Weiter, immer weiter, im Oval, schnell, langsam, zu Beginn noch mit leichter, feuriger Energie, zunehmend verschwitzt und schwer atmend, schließlich erschöpft und aufgewühlt vom haltlosen Laufen, der Dynamik, dem Rhythmus der Live-Musik von Marc Lohr und Mieko Suzuki – der ‚Totentanz’, der sich nur im Titel auf ein Solo der Ausdruckstänzerin Mary Wigmann bezieht, hat die Teilnehmer des Tanzkongresses in eine große, ja überwältigende kollektive Bewegung gebracht.
Im Zentrum des Sturms entsteht eine fragile Skulptur aus biegsamen Holzlatten, eine komplexe, aber transparente Struktur, die zum Schluss, als alle zur Ruhe gekommen sind, eine Verbindung zwischen den vielen Einzelnen schafft.
Gesellschaftliche und künstlerische Impulse
Diese aufgeladene Bewegungsmediation unter der Leitung der Künstlerin Maria Scaroni im großen Saal des Festspielhauses war nicht nur ein energetischer, für viele sehr persönlicher und natürlich kollektiver Höhepunkt des bis zum Schluss geheim gehaltenen Programms, sondern verwirklichte auch zu 100 Prozent das, was dieser ungewöhnliche Tanzkongress vor allem wollte: einen gemeinschaftlichen Erfahrungsraum bieten, in dem gesellschaftliche und künstlerische Impulse gesetzt werden.
Esoterik pur, geheimbündlerisches Gebaren, exklusives Zirkeltum – das waren schon im Vorfeld die Vorwürfe, die auf den von der Choreografin Meg Stuart konzipierten Tanzkongress einprasselten. Streng limitierte Plätze und die Voraussetzung, auf jeden Fall alle fünf Tage anwesend zu sein und sich selbst gestaltend einzubringen, gelten mitunter auch in der Tanzszene schon als unüberwindliche Teilnahmebedingungen. Und waren doch wichtig für das, was bei diesem Tanzkongress entstanden ist – denn das ist nicht kompatibel mit künstlerisch-intellektuellem Konsumismus.
Zeitgenössische Version einer künstlerischen Utopie
In einer geradezu gleitenden Zeitdramaturgie fanden unter anderem Gespräche über die Beziehungen zwischen Kunstschaffen und Gemeinschaftsbildung statt – an großen Tischen, die nicht nur zur Konversation, sondern auch zum darauf stehen, sitzen, liegen und tanzen einluden. Es wurde geboxt und geatmet, gemeinsam gekocht und abgewaschen, über Klubkultur und Drogen reflektiert, über Identitätspolitik debattiert und von einer Tanzkritikerin mit der Tanzkritik abgerechnet.
Ein abendliches Essen, zu dem man sich spontan kostümieren konnte, erinnerte an die wilden Bauhausfeste der zehner und 20er-Jahre – und überhaupt, es passte alles so hervorragend an diesen Ort, der schon vor mehr als 100 Jahren mit seinen künstlerischen Experimenten die Gemüter gespalten hat. Das Festspielhaus mit dem angrenzenden Park blühte in diesen fünf Tagen jenseits aller Nostalgie auf als zeitgenössische und sehr zeitgemäße Version jener künstlerischen Utopie, die der Architekt Heinrich Tessenow und der Musikpädagoge Èmil Jacques-Dalcroze am Rande der Gartenstadt Hellerau für einen kurzen Moment in der Geschichte verwirklicht hatten.
Wegweisende Schritte aber zu wenig Breitenwirkung
Die aktuelle politische Kombination aus Zeit und Ort – also Sachsen im Jahr 2019, in dem eine viel zu starke AfD-Plakate klebt mit Slogans wie "Kein Cent für politisch motivierte Kunst" – blieb dagegen völlig außen vor. Gut, dass sich die Tanzszene, anders als der Journalismus mitunter, ihre Diskurse nicht von den Allerdümmsten aufzwingen lässt. Mehr Ausstrahlung in die Stadt hinein hätte es aber gebraucht.
Doch auch beim Publikumstag "Down by the water" am Rande der Elbe blieb man weitgehend unter sich; dass beim Schweigespaziergang auf den Spuren Mary Wigmans durch die Innenstadt Dresdens aus einem Auto der Ruf erscholl "Da seid ihr wieder, ihr Hippies" reicht nicht für die Gewinnung einer erweiterten öffentlichen Aufmerksamkeit.
Die Kulturstiftung des Bundes hat erstmalig die Verantwortung für eine solche Großveranstaltung in die Hände einer Choreografin gelegt – ein wichtiger und wegweisender Schritt für die Anerkennung, nicht nur der Kunst, sondern auch der Künstler und ihrer Arbeitsweisen. Dass noch mehr Menschen als die Teilnehmer davon mitbekommen, sollte – neben den zahllosen körperlichen, geistigen und ja, vielleicht mitunter auch spirituellen Inspirationen – als Anregung für den nächsten Tanzkongress mitgenommen werden.