Carstensen: "Nach den Geschehnissen der vergangenen Wochen und besonders nach den Geschehnissen der vergangen Tage, lassen Sie mir nach dieser Abstimmung keine andere Wahl. Von daher beantrage ich gemäß Paragraph 36 Absatz 1 der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein mir das Vertrauen auszusprechen."
Nun also die Vertrauensfrage. In äußerst gereizter Atmosphäre tagte heute an der Kieler Förde das Landesparlament. Der gläserne Plenarsaal, auch Aquarium genannt, war bis auf den letzten Platz besetzt, einschließlich der Besuchertribüne. Und dann kam wie erwartet die notwendige Zweidrittel-Mehrheit für die Selbstauflösung des Parlaments nicht zustande.
Nun wird der seit gestern wegen einer Falschaussage in die Defensive geratene Ministerpräsident Peter Harry Carstensen die Vertrauensfrage à la Gerhard Schröder stellen. Also fingiert und unter Strapazierung der Verfassung, wird er sie absichtlich verlieren, um so den Weg für Neuwahlen zu bereiten. Letztlich eine Farce, denn es scheint klar, dass die Union die aktuell für sie guten Umfragewerte ausnutzen will, um zudem im Schatten Angela Merkels, wie die SPD meint, am 27. September die Wahl in Kiel zu gewinnen. Damit könnte man dann, so hofft man bei der CDU, auch den unbequemen und aus ihrer Sicht bisweilen nervigen Koalitionspartner SPD, mit Ralf Stegner an der Spitze los werden und ein gewünschtes schwarz-gelbes Bündnis mit der FDP eingehen.
Vor allem der Liberalenchef Wolfgang Kubicki hatte in den vergangenen Wochen und Monaten mit Spott und Häme das gespannte Verhältnis in der Kieler Koalition kritisiert und da besonders ganz gezielt den SPD-Landes- und Fraktionschef Stegner ins Visier genommen:
"Wer erklärt, dass der Regierungschef ein Dilettant ist und unvermögend ist, kann doch nicht eine Politik unter diesem Ministerpräsident vorsetzen wollen. Aber auch die CDU kann nicht erklären, warum sie noch mit einer SPD in einer Regierung zusammensitzen möchte, wenn der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU, Gertz, das Wort, Frau Präsidentin, ich muss es zitieren, Kotzbrocken für Dr. Stegner ins Spiel bringt. Mit dieser Konstellation und mit dieser Koalition muss Schluss sein."
Die Geschichte dieser Koalition ist seit dem Jahr 2005 tatsächlich die Chronik einer Dauerkrise. Zwangsehe, Krisenkabinett, Putsch - das sind nur einige der Stichworte, die in den letzten vier Jahren diese Regierung begleiteten. Vor wenigen Tagen noch meldete sich gewissermaßen aus dem Off und Out die 2005 aus dem Regierungssessel katapultierte ehemalige Ministerpräsidentin Heide Simonis. Sie hatte seinerzeit die zur Wiederwahl im Parlament notwendige Mehrheit um eine Stimme verfehlt. Seither lag auch auf der SPD-Fraktion der Mehltau von Misstrauen, weil der Dissident im eigenen Lager vermutet wurde. Sogar der eingestandenermaßen äußerst ehrgeizige Ralf Stegner geriet seinerzeit in Verdacht, seiner Parteifreundin die Stimme versagt zu haben. Nie bewiesen - bis heute rätselt man an der Förde, wer der "Verräter" sein könnte.
Heide Simonis jedenfalls, die glaubt ihren "Königinmörder" zu kennen, meinte jetzt in einem Deutschlandfunk-Interview der Koalitionsbruch sei die Folge einer bösen Tat:
"Das wirkt ja lange nach, so etwas, und wenn daraus eine Koalition entsteht, zwangsweise entsteht, die nicht offiziell von jemandem gewollt wurde, die den ganzen Wahlkampf über abgelehnt worden ist, dann kann man nicht behaupten, dass die beiden plötzlich anfangen sich zu lieben und aus Leidenschaft geheiratet haben, sondern es war kalte Zwecküberlegung."
Doch nicht nur die Parteien passten nicht zueinander, auch deren Protagonisten Carstensen und Stegner waren von Anfang an wie Feuer und Wasser. Hier der zumindest so wirkende joviale und bodenständige Ministerpräsident, dort der flinke und alerte Stegner, der seinen politischen Partner manchmal bis aufs Blut reizte.
Das führte auch dazu, dass Stegner, zunächst Innenminister, auf Druck der CDU seinen Stuhl räumen musste. Zu genervt war der Koalitionspartner von seinen ständig abweichenden Positionen. Vor allem die Debatte um vorgezogene Gehaltskürzungen für Beamte brachte das Fass zum Überlaufen. Stegner wollte diesen Einschnitt entgegen der Absprache abmildern. Schließlich willigte er in den erzwungenen Rücktritt ein.
Und seither ging es rapide bergab mit der Kieler Koalition, zumal Ralf Stegner nach seinem damaligen Ämtertausch mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Lothar Hay nicht mehr in die Kabinettsdisziplin eingebunden war. Er gerierte sich als der wahre Oppositionsführer, zumal er mit einer großen Mehrheit bei seiner Wahl als SPD-Landsvorsitzender im Rücken agieren konnte.
Weitere landespolitische Streitpunkte waren eine geplante Gemeindegebietsreform, Schulbusbeförderung, die Kernkraft und schließlich das Sparprogramm.
Doch trotz aller Streitigkeiten waren sich bis vor wenigen Monaten die beiden Landesvorsitzenden Carstensen und Stegner einig, die Koalition bis zum geplanten Wahltermin im Mai 2010 einzuhalten.
Stegner: "Wir wollen unsere Arbeit bis zum 9. Mai 2010 weiter fortsetzen. 367 Tage Arbeit. Wir wollen also arbeiten und uns dann daran messen lassen."
Auch Peter Harry Carstensen, der auch heftigen Gegenwind aus den eigenen Reihen spürte, beschwor die Einheit des ungeliebten Regierungsbündnisses.
"Wir haben gemeinsam die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, unsere Verantwortung wahrzunehmen. Und ich habe keine Lust hier die Debatten von gestern zu führen, wenn wir an morgen und an übermorgen zu denken haben."
Vor allem einige Rücktritte und Entlassungen schwächten Carstensens Position in der CDU nachhaltig. Zuletzt musste er auf Druck der eigenen Fraktion seinen Regierungssprecher entlassen, schon Monate zuvor war Wirtschaftsminister Werner Marnette zurückgetreten. In beiden Fällen war die Affäre um die HSH-Nordbank der Anlass. Marnette übte schon vor längerer Zeit Kritik an der Unfähigkeit der Politik in Bankgeschäften:
"Die Politik saß mit in den Aufsichtsräten, die haben das alles mitgetragen, und wenn das alles stimmt, dass die Risikomechanismen der Landesbank, also der HSH-Nordbank überhaupt nicht richtig funktioniert haben, das war im Übrigen immer schon mein Kritikpunkt gewesen, dann ist das eine Verantwortungskette, die von ganz oben auf Bundesebene bis in die Bank hinein reicht."
Erst am Wochenende kritisierte Marnette erneut das, wie er von Anfang gemeint hatte, "dilettantische" Vorgehen der Landesregierung, die gemeinsam mit Hamburg einen Drei-Milliarden Kredit und eine Zehn-Milliarden Bürgschaft zur Rettung der Landesbank zur Verfügung stellen musste.
Den Lübecker Nachrichten sagte Marnette gestern wörtlich:
"Man hätte die Koalition auch früher beenden können. Dass jetzt gewählt werden soll, hat auch mit der HSH-Nordbank zu tun. Die Bürger werden die grausame Wahrheit erst nach dem 27. September erfahren."
Tatsächlich ist das Land so gut wie zahlungsunfähig. Wäre dies in den nächsten Monaten schon evident geworden, so wäre eine Wiederwahl des Ministerpräsidenten im kommenden Mai ziemlich unwahrscheinlich. Zudem ist Carstensen in der eigenen Partei seit Längerem auf der Abschussliste. Vor allem der ehrgeizige Fraktionsvorsitzende Johann Wadephul, der vor einigen Jahren als Parteivorsitzender zurücktreten und Carstensen Platz machen musste, hat noch einige Rechnungen offen. Zumal Carstensen dessen Wunsch, nach dem Rücktritt Werner Marnettes Wirtschaftsminister zu werden, brüsk abgelehnt hatte. Wadephul kandidiert jetzt für den Bundestag.
Allerdings ist es in Kiel ein offenes Geheimnis, das Johann Wadephul und FDP-Chef Wolfgang Kubicki ein Tandem bilden, das seit Monaten den Koalitionswechsel und womöglich den Sturz Carstensens vorbereitet.
Doch nicht die 13 Milliarden für die HSH-Nordbank sondern eine vergleichsweise geringe Summe, nämlich eine Bonuszahlung von 2,9 Millionen Euro für den Chef der Landesbank Jens Nonnenmacher und damit verbundene Irritationen brachten das Fass zum Überlaufen.
So behauptete Peter Harry Carstensen, die SPD habe von Anfang an von dieser umstrittenen Zahlung gewusst und ihr zugestimmt. Stegner bestritt dies vehement. Dies sei ein Alleingang der CDU gewesen, dem Entscheidungsgremium Präsidialausschuss der Bank gehöre nicht ein einziger SPD-Politiker an, sehr wohl jedoch drei CDU-Minister.
Am Wochenende eskalierte die Kontroverse nachdem Stegner bei Spiegel Online seinen Kontrahenten Carstensen der Lüge bezichtigt hatte und im Interview mit dem Deutschlandfunk von einem Ablenkungsmanöver sprach.
"Auch die SPD ist dafür - die Koalition ist ja kaputt -, dass es bald zu Neuwahlen kommt, die wird es ja auch geben, aber dafür muss ein anständiger Weg gesucht werden und keiner, wo dem Parlament zugemutet wird, sich selbst aufzulösen und dann auch noch mit der Begründung, die ja Herr Carstensen vorgebracht hat, die SPD sei nicht zuverlässig in der Regierung. Bei aller Liebe, aber den Sozialdemokraten hier im Landtag zuzumuten, dass sie einer solchen Begründung zustimmen, das ist, glaube ich, dann doch ein bisschen viel verlangt."
Lügen und Ablenkungsmanöver in Kiel. Da werden unselige Erinnerungen an die Barschel-Affäre der 80er-Jahre wach, als der damalige CDU-Ministerpräsident mit seinem unwahren Ehrenwort die politische Kultur im Norden vergiftete. Daran erinnerte kürzlich der "Stubenälteste der SPD-Fraktion Günter Neugebauer:
"SPD und CDU standen sich wie Feinde gegenüber. Nun muss man berücksichtigen, der CDU-Landesverband war im Spektrum der Union der rechteste Verband und die Schleswig-holsteinische SPD stand ziemlich links. Auch im Parlament gab das kaum zwischenmenschliche Beziehungen, nicht mal nach den Tagungen traf man sich zu einem Bier."
Und Ralf Stegner ließ seine Fangemeinde über den Twitterdienst wissen:
"Medien zeigen Retro allenthalben: Politik und Publizistik im Stil vom Schleswig-Holstein der 70er-, 80er-Jahre bevor Björn Engholm aufgeklart hat."
Das hat Carstensen nach eigenen Worten besonders tief getroffen. Doch für derartige Gefühlswallungen bleibt ihm wenig Zeit noch Raum, denn am Wochenende musste er kleinlaut eingestehen, in Sachen Bonuszahlungen tatsächlich die Unwahrheit gesagt zu haben. In einem gemeinsamen Brief berufen er und sein Hamburger Kollege Ole von Beust sich auf die Zustimmung der die beiden Regierungen tragenden Fraktionen zu diesem Millionenbonus, vertraglich abgesichert doch moralisch höchst bedenklich. Doch während der Hanseat die Zustimmung seiner Leute einholte, wurde dies in Kiel offenbar versäumt. Und so gestand Carstensen diese Unwahrheit gestern kleinlaut ein:
"Ich habe feststellen müssen, dass diese Formulierung die dort in dem Brief gewählt worden ist, nicht richtig gewesen ist. Aber richtig und Fakt ist gewesen, dass der Innenminister Lothar Hay, Klammer auf: SPD, Klammer zu, sofort informiert worden war, und sein Einvernehmen für dieses Verfahren erklärt hat."
Damit ist in Kiel sehr viel offen. Auch wenn am kommenden Donnerstag das Parlament mit der fingierten Vertrauensfrage den Weg zu Neuwahlen freimacht, so ist überhaupt nicht mehr sicher, ob Carstensen Spitzenkandidat bleibt oder bleiben kann. Er ist nach dem Eingeständnis, das Parlament belogen zu haben, eigentlich nicht mehr tragbar. Als möglicher Nachfolger wird in Kiel der sich bislang vornehm zurückhaltende Landwirtschaftsminister Christian von Boetticher gehandelt. Und zudem erscheint es mehr als fraglich, ob es noch weiterhin Rückenwind aus Berlin geben kann. Ja, dieses Kieler Koalitionschaos kann auch durchaus der Union im Bund schaden.
Das politische Berlin hätte auf das Sommertheater im Norden gut verzichten können. Regierungschefin Angela Merkel, die sich gern als Kanzlerin aller Deutschen und weniger als CDU-Vorsitzende in Szene setzt, spielt die Vorgänge in Kiel herunter, redet sie klein.
"Ich meine, es ist immer gut, wenn Landesregierungen auch gut miteinander zusammenarbeiten. Dort war das offensichtlich nicht mehr möglich und jetzt wählen wir eben noch in einem Landtag. Brandenburg wählt am Tag der Bundestagswahl und dann wählen wir dort auch. Das ficht mich nicht an."
Angela Merkel sind derartig offen geführte Scharmützel ein Graus, sie schätzt geräuschloses Regieren, weshalb Peter Harry Carstensens Karten bei ihr derzeit wohl schlecht sein dürften. Nichtsdestotrotz hat sie dank ihres eigenen ausgeprägten Machtinstinkts Verständnis, dass der Parteifreund in Kiel den Moment guter Umfragen für sich nutzen will.
"In Schleswig-Holstein war es so, wer das intensiv beobachtet hat, dass die Große Koalition, anders als hier im Bund, sich nie so richtig zusammengerauft hat, und das gerade da auch aus der SPD doch immer wieder sehr viele Störfeuer kamen. Jetzt sind alle Fraktionen, außer der SPD-Fraktion im Landtag, für Neuwahlen. Das spricht für sich und das sollte man jetzt, glaube ich, dann auch so machen."
Die Kanzlerin und Chefin einer ebenfalls Großen Koalition ist sichtbar bemüht, dass von Kiel kein Schatten auf ihr Regierungsbündnis fällt, denn das lobt sie, wo sie kann.
Dass von Ereignissen in Kiel erneut dramatische Entwicklungen im Bund ausgehen können, glaubt 2009 niemand. Im Unterschied zu 2005, nach den für die SPD enttäuschend verlaufenen Landtagswahlen, nach denen sich Heide Simonis aber immer noch berechtigte Hoffnungen machte, weiter als Regierungschefin im Amt zu bleiben. Wenige Wochen später, am 17. März 2005, erlebte sie die größte Demütigung ihres Lebens. Die SPD erlitt aufgrund des feigen Abstimmungsverhaltens eines Genossen einen schweren Ansehensverlust. Nach zwölf Jahren an der Spitze der Landesregierung legte Simonis am 27. April 2005 ihr Mandat nieder und schied aus der Politik aus.
"Wir haben in vielen Wahlkämpfen für unsere Ideen und Konzepte gekämpft. Ich war immer gerne mit dabei, leidenschaftlich mit dabei und ich finde, es hat sich gelohnt. Der 17. März dieses Jahres war für uns alle, für die SPD Schleswig-Holstein eine ganz harte und einschneidende Zäsur, die viele von uns bestimmt nicht vergessen werden."
Mit Schleswig-Holstein riss die Kette der Wahlverluste für die SPD nicht mehr ab, Nordrhein-Westfalen am 22. Mai 2005 wurde zum nächsten Desaster, selten klang Ex-Kanzler Schröder so verzweifelt wie danach, als er ankündigte, vorgezogene Neuwahlen anzustreben.
"Mit dem bitteren Wahlergebnis für meine Partei in Nordrhein-Westfalen ist die politische Grundlage für die Fortsetzung unserer Arbeit infrage gestellt. Für die aus meiner Sicht notwendige Fortsetzung der Reformen halte ich eine klare Unterstützung durch eine Mehrheit der Deutschen für unabdingbar. Deshalb betrachte ich es als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland als meine Pflicht und meine Verantwortung, darauf hinzuwirken, dass der Herr Bundespräsident von den Möglichkeiten des Grundgesetzes Gebrauch machen kann, um so rasch wie möglich, also realistischerweise für den Herbst dieses Jahres, Neuwahlen zum Deutschen Bundestag herbeizuführen."
Am 1. Juli 2005 stellte Gerhard Schröder dem Bundestag die Vertrauensfrage.
Während 2005 der Vermittlungsausschuss fast einen Status als Nebenregierung hatte, Gesetzesvorlagen der rot-grünen Koalition fast samt und sonders durch den CDU/FDP-beherrschten Bundesrat blockiert wurden und zu allem Überfluss innerhalb der SPD der Widerstand gegen Schröders Agenda-Politik immer massiver zunahm, sind die Verhältnisse 2009 weitaus übersichtlicher.
Wenngleich wieder eine Wende eingeleitet werden könnte. Allerdings rudern die Schleswig-Holsteiner dieses Mal nicht voraus, sondern schwimmen eher im Fahrwasser mit. Haben sie im Frühjahr 2005 die rot-grüne Landesregierung durch eine große Koalition abgelöst, was sich dann am 18. September im Bund wiederholte, könnten dieses Jahr Kiel und Berlin gemeinsam den Wechsel von der Großen Koalition hin zu einer schwarz-gelben Regierung vollziehen. Was auf jeden Fall dem Wunschszenario von Angela Merkel und Peter Harry Carstensen entsprechen dürfte. FDP-Chef Guido Westerwelle träumte wie einst die Kanzlerkandidatin Merkel schon vom Durchregieren.
"Es wäre eine hervorragende Chance für Deutschland, wenn wir nicht nur eine bürgerliche Mehrheit im Deutschen Bundestag bekämen, sondern auch durch die Landtagswahlen klare Verhältnisse im Bundesrat. Das heißt, dann kann aus einem Guss regiert werden."
Logisch, dass sich die SPD dementsprechend heftig, aber mittlerweile wohl vergeblich gegen vorgezogene Neuwahlen am 27. September statt im kommenden Mai sträubt. SPD-Kanzlerkandidaten Frank Walter Steinmeier hat damit zusätzlich gegen eine steife Brise anzukämpfen, die ihm jetzt aus dem Norden ins Gesicht bläst, als sei seine Mission nicht ohnehin schon schwer genug.
"Herr Carstensen will offensichtlich aus taktischen Gründen einen Wahltermin am 27. September, gleichzeitig mit der Bundestagswahl. Da sucht er jetzt nach Mitteln und Wegen und dazu muss die SPD nicht einverstanden sein. Der Wahltermin liegt im nächsten Jahr und es gibt überhaupt keinen Grund für die CDU, sozusagen mitten im Galopp, aus der Kutsche auszusteigen. Insofern verstehe ich die Haltung der SPD in Schleswig-Holstein."
Bewahrheiten sich die derzeitigen Kieler Umfrageergebnisse, wonach der Zoff an der Küste vor allem dem schleswig-holsteinischen SPD-Partei- und Fraktionschef Ralf Stegner angekreidet wird, könnte es für die Sozialdemokraten mit der Beteiligung an der Landesregierung im Herbst vorbei sein. Und auch im Bund stehen laut Umfragen seit Wochen die Zeichen eher auf Schwarz-gelb. Für Steinmeier eine Konstellation, die die CDU nach ihrer angeblicher Sozialdemokratisierung in eine entgegengesetzte Richtung lenken würde.
"Das neoliberale Gedankengut beziehungsweise das marktradikale Gedankengut, wovon ich lieber spreche, das wird sich Ausdruck verschaffen in einer schwarz-gelben Koalition. Da bin ich völlig sicher. In einer schwarz-gelben Koalition wird die CDU sich zurückorientieren zum Leipziger Programm. Deshalb, wer wirklich will, dass dieses Land, das diese Gesellschaft beieinanderbleibt, trotz Krise und trotz der harten Jahre, die wir vor uns haben, der muss wollen, dass wir eine starke Sozialdemokratie in der Regierung haben. Darauf muss sich auch eine FPD einstellen, wenn es für Schwarz-gelb nicht reicht und ich prophezeie Ihnen, es wird für Schwarz-gelb nicht reichen."
Sollte das Schlaglicht möglicherweise doch noch auf Carstensens gar nicht so reine Weste fallen, müssen nicht nur die Genossen die Helme fester schnallen, denen die Affäre bislang am meisten schadet. Dann dürften sich auch die Kanzlerin und die christdemokratischen Wahlkämpfer im Saarland, in Sachsen und Thüringen bei Carstensen bedanken.
Nun also die Vertrauensfrage. In äußerst gereizter Atmosphäre tagte heute an der Kieler Förde das Landesparlament. Der gläserne Plenarsaal, auch Aquarium genannt, war bis auf den letzten Platz besetzt, einschließlich der Besuchertribüne. Und dann kam wie erwartet die notwendige Zweidrittel-Mehrheit für die Selbstauflösung des Parlaments nicht zustande.
Nun wird der seit gestern wegen einer Falschaussage in die Defensive geratene Ministerpräsident Peter Harry Carstensen die Vertrauensfrage à la Gerhard Schröder stellen. Also fingiert und unter Strapazierung der Verfassung, wird er sie absichtlich verlieren, um so den Weg für Neuwahlen zu bereiten. Letztlich eine Farce, denn es scheint klar, dass die Union die aktuell für sie guten Umfragewerte ausnutzen will, um zudem im Schatten Angela Merkels, wie die SPD meint, am 27. September die Wahl in Kiel zu gewinnen. Damit könnte man dann, so hofft man bei der CDU, auch den unbequemen und aus ihrer Sicht bisweilen nervigen Koalitionspartner SPD, mit Ralf Stegner an der Spitze los werden und ein gewünschtes schwarz-gelbes Bündnis mit der FDP eingehen.
Vor allem der Liberalenchef Wolfgang Kubicki hatte in den vergangenen Wochen und Monaten mit Spott und Häme das gespannte Verhältnis in der Kieler Koalition kritisiert und da besonders ganz gezielt den SPD-Landes- und Fraktionschef Stegner ins Visier genommen:
"Wer erklärt, dass der Regierungschef ein Dilettant ist und unvermögend ist, kann doch nicht eine Politik unter diesem Ministerpräsident vorsetzen wollen. Aber auch die CDU kann nicht erklären, warum sie noch mit einer SPD in einer Regierung zusammensitzen möchte, wenn der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU, Gertz, das Wort, Frau Präsidentin, ich muss es zitieren, Kotzbrocken für Dr. Stegner ins Spiel bringt. Mit dieser Konstellation und mit dieser Koalition muss Schluss sein."
Die Geschichte dieser Koalition ist seit dem Jahr 2005 tatsächlich die Chronik einer Dauerkrise. Zwangsehe, Krisenkabinett, Putsch - das sind nur einige der Stichworte, die in den letzten vier Jahren diese Regierung begleiteten. Vor wenigen Tagen noch meldete sich gewissermaßen aus dem Off und Out die 2005 aus dem Regierungssessel katapultierte ehemalige Ministerpräsidentin Heide Simonis. Sie hatte seinerzeit die zur Wiederwahl im Parlament notwendige Mehrheit um eine Stimme verfehlt. Seither lag auch auf der SPD-Fraktion der Mehltau von Misstrauen, weil der Dissident im eigenen Lager vermutet wurde. Sogar der eingestandenermaßen äußerst ehrgeizige Ralf Stegner geriet seinerzeit in Verdacht, seiner Parteifreundin die Stimme versagt zu haben. Nie bewiesen - bis heute rätselt man an der Förde, wer der "Verräter" sein könnte.
Heide Simonis jedenfalls, die glaubt ihren "Königinmörder" zu kennen, meinte jetzt in einem Deutschlandfunk-Interview der Koalitionsbruch sei die Folge einer bösen Tat:
"Das wirkt ja lange nach, so etwas, und wenn daraus eine Koalition entsteht, zwangsweise entsteht, die nicht offiziell von jemandem gewollt wurde, die den ganzen Wahlkampf über abgelehnt worden ist, dann kann man nicht behaupten, dass die beiden plötzlich anfangen sich zu lieben und aus Leidenschaft geheiratet haben, sondern es war kalte Zwecküberlegung."
Doch nicht nur die Parteien passten nicht zueinander, auch deren Protagonisten Carstensen und Stegner waren von Anfang an wie Feuer und Wasser. Hier der zumindest so wirkende joviale und bodenständige Ministerpräsident, dort der flinke und alerte Stegner, der seinen politischen Partner manchmal bis aufs Blut reizte.
Das führte auch dazu, dass Stegner, zunächst Innenminister, auf Druck der CDU seinen Stuhl räumen musste. Zu genervt war der Koalitionspartner von seinen ständig abweichenden Positionen. Vor allem die Debatte um vorgezogene Gehaltskürzungen für Beamte brachte das Fass zum Überlaufen. Stegner wollte diesen Einschnitt entgegen der Absprache abmildern. Schließlich willigte er in den erzwungenen Rücktritt ein.
Und seither ging es rapide bergab mit der Kieler Koalition, zumal Ralf Stegner nach seinem damaligen Ämtertausch mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Lothar Hay nicht mehr in die Kabinettsdisziplin eingebunden war. Er gerierte sich als der wahre Oppositionsführer, zumal er mit einer großen Mehrheit bei seiner Wahl als SPD-Landsvorsitzender im Rücken agieren konnte.
Weitere landespolitische Streitpunkte waren eine geplante Gemeindegebietsreform, Schulbusbeförderung, die Kernkraft und schließlich das Sparprogramm.
Doch trotz aller Streitigkeiten waren sich bis vor wenigen Monaten die beiden Landesvorsitzenden Carstensen und Stegner einig, die Koalition bis zum geplanten Wahltermin im Mai 2010 einzuhalten.
Stegner: "Wir wollen unsere Arbeit bis zum 9. Mai 2010 weiter fortsetzen. 367 Tage Arbeit. Wir wollen also arbeiten und uns dann daran messen lassen."
Auch Peter Harry Carstensen, der auch heftigen Gegenwind aus den eigenen Reihen spürte, beschwor die Einheit des ungeliebten Regierungsbündnisses.
"Wir haben gemeinsam die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, unsere Verantwortung wahrzunehmen. Und ich habe keine Lust hier die Debatten von gestern zu führen, wenn wir an morgen und an übermorgen zu denken haben."
Vor allem einige Rücktritte und Entlassungen schwächten Carstensens Position in der CDU nachhaltig. Zuletzt musste er auf Druck der eigenen Fraktion seinen Regierungssprecher entlassen, schon Monate zuvor war Wirtschaftsminister Werner Marnette zurückgetreten. In beiden Fällen war die Affäre um die HSH-Nordbank der Anlass. Marnette übte schon vor längerer Zeit Kritik an der Unfähigkeit der Politik in Bankgeschäften:
"Die Politik saß mit in den Aufsichtsräten, die haben das alles mitgetragen, und wenn das alles stimmt, dass die Risikomechanismen der Landesbank, also der HSH-Nordbank überhaupt nicht richtig funktioniert haben, das war im Übrigen immer schon mein Kritikpunkt gewesen, dann ist das eine Verantwortungskette, die von ganz oben auf Bundesebene bis in die Bank hinein reicht."
Erst am Wochenende kritisierte Marnette erneut das, wie er von Anfang gemeint hatte, "dilettantische" Vorgehen der Landesregierung, die gemeinsam mit Hamburg einen Drei-Milliarden Kredit und eine Zehn-Milliarden Bürgschaft zur Rettung der Landesbank zur Verfügung stellen musste.
Den Lübecker Nachrichten sagte Marnette gestern wörtlich:
"Man hätte die Koalition auch früher beenden können. Dass jetzt gewählt werden soll, hat auch mit der HSH-Nordbank zu tun. Die Bürger werden die grausame Wahrheit erst nach dem 27. September erfahren."
Tatsächlich ist das Land so gut wie zahlungsunfähig. Wäre dies in den nächsten Monaten schon evident geworden, so wäre eine Wiederwahl des Ministerpräsidenten im kommenden Mai ziemlich unwahrscheinlich. Zudem ist Carstensen in der eigenen Partei seit Längerem auf der Abschussliste. Vor allem der ehrgeizige Fraktionsvorsitzende Johann Wadephul, der vor einigen Jahren als Parteivorsitzender zurücktreten und Carstensen Platz machen musste, hat noch einige Rechnungen offen. Zumal Carstensen dessen Wunsch, nach dem Rücktritt Werner Marnettes Wirtschaftsminister zu werden, brüsk abgelehnt hatte. Wadephul kandidiert jetzt für den Bundestag.
Allerdings ist es in Kiel ein offenes Geheimnis, das Johann Wadephul und FDP-Chef Wolfgang Kubicki ein Tandem bilden, das seit Monaten den Koalitionswechsel und womöglich den Sturz Carstensens vorbereitet.
Doch nicht die 13 Milliarden für die HSH-Nordbank sondern eine vergleichsweise geringe Summe, nämlich eine Bonuszahlung von 2,9 Millionen Euro für den Chef der Landesbank Jens Nonnenmacher und damit verbundene Irritationen brachten das Fass zum Überlaufen.
So behauptete Peter Harry Carstensen, die SPD habe von Anfang an von dieser umstrittenen Zahlung gewusst und ihr zugestimmt. Stegner bestritt dies vehement. Dies sei ein Alleingang der CDU gewesen, dem Entscheidungsgremium Präsidialausschuss der Bank gehöre nicht ein einziger SPD-Politiker an, sehr wohl jedoch drei CDU-Minister.
Am Wochenende eskalierte die Kontroverse nachdem Stegner bei Spiegel Online seinen Kontrahenten Carstensen der Lüge bezichtigt hatte und im Interview mit dem Deutschlandfunk von einem Ablenkungsmanöver sprach.
"Auch die SPD ist dafür - die Koalition ist ja kaputt -, dass es bald zu Neuwahlen kommt, die wird es ja auch geben, aber dafür muss ein anständiger Weg gesucht werden und keiner, wo dem Parlament zugemutet wird, sich selbst aufzulösen und dann auch noch mit der Begründung, die ja Herr Carstensen vorgebracht hat, die SPD sei nicht zuverlässig in der Regierung. Bei aller Liebe, aber den Sozialdemokraten hier im Landtag zuzumuten, dass sie einer solchen Begründung zustimmen, das ist, glaube ich, dann doch ein bisschen viel verlangt."
Lügen und Ablenkungsmanöver in Kiel. Da werden unselige Erinnerungen an die Barschel-Affäre der 80er-Jahre wach, als der damalige CDU-Ministerpräsident mit seinem unwahren Ehrenwort die politische Kultur im Norden vergiftete. Daran erinnerte kürzlich der "Stubenälteste der SPD-Fraktion Günter Neugebauer:
"SPD und CDU standen sich wie Feinde gegenüber. Nun muss man berücksichtigen, der CDU-Landesverband war im Spektrum der Union der rechteste Verband und die Schleswig-holsteinische SPD stand ziemlich links. Auch im Parlament gab das kaum zwischenmenschliche Beziehungen, nicht mal nach den Tagungen traf man sich zu einem Bier."
Und Ralf Stegner ließ seine Fangemeinde über den Twitterdienst wissen:
"Medien zeigen Retro allenthalben: Politik und Publizistik im Stil vom Schleswig-Holstein der 70er-, 80er-Jahre bevor Björn Engholm aufgeklart hat."
Das hat Carstensen nach eigenen Worten besonders tief getroffen. Doch für derartige Gefühlswallungen bleibt ihm wenig Zeit noch Raum, denn am Wochenende musste er kleinlaut eingestehen, in Sachen Bonuszahlungen tatsächlich die Unwahrheit gesagt zu haben. In einem gemeinsamen Brief berufen er und sein Hamburger Kollege Ole von Beust sich auf die Zustimmung der die beiden Regierungen tragenden Fraktionen zu diesem Millionenbonus, vertraglich abgesichert doch moralisch höchst bedenklich. Doch während der Hanseat die Zustimmung seiner Leute einholte, wurde dies in Kiel offenbar versäumt. Und so gestand Carstensen diese Unwahrheit gestern kleinlaut ein:
"Ich habe feststellen müssen, dass diese Formulierung die dort in dem Brief gewählt worden ist, nicht richtig gewesen ist. Aber richtig und Fakt ist gewesen, dass der Innenminister Lothar Hay, Klammer auf: SPD, Klammer zu, sofort informiert worden war, und sein Einvernehmen für dieses Verfahren erklärt hat."
Damit ist in Kiel sehr viel offen. Auch wenn am kommenden Donnerstag das Parlament mit der fingierten Vertrauensfrage den Weg zu Neuwahlen freimacht, so ist überhaupt nicht mehr sicher, ob Carstensen Spitzenkandidat bleibt oder bleiben kann. Er ist nach dem Eingeständnis, das Parlament belogen zu haben, eigentlich nicht mehr tragbar. Als möglicher Nachfolger wird in Kiel der sich bislang vornehm zurückhaltende Landwirtschaftsminister Christian von Boetticher gehandelt. Und zudem erscheint es mehr als fraglich, ob es noch weiterhin Rückenwind aus Berlin geben kann. Ja, dieses Kieler Koalitionschaos kann auch durchaus der Union im Bund schaden.
Das politische Berlin hätte auf das Sommertheater im Norden gut verzichten können. Regierungschefin Angela Merkel, die sich gern als Kanzlerin aller Deutschen und weniger als CDU-Vorsitzende in Szene setzt, spielt die Vorgänge in Kiel herunter, redet sie klein.
"Ich meine, es ist immer gut, wenn Landesregierungen auch gut miteinander zusammenarbeiten. Dort war das offensichtlich nicht mehr möglich und jetzt wählen wir eben noch in einem Landtag. Brandenburg wählt am Tag der Bundestagswahl und dann wählen wir dort auch. Das ficht mich nicht an."
Angela Merkel sind derartig offen geführte Scharmützel ein Graus, sie schätzt geräuschloses Regieren, weshalb Peter Harry Carstensens Karten bei ihr derzeit wohl schlecht sein dürften. Nichtsdestotrotz hat sie dank ihres eigenen ausgeprägten Machtinstinkts Verständnis, dass der Parteifreund in Kiel den Moment guter Umfragen für sich nutzen will.
"In Schleswig-Holstein war es so, wer das intensiv beobachtet hat, dass die Große Koalition, anders als hier im Bund, sich nie so richtig zusammengerauft hat, und das gerade da auch aus der SPD doch immer wieder sehr viele Störfeuer kamen. Jetzt sind alle Fraktionen, außer der SPD-Fraktion im Landtag, für Neuwahlen. Das spricht für sich und das sollte man jetzt, glaube ich, dann auch so machen."
Die Kanzlerin und Chefin einer ebenfalls Großen Koalition ist sichtbar bemüht, dass von Kiel kein Schatten auf ihr Regierungsbündnis fällt, denn das lobt sie, wo sie kann.
Dass von Ereignissen in Kiel erneut dramatische Entwicklungen im Bund ausgehen können, glaubt 2009 niemand. Im Unterschied zu 2005, nach den für die SPD enttäuschend verlaufenen Landtagswahlen, nach denen sich Heide Simonis aber immer noch berechtigte Hoffnungen machte, weiter als Regierungschefin im Amt zu bleiben. Wenige Wochen später, am 17. März 2005, erlebte sie die größte Demütigung ihres Lebens. Die SPD erlitt aufgrund des feigen Abstimmungsverhaltens eines Genossen einen schweren Ansehensverlust. Nach zwölf Jahren an der Spitze der Landesregierung legte Simonis am 27. April 2005 ihr Mandat nieder und schied aus der Politik aus.
"Wir haben in vielen Wahlkämpfen für unsere Ideen und Konzepte gekämpft. Ich war immer gerne mit dabei, leidenschaftlich mit dabei und ich finde, es hat sich gelohnt. Der 17. März dieses Jahres war für uns alle, für die SPD Schleswig-Holstein eine ganz harte und einschneidende Zäsur, die viele von uns bestimmt nicht vergessen werden."
Mit Schleswig-Holstein riss die Kette der Wahlverluste für die SPD nicht mehr ab, Nordrhein-Westfalen am 22. Mai 2005 wurde zum nächsten Desaster, selten klang Ex-Kanzler Schröder so verzweifelt wie danach, als er ankündigte, vorgezogene Neuwahlen anzustreben.
"Mit dem bitteren Wahlergebnis für meine Partei in Nordrhein-Westfalen ist die politische Grundlage für die Fortsetzung unserer Arbeit infrage gestellt. Für die aus meiner Sicht notwendige Fortsetzung der Reformen halte ich eine klare Unterstützung durch eine Mehrheit der Deutschen für unabdingbar. Deshalb betrachte ich es als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland als meine Pflicht und meine Verantwortung, darauf hinzuwirken, dass der Herr Bundespräsident von den Möglichkeiten des Grundgesetzes Gebrauch machen kann, um so rasch wie möglich, also realistischerweise für den Herbst dieses Jahres, Neuwahlen zum Deutschen Bundestag herbeizuführen."
Am 1. Juli 2005 stellte Gerhard Schröder dem Bundestag die Vertrauensfrage.
Während 2005 der Vermittlungsausschuss fast einen Status als Nebenregierung hatte, Gesetzesvorlagen der rot-grünen Koalition fast samt und sonders durch den CDU/FDP-beherrschten Bundesrat blockiert wurden und zu allem Überfluss innerhalb der SPD der Widerstand gegen Schröders Agenda-Politik immer massiver zunahm, sind die Verhältnisse 2009 weitaus übersichtlicher.
Wenngleich wieder eine Wende eingeleitet werden könnte. Allerdings rudern die Schleswig-Holsteiner dieses Mal nicht voraus, sondern schwimmen eher im Fahrwasser mit. Haben sie im Frühjahr 2005 die rot-grüne Landesregierung durch eine große Koalition abgelöst, was sich dann am 18. September im Bund wiederholte, könnten dieses Jahr Kiel und Berlin gemeinsam den Wechsel von der Großen Koalition hin zu einer schwarz-gelben Regierung vollziehen. Was auf jeden Fall dem Wunschszenario von Angela Merkel und Peter Harry Carstensen entsprechen dürfte. FDP-Chef Guido Westerwelle träumte wie einst die Kanzlerkandidatin Merkel schon vom Durchregieren.
"Es wäre eine hervorragende Chance für Deutschland, wenn wir nicht nur eine bürgerliche Mehrheit im Deutschen Bundestag bekämen, sondern auch durch die Landtagswahlen klare Verhältnisse im Bundesrat. Das heißt, dann kann aus einem Guss regiert werden."
Logisch, dass sich die SPD dementsprechend heftig, aber mittlerweile wohl vergeblich gegen vorgezogene Neuwahlen am 27. September statt im kommenden Mai sträubt. SPD-Kanzlerkandidaten Frank Walter Steinmeier hat damit zusätzlich gegen eine steife Brise anzukämpfen, die ihm jetzt aus dem Norden ins Gesicht bläst, als sei seine Mission nicht ohnehin schon schwer genug.
"Herr Carstensen will offensichtlich aus taktischen Gründen einen Wahltermin am 27. September, gleichzeitig mit der Bundestagswahl. Da sucht er jetzt nach Mitteln und Wegen und dazu muss die SPD nicht einverstanden sein. Der Wahltermin liegt im nächsten Jahr und es gibt überhaupt keinen Grund für die CDU, sozusagen mitten im Galopp, aus der Kutsche auszusteigen. Insofern verstehe ich die Haltung der SPD in Schleswig-Holstein."
Bewahrheiten sich die derzeitigen Kieler Umfrageergebnisse, wonach der Zoff an der Küste vor allem dem schleswig-holsteinischen SPD-Partei- und Fraktionschef Ralf Stegner angekreidet wird, könnte es für die Sozialdemokraten mit der Beteiligung an der Landesregierung im Herbst vorbei sein. Und auch im Bund stehen laut Umfragen seit Wochen die Zeichen eher auf Schwarz-gelb. Für Steinmeier eine Konstellation, die die CDU nach ihrer angeblicher Sozialdemokratisierung in eine entgegengesetzte Richtung lenken würde.
"Das neoliberale Gedankengut beziehungsweise das marktradikale Gedankengut, wovon ich lieber spreche, das wird sich Ausdruck verschaffen in einer schwarz-gelben Koalition. Da bin ich völlig sicher. In einer schwarz-gelben Koalition wird die CDU sich zurückorientieren zum Leipziger Programm. Deshalb, wer wirklich will, dass dieses Land, das diese Gesellschaft beieinanderbleibt, trotz Krise und trotz der harten Jahre, die wir vor uns haben, der muss wollen, dass wir eine starke Sozialdemokratie in der Regierung haben. Darauf muss sich auch eine FPD einstellen, wenn es für Schwarz-gelb nicht reicht und ich prophezeie Ihnen, es wird für Schwarz-gelb nicht reichen."
Sollte das Schlaglicht möglicherweise doch noch auf Carstensens gar nicht so reine Weste fallen, müssen nicht nur die Genossen die Helme fester schnallen, denen die Affäre bislang am meisten schadet. Dann dürften sich auch die Kanzlerin und die christdemokratischen Wahlkämpfer im Saarland, in Sachsen und Thüringen bei Carstensen bedanken.