Freitag, 29. März 2024

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Takis Würger: "Noah"
Je dramatischer die Ereignisse, desto sternenklarer der Himmel

Takis Würgers 2019 erschienener Roman „Stella“ führte zu einer der heftigsten Kontroversen im deutschsprachigen Literaturbetrieb seit Langem. In seinem neuen Buch erzählt er die Geschichte des Auschwitz-Überlebenden Noah Klieger. Auch diesmal ist Takis Würgers Umgang mit historischen Fakten fragwürdig.

Von Christoph Schröder | 03.03.2021
Noah Klieger und das Buch von Takis Würger: „Noah. Von einem, der überlebte“
"Noah" basiert auf der Biografie des Auschwitz-Überlebenden Noah Klieger (Foto: IMAGO / Michael Wigglesworth, Buchcover: Penguin Verlag)
Bereits in "Stella" hatte Noah Klieger einen Kurzauftritt. Dort verprügelt er in einer Berliner Bar im Juli 1942 zwei SS-Leute. Auch angesichts dieser Szene wurde die Frage diskutiert, ob Würger seine historischen Figuren nicht als bloße Staffage für eine rasant erzählte Nazischnurre missbraucht haben könnte.

Würger hat Klieger kennengelernt

"Noah", das neue Buch, muss differenzierter betrachtet werden: Takis Würger hat Noah Klieger 2017 persönlich kennengelernt. Daraufhin ist der Autor nach Tel Aviv geflogen, hat sich dort zweieinhalb Monate aufgehalten und sich immer wieder mit dem alten Mann getroffen. Im Dezember 2018 starb Noah Klieger im Alter von 93 Jahren. Takis Würger eröffnet Kliegers Lebensbericht mit einer fast leeren Seite, auf der nur zwei Sätze stehen:
"Im Frühling des Jahres 2018 sitzt in Tel Aviv ein alter Mann unter einem Kumquatbaum im Garten eines Hochhauses und erzählt seine Geschichte. Sie geht so."
Dadurch bestätigt der Autor sich selbst die Authentizität, die sein Erzählen absichert.
Noah Klieger wurde 1925 in Straßburg geboren. Er und seine Eltern retteten während des Zweiten Weltkriegs jüdische Kinder vor der Verhaftung. Im Jahr 1942 wurde Klieger von der Gestapo festgenommen und 1943 nach Auschwitz gebracht, wo er wie durch ein Wunder überlebte; unter anderem dadurch, dass er sich als Boxer ausgab und in der vom SS-Hauptsturmführer Schwarz initiierten Boxertruppe des Lagers unterkam.
Klieger überstand die Todesmärsche, organisierte 1947 die illegale Auswanderung jüdischer Überlebender nach Palästina, wurde unter lebensgefährlichen Umständen gegen seinen Willen zurück nach Deutschland gebracht, bevor er mit der Staatsgründung endgültig nach Israel übersiedelte und dort ein bedeutender Sportjournalist wurde.

Das Buch umfasst die Jahre 1942 bis 1948

Würgers Buch setzt ein mit Kliegers Verhaftung in Belgien 1942 und endet, abgesehen von einem kursorischen Exkurs, mit seiner Ankunft in Israel 1948.
Jede Generation, das muss man Würger zugutehalten, hat ihren eigenen Blick auf Geschichte und deren Darstellungsmöglichkeiten. Auffällig ist Würgers übergroßes Interesse für vermeintlich kuriose Nebenaspekte:
"Beppo wuchs zu einem Mann heran, der sich für Kunst und Blondinen interessierte, Geige spielte und ein Theaterstück schrieb, das zugunsten eines Kinderheims aufgeführt wurde."
Beppo, so erfahren wir, war in dessen Kindheit der Rufname des KZ-Arztes Josef Mengele. Dass er sich für Blondinen interessiert haben soll, weiß Würger mutmaßlich nicht von Noah Klieger. Wohl aber, dass Mengele sich in Auschwitz den Häftlingen dadurch ankündigte, dass er stets laut eine Melodie aus Verdis "Rigoletto" vor sich hin pfiff.

Beglaubigte Aussagen und kolportagehafte Fiktion

So vermischt Würger beglaubigte Aussagen mit kolportagehafter Fiktion zu einem untergründig tremolierenden, an der Oberfläche karg gehaltenen Sound. Die Technik ist durchschaubar und wird von Würger routiniert zum Einsatz gebracht:
"Der Blockälteste Diedrich sagte im Januar 1945, Auschwitz werde geräumt. Die Häftlinge hatten sich in den frühen Morgenstunden auf dem Appellplatz aufzustellen."
Zwei Sätze, die reine Information liefern. Darauf folgt:
"Es war eine schöne Nacht, kalt und klar."
Passagen dieser Art gibt es etliche. Die Kontrastierung von Schrecken und Schönheit extrapoliert zum einen das Grauen noch einmal überflüssigerweise. Zum anderen suggeriert dieses Verfahren eine reportagehafte Nähe zum Geschehen, die wohl den atemlosen Stakkato-Tonfall des Buches rechtfertigen soll. Man könnte daraus die Würger'sche Erzählkonstante ableiten: Je dramatischer die Ereignisse, umso sternenklarer der Himmel. Für eine derart vorsätzliche Aneinanderreihung trivialer Effekte wurde das Wort Kitsch erfunden.

Aufgedonnertes Pathos

Ob Noah Klieger sich an solche Details tatsächlich erinnert hat, ist zweitrangig. Verantwortlich für den Stil des Buches ist der Autor, nicht der Gegenstand des Erzählens. Takis Würger hat Noah Kliegers Biografie sein aufgedonnertes Pathos übergestülpt. Als Noah Klieger mit dem Schiff in Haifa ankommt, klingt das bei Würger folgendermaßen:
"Noah Klieger, Überlebender Deutschlands, des Zweiten Weltkriegs und Auschwitz. Noah Klieger, ein junger Mann, 21 Jahre alt, mit einer mehrfach gebrochenen Nase, der keinen Pass mehr hatte und einen Körper voller Wunden und Narben, der nur einen Wunsch hatte, heimzukehren in diese Heimat, die er zum ersten Mal sah."
Aus Würgers pastoralem Duktus spricht eine erstaunliche Unwilligkeit zur Differenzierung. Der Sensationsreporterstil ebnet alles ein, will alles gleichermaßen bedeutsam erscheinen lassen. Würger macht sich den Stoff gefügig, indem er ihn in Anekdoten portioniert.

Vibrato der Selbsterregung

Alice Klieger, Noah Kliegers Nichte und seine letzte lebende Verwandte, hat zu "Noah" ein Nachwort geschrieben, in dem sie betont, wie wichtig es sei, dass das beeindruckende Schicksal ihres Onkels für die Nachwelt festgehalten werde. Damit hat sie selbstverständlich recht. Keinesfalls taugt "Noah" für einen Skandal. Dass Takis Würger aus den Erzählungen Noah Kliegers kein anderes, sondern dieses Buch gemacht hat, ist möglicherweise ein Symptom. Es zeigt den Typus eines Autors, dessen schriftstellerische Legitimation im Vibrato der Selbsterregung liegt.
Takis Würger: "Noah"
Penguin Verlag, München. 184 Seiten, 20 Euro.