alternative, in Syrien zu bleiben. Dort müssten sich die Menschen in ihren Häusern verstecken. "Da wird keiner verschont." El-Hamid betonte, dass Deutschland das Lieblingsland der Menschen im Orient sei. "Die Menschen mögen Deutschland." Vor dem Konflikt sei es schwer gewesen, ein Touristenvisum zu erhalten. Nun schafften es die Leute durch Schlepper, in die Bundesrepublik zu kommen. Unter den Flüchtlingen seien viele Ärzte, Ingenieure und Studenten.
    Der Generalsekretär der Deutsch-Syrischen Gesellschaft appellierte an Deutschland, gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien den Einfluss auf die in den Syrien-Krieg verwickelten Staaten geltend zu machen. Es habe keinen Sinn, den Flüchtlingen nur hier zu helfen, wenn der Stellvertreterkrieg in Syrien weitergehe.

    Das komplette Interview zum Nachlesen:
    Jasper Barenberg: Zig Tausende Flüchtlinge sind schon in Deutschland angekommen. Zig Tausende weitere werden folgen. Entlang der sogenannten Balkan-Route sind nach Schätzungen des UN-Flüchtlingshilfswerks allein in Griechenland gerade weitere 30.000 Menschen unterwegs. Sie fliehen vor dem Krieg im Irak oder vor der Gewalt in Afghanistan. Vor allem aber kommen im Moment immer mehr Syrer zu uns. Aber wer kommt da eigentlich gerade und warum gerade jetzt?
    - Darüber können wir in den nächsten Minuten mit Salem El-Hamid sprechen, dem Generalsekretär der Deutsch-Syrischen Gesellschaft. Schönen guten Morgen!
    Salem El-Hamid: Guten Morgen.
    Barenberg: Es werden ja gewöhnlich zwei Erklärungen dafür gegeben, warum gerade jetzt so viele Syrer zu uns kommen. Das Ausmaß der Gewalt und der Zerstörung in Syrien selber habe noch einmal zugenommen und außerdem seien die Menschen nicht mehr hoffnungsvoll, in keiner Weise, dass es irgendeine Wende zum Besseren geben könnte. Sind das zwei wichtige Gründe?
    El-Hamid: Ja, das sind sicherlich wichtige Gründe. Aber es sind nicht nur die, sondern, wissen Sie, Flucht ist meist nicht nur aus einem Grund oder aus zwei Gründen. Es sind meistens mehrere Gründe. Einer der wichtigsten Gründe ist die Perspektivlosigkeit der Menschen. Sie wissen ja, die Flucht hat begonnen seit zirka fünf Jahren mittlerweile. Wir haben Leute in den Flüchtlingslagern in der Türkei, in Jordanien, im Libanon und überall. Und diese Leute haben am Anfang gedacht, die Sache würde ja nicht so lange dauern. Es hat keiner gedacht, dass es fünf Jahre dauert. In der Zwischenzeit merkt man, das ist überhaupt keine Lösung in Sicht. Und auch die Lage hat sich in den Lagern in den letzten Jahren deutlich verschlechtert. Die Kinder können nicht mehr zur Schule gehen. Das müssen Sie sich mal vorstellen. Die Familien wollen ihre Kinder zur Schule schicken, da gibt es keine Schulen mehr. Also entwickelt sich eine Generation von Menschen, die überhaupt keine Zukunft mehr sehen. Das ist eigentlich der wichtigste Grund, warum jetzt die Welle in der letzten Zeit deutlich zugenommen hat.
    Barenberg: Lassen Sie uns noch gerade sprechen über die, die bisher in Lagern in Jordanien, in der Türkei, im Libanon gewesen sind. Was macht ein Aufenthalt von mehreren Monaten oder mehreren Jahren mit einer Familie aus Syrien? In welchem Zustand, wenn ich das so sagen darf, ist eine Familie, wenn sie ein paar Jahre in einem solchen Lager verbracht hat?
    El-Hamid: Die haben Probleme, Arbeit zu finden. Wissen Sie, zum Beispiel die Lage im Libanon, die sehen Sie ja jeden Tag im Fernsehen. Die Leute haben große Probleme, Arbeit zu finden. Im Libanon besteht die Bevölkerung mittlerweile fast zu einem Viertel aus Syrern. Und viel Arbeit gibt es nicht und auch überhaupt keine Unterstützung seitens der Regierung, so wie hier zum Beispiel bei uns in Deutschland. Die Türkei gibt kein Kindergeld und keine Unterstützung, auch der Libanon nicht oder Jordanien auch nicht. Zwar gibt es eine gewisse Hilfe von den Organisationen, von der UNO, aber das reicht nicht, eine Familie komplett zu ernähren. Die Menschen verlieren jegliche Perspektive und deswegen ist das einer der wichtigsten Gründe, meiner Meinung nach. Natürlich hat in letzter Zeit die ISIS an Einfluss in Syrien zugenommen. Sie haben es ja sicher in den Nachrichten mitverfolgt, als sie jetzt vor kurzem Palmyra besetzt haben. Und sie machen sich in Richtung Homs auf den Weg und sogar versuchen sie, an Damaskus heranzukommen an der Küste.
    Barenberg: Wir hören aber auch von diesen Fassbomben, die Assads Luftwaffe auf die Menschen in den umkämpften Städten fallen lässt. Welche Rolle spielt das? Hat auch in Syrien der Exodus zugenommen in den letzten Wochen und Monaten?
    El-Hamid: Ja! Das ist ein Krieg! Das müssen Sie sich einmal vorstellen. Ich nehme als Beispiel irgendeine Stadt. Da wird gekämpft und da wird natürlich mit aller Gewalt gekämpft, sowohl mit Bomben als auch mit Raketen. Da sind Menschen in ihren Häusern versteckt und die werden von beiden Seiten bedroht. Es wird keiner verschont. Bomben kennen kein genaues Ziel. Da werden Menschen getötet, die überwiegend unschuldig sind. Und natürlich fliehen die Leute. Ich kenne viele Familien, zum Beispiel meine eigene. Meine Brüder sind einmal geflüchtet am Anfang Richtung al-Hasaka, dann wieder nach Aleppo und dann von Aleppo wieder nach Damaskus. Die Leute suchen nach einem sicheren Ort und das ist auch logisch und verständlich.
    Barenberg: Wenn man sich dann entschließt, Syrien zu verlassen, oder ein Flüchtlingslager in der Region, das kostet viel Geld, man muss Schlepper bezahlen. Kommen am Ende nur Menschen, schaffen es am Ende nur Menschen nach Europa, nach Deutschland, die über Geld verfügen, um all das bezahlen zu können?
    El-Hamid: Eigentlich zum großen Teil ja. Es hat begonnen vor ein paar Jahren. Die Preise schwanken zwischen 3000 Dollar bis 12.000 Dollar. Wer Luxus haben will, der bezahlt mehr. Der kriegt ein Flugticket über die Türkei oder über Griechenland oder irgendwo. Und wer weniger bezahlen kann, der muss ein bisschen laufen. Wer 3000 oder 2000 bezahlt, der muss mehr riskieren. Das hat schon so begonnen am Anfang. Ich habe auch verfolgt und gesehen, wie viele Leute nach Deutschland kommen durch die Schlepper. Da ist ein Wettbewerb und wer mehr Geld hat, hat mehr Sicherheit, wer weniger Geld hat, hat weniger Sicherheit.
    Barenberg: Heißt das auch, dass es vor allem Angehörige, sagen wir, der Mittelschicht aus Syrien schaffen, Angehörige der Mittelschicht oder junge Akademiker?
    El-Hamid: Ja, das ist so wie gesagt. Diese Mittelschicht, diejenigen, die Geld haben, die haben weniger Risiko. Die bezahlen Geld und da gibt es Schlepper, die sie nach Deutschland bringen. Und das sind ja Tausende.
    Barenberg: Was für ein Deutschland-Bild haben die, die sich auf den Weg machen nach Europa und speziell nach Deutschland? Ist Deutschland so etwas wie ein Sehnsuchtsort geworden?
    El-Hamid: Ja, wissen Sie, Deutschland war eigentlich immer das Lieblingsland von den Menschen im Orient. Wir alle haben ja ein unheimlich schönes Bild von Deutschland. Deutschland hat ja eine bestimmte historische Geschichte, auch eine sehr gute Geschichte mit der arabischen Welt. Die Menschen mögen Deutschland. Das war immer so. Es war aber schwierig, natürlich, legal nach Deutschland überhaupt zu kommen, auch als normaler Mensch ein Touristenvisum zu bekommen von der deutschen Botschaft, sehr, sehr schwierig, auch für Akademiker, auch für Verwandte. Auf einmal schaffen es jetzt die Leute durch die Schlepper, einfach nach Deutschland zu kommen. Und das ist wie ein Wechsel in der ganzen Situation. Und natürlich, Deutschland ist immer beliebt bei den Menschen dort.
    Barenberg: Sie arbeiten als Arzt hier in Deutschland.
    El-Hamid: Ja.
    Barenberg: Wer wendet sich an Sie? Wer fragt bei Ihnen nach, welche Möglichkeiten es gibt, hier in Deutschland eine Zukunft aufzubauen?
    El-Hamid: Bei mir melden sich natürlich viele Ärzte, auch alle möglichen Menschen, aber überwiegend Ärzte. Die suchen Arbeit, die suchen Ausbildung vor allem. Ich versuche, Menschen auch zu helfen, ihnen eine Facharztausbildung zu vermitteln an bestimmten Krankenhäusern, in bestimmten Einrichtungen. Das habe ich eigentlich immer getan, auch schon vor den Ereignissen jetzt. Jetzt natürlich in dieser Zeit sind die Zahlen anders als vor ein paar Jahren.
    Barenberg: Und sind Sie zuversichtlich, dass es vielen Flüchtlingen aus Syrien gelingen wird, hier eine Arbeit zu finden, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen?
    El-Hamid: Viele Menschen können Arbeit finden, vor allem die gut ausgebildeten Leute. Wir haben viele Ärzte, Ingenieure, Studenten, alles Mögliche. Die werden sicherlich ihre Zukunft hier finden. Aber in diesem Zusammenhang möchte ich noch mal etwas sagen. Ich denke, Deutschland spielt eine entscheidende Rolle bei der Hilfe für die Menschen in Syrien. Ich würde aber auch darauf hinweisen, Deutschland kann auch mehr machen, um an das Problem heranzukommen, um dabei zu helfen, eine Lösung zu finden, damit diese Flüchtlingswelle einigermaßen abebbt.
    Barenberg: Was wäre das?
    El-Hamid: Das wären nach meiner Meinung zwei oder drei Aspekte. Das Wichtigste: Erst mal kann Deutschland viel machen, vor Ort zu helfen. Deutschland hat viel Geld, hat viele Möglichkeiten, hat viel Know-how, Technik, zum Beispiel die Elektrizität in Syrien in Gang zu bringen. Sogar in Damaskus, in den großen Städten fehlt der Strom manchmal 18 Stunden am Tag oder 15 Stunden am Tag. Das Wasser wird unterbrochen. Viele Infrastrukturprobleme gibt es. Dabei ein bisschen zu helfen, die aufzubauen, damit den Menschen vor Ort geholfen wird, sodass viele nicht unbedingt fliehen müssen. Das ist das eine und das Zweite, was eigentlich das Wichtigste ist, meine ich, dass Deutschland mit Frankreich und mit England zusammenarbeitet. Das sind die großen europäischen Staaten, die mächtig sind in Europa. Die müssen ihren Einfluss bei den Amerikanern geltend machen: Die Amerikaner die regionalen Mächte am Ort, die eigentlich hauptsächlich für den Krieg verantwortlich sind - das ist Saudi-Arabien, das ist die Türkei und Iran -, die müssen es hinbekommen, diesen Stellvertreterkrieg zu beenden, damit die Leute am Ort bleiben. Es hat ja keinen Sinn, dass man weiter den Menschen hilft, aber der Krieg weiterläuft.
    Barenberg: Ein Appell heute Morgen hier im Deutschlandfunk von Salem El-Hamid, dem Generalsekretär der Deutsch-Syrischen Gesellschaft. Danke für das Gespräch heute Morgen.
    El-Hamid: Ich danke Ihnen auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.