
"Ich bin persönlich sehr dankbar, dass es dieses Hilfsangebot gibt im Winter. Und ich muss ganz ehrlich sagen: Ohne dieses Hilfsangebot würde es bös mau aussehen."
"Ja doch, plötzlich kommst Du ohne fremde Hilfe nicht aus. Das war wirklich ausgereizt bis an die Grenze, bis eben nichts mehr da war und am Geld-Ende eben noch so viel Monat übrig war, wie man so schön sagt."
Müller jobbt in der Gastronomie, schimpft über Arbeitgeber, die nicht den Mindestlohn zahlen, die Arbeitnehmer gegeneinander ausspielten. Wenn er sich beschwere, werde man ihn vor die Tür setzen und stattdessen billige osteuropäische Studentinnen beschäftigen, zitiert er einen früheren Chef. Auch das Jobcenter sei nicht hilfreich – der Wunsch nach einer Umschulung sei mit der Begründung abgelehnt worden, mit seinem Hochschulabschluss sei er überqualifiziert. All diese negativen Erfahrungen haben Manfred Müller zu einem durch und durch misstrauischen Menschen gemacht.
"Kann man mir auch ruhig vorwerfen. Ich sehe es selber so, ich bin übermisstrauisch inzwischen."
Hartz IV-Empfänger Müller hat kein Vertrauen mehr in die Politik. Auch, was die Maßnahmen der Bundesregierung gegen Langzeitarbeitslosigkeit angeht - Müller wiegt den Kopf skeptisch hin und her.
"Wenn es jetzt heißt, die Bundesregierung will viel Geld in die Hand nehmen, um Förderprogramme aufzulegen - gut und schön. Aber ich möchte nicht wissen, zu wie vielen Prozent das wieder in irgendwelchen dunklen Kanälen verschwindet und dann doch nicht umgesetzt wird."
So leitete Arbeitsminister Hubertus Heil die erste Lesung des sogenannten Teilhabechancen-Gesetzes ein. Es soll die Lage der Langzeitarbeitslosen in Deutschland verbessern. Also jener Menschen, die länger als ein Jahr arbeitslos und deshalb auf die staatliche Grundsicherung nach Hartz-IV-Regeln angewiesen sind. Denn trotz der guten Lage auf dem Arbeitsmarkt und einer hohen Zahl an offenen Stellen gelingt es bislang nicht, Langzeitarbeitslose zurück in den ersten Arbeitsmarkt zu führen. Also jenen Arbeitsmarkt, der nicht bezuschusst wird. Die Statistiken sprechen von 800.000 Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen keinen Zugang zu ihm finden.
Genau diese Menschen sollen in den kommenden fünf Jahren über staatliche Lohnkostenzuschüsse zurück in den Arbeitsmarkt geführt werden. Die Hoffnung dabei: Sie sollen wieder Fuß fassen. Vier Milliarden Euro hat die Bundesregierung dafür veranschlagt. Mindestens 150.000 Langzeitarbeitslose sollen von diesem Weg profitieren.
Die Kriterien: Wer über 25 Jahre alt ist und in den vergangenen sieben Jahren mindestens sechs Jahre Arbeitslosengeld II, also Hartz IV, erhalten hat, zählt zu dem Kreis der förderfähigen Personen. Außerdem sollen die Betroffenen in der Zeit auch nicht kurzzeitig beschäftigt gewesen sein.
"Das ermöglicht jetzt erstmals, dass Langzeitarbeitslose direkt im ersten Arbeitsmarkt beschäftigt werden. Bisher gab es ja 30 Jahre lang besondere Bedingungen, musste wettbewerbsneutral sein, musste zusätzlich sein und nun ist es möglich Langzeitarbeitslose und Menschen, die auch länger schon aus dem Arbeitsmarkt raus sind, direkt im Betrieb zu fördern."
Sagt Dirk Heyden, der Leiter des Hamburger Jobcenters. Das ist auch der große Unterscheid zu den Maßnahmen in den Neunziger Jahren. Diese durften ausschließlich von nicht gewerblichen Trägern durchgeführt werden.

Wenn der Lohn etwa durch ortsübliche Tariflöhne höher ist, wird auch das erstattet – dies war eine Forderung der Gewerkschaften.
"Und wir müssen das jetzt klug begleiten, in dem diese Menschen besondere Unterstützung erfahren. Durch Coaching und durch Qualifizierung. Hier können Menschen, die lange raus sind, jetzt zusätzliche modulare Qualifizierungen bekommen und fit gemacht werden für die Betriebe."
Hofft Dirk Heyden vom Hamburger Jobcenter. Auch für Arbeitsminister Hubertus Heil ist das der zentrale Perspektivwechsel bei diesem Instrument:
"Es geht hier nicht um Arbeitsgelegenheiten, um Ein-Euro-Jobs oder ähnliches, das sind alles Instrumente, mit denen wir so Erfahrungen gemacht haben, sondern es geht um richtige Arbeit, um Arbeit in Unternehmen, um Arbeit bei Kommunen, auch bei Trägern, und ich finde es besonders wichtig, dass wir uns darum kümmern, dass die Menschen, die lange draußen sind, über das begleitende Coaching Chancen bekommen, dass die Hindernisse, die sie im Leben haben, Stück für Stück überwunden werden können."
Eine Begleitung sowohl des Arbeitslosen als auch seines neuen Arbeitgebers durch einen Coach, das gab es bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen nicht. Doch inzwischen weiß man: Es reicht nicht aus, Menschen, die jahrelang fern einer Arbeitsroutine waren, in einen neuen Job zu vermitteln. Sie brauchen eine persönliche Begleitung, um erfolgreich wieder in den Arbeitsmarkt einzusteigen.
Ein dunkelbrauner Zweisitzer mit orangefarbenen Kissen, zwei farblich passende Polsterstühle, Flipcharts, Stellwände, Schreibtisch mit Rechner – hier ist Coach Claudia Hüttel mit ihrem Coachee, also ihrem Klienten, verabredet, einem 24-jährigen Arbeitslosen. Doch der erscheint an diesem Vormittag nicht.
"Ich bekam heute Morgen eine kurze Nachricht. Das ist leider nicht das erste Mal. Wir sind relativ weit im Coaching schon gekommen, jetzt sind wir an einem Punkt, wo der Coachee auf dem 10-Meter-Brett steht und springen muss."
Doch er springt nicht, er schreibt auch keine Bewerbung. Nichts Außergewöhnliches für einen Langzeitarbeitslosen, weiß die Trainerin. Claudia Hüttel wartet auf jemanden, der im Kinderheim aufgewachsen ist, dessen Wohnung geräumt wurde wegen Mietschulden, der Privatinsolvenz anmelden musste. Die langjährige Bildungsmanagerin wirbt um Verständnis. Stellen Sie sich vor, sagt die 64-Jährige, wenn Sie von heute auf morgen auf die Zugspitze steigen müssten - das würden Sie auch nicht schaffen.
"Genauso verhält es sich mit jemandem, der lange zuhause geblieben ist, keine Strukturen hatte. Da kommen ganz ganz schnell so pauschale Urteile, die wollen einfach nicht oder die haben sich im Leistungsbezug eingerichtet. Ja, solche wird es immer geben, das ist ganz klar, aber dieser Schritt zurück in die Arbeitswelt nach vielen Jahren Abwesenheit, das ist ein sehr schwerer. Das können wir uns wirklich nicht vorstellen."
Claudia Hüttel startet ihr Coaching immer mit einem biografischen Interview. Zweiter Schritt: Der Arbeitslose soll erläutern, über welche Kompetenzen er oder sie verfügt. Die Trainerin zeigt auf ein schwarzes Brett, an dem farbige Kärtchen kleben: "Pünktlich", steht da, "hilfsbereit", "humorvoll" und "wissbegierig".
"Da stehen Dinge drauf, die jetzt ein Coachee erarbeitet hat. In der Regel ist es so, wenn ich sage, beschreiben Sie sich mal, machen Sie mal ein Eigenmarketing, allerhöchstens fünf Kärtchen kommen da zustande. Und Sie sehen ja, dass wir jetzt viel, viel mehr zusammengetragen haben."
Claudia Hüttel will die Langzeitarbeitslosen ermutigen. Sie sollen sich ihre Kompetenzen bewusst machen und lernen, die Schwächen positiv zu formulieren. Dann gilt es, einen Lebenslauf zu schreiben. Doch - was macht man mit Lücken, mit der langjährigen Arbeitslosigkeit? Im Coaching zeige sich oft, dass ehrenamtlich gejobbt oder Familienarbeit geleistet wurde, sagt die Trainerin.
"So wie jetzt mit dem Coachee von heute, der ganz vergessen hatte, dass er ja ein halbes Jahr in England gewesen ist und dort gearbeitet hatte in einer Kaffeebar. Das muss man herauskitzeln."
Dass das Anfang des Jahres in Kraft getretene Gesetz einen Coach vorsieht, der den Arbeitslosen auf seinen oder ihren neuen Job vorbereitet, ist für Trainerin Claudia Hüttel genau der richtige Ansatz. Wichtig sei es auch, Schwierigkeiten gleich zu Beginn aus dem Weg zu räumen, da könne eine Vermittlung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer helfen.
"Ich habe Kollegen, ich muss mit denen kommunizieren, ich habe jede Menge zu lernen an Tätigkeiten, die mir bisher fremd gewesen sind. Man kann vieles abfangen gleich am Anfang. Nicht dass sich da gleich so eine Frustration aufbaut. Ach, das ist sowieso nichts, ich tauge dafür nicht oder wie auch immer."

"Wenn es gut läuft, haben auch diejenigen, die in diesem Programm sind, die Möglichkeit, aus diesem sozialen Arbeitsmarktprogramm sich in das Reale wieder hinein zu bewerben. Diesen leichten Druck sollte man auch ausüben. Also jetzt nicht, ok, wir haben jetzt einen sozialen Arbeitsmarkt, alles paletti, wunderbar. Nein, die Zielstellung ist trotzdem nach wie vor, in eine ganz normale Tätigkeit zu kommen."
"Der Weg, der allerdings beim Teilhabechancen-Gesetz beschritten wird, hilft wahrscheinlich im Ergebnis mehr dem politischen Kommunikationsbedürfnis des Arbeitsministeriums, als dass es tatsächlich einen dauerhaften Beitrag zur Verringerung von Langzeitarbeitslosigkeit leistet."
Zu weit gefasste Zielgruppen, zu lange Förderdauer insgesamt und zu hohe und zu lange Arbeitsentgeltzuschüsse würden keine Brücke in den regulären Arbeitsmarkt bauen. Stattdessen würde es dazu führen, Personen im sozialen Arbeitsmarkt, also dem bezuschussten, verharren zu lassen. Dabei würden diese Menschen – gerade in der derzeitigen wirtschaftlichen Lage – auf dem ersten Arbeitsmarkt dringend gebraucht.
"Und das ist ja auch das Grundunbehagen mit dem Teilhabechancen-Gesetz: Es wechselt wieder in die Philosophie der 90er- und 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück. Das ist ein weiterer Schritt weg von den ursprünglichen Hartz-Reformen, die fördern und fordern inkludiert haben, sondern hier geht's wieder mehr um Alimentierung."

"Das heißt, ein Erwerbsloser, der erst fünf Jahre in Hartz IV ist, dem sagen sie dann: Du hast noch nicht lange genug gelitten. Tut uns leid, für Dich haben wir heute kein Angebot. Das ist doch absurd. Wir wissen doch, je länger man draußen ist aus dem Job, umso schwerer ist der Wiedereinstieg."
Der Deutsche Gewerkschaftsbund hatte gefordert, die Regelung solle bereits ab vier Jahren Arbeitslosigkeit greifen. Der Paritätische Wohlfahrtsverband schlug zwei Jahre vor. Beide setzten sich nicht durch. Auch eine weitere Forderung von Wohlfahrtsverbänden lief ins Leere – sie plädierten dafür, das Programm zu einem dauerhaften zu machen und nicht – wie jetzt vereinbart – nach fünf Jahren auslaufen zu lassen.
Unterstützung bekommen Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbände vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin DIW. Dessen Präsident Marcel Fratzscher plädiert dafür, jedem Arbeitslosen sofort einen Job auf dem sozialen Arbeitsmarkt anzubieten. Jedes Jahr Arbeitslosigkeit schade den Betroffenen massiv, sagt er.
"Deshalb Vorsorge, Vorbeugung, mit Qualifizierung, mit Fortbildung, und das schnell zu machen, nicht erst den Menschen nach sechs, sieben Jahren den Anspruch geben, sondern idealerweise jedem Arbeitslosen nach dem ersten Monat zu sagen, hier ist ein Job im sozialen Arbeitsmarkt. Eigentlich sollte das eher ausgeweitet werden."
DIW-Präsident Fratzscher unterstützt damit auch die Idee von Michael Müller, dem Regierenden Bürgermeister von Berlin. Der SPD-Politiker hatte ein solidarisches Grundeinkommen vorgeschlagen. Jeder Arbeitslose solle ein Angebot für eine gemeinnützige Tätigkeit bekommen, für den er oder sie den tariflichen Mindestlohn erhalte. Ein entsprechendes Pilotprojekt will das Land Berlin in diesem Jahr auflegen. Die dadurch geschaffenen Jobs müssen aber gemeinnützig sein.
"Wir werden unsere Betriebe auffordern und dafür werben, sich an diesem Programm zu beteiligen. Denn in einer sozialen Marktwirtschaft haben Unternehmen und ihre Eigentümer nicht nur Verantwortung für den unmittelbaren wirtschaftlichen Erfolg, sondern sind in vielen Bereichen ja auch sehr stark sozial engagiert, wir verweigern uns dieser Sache nicht."
Doch mit sozialer Verantwortung von Unternehmen hat die Beteiligung an dem neuen Programm nur bedingt zu tun. Erhalten die Betriebe doch eine Arbeitskraft, die sie kaum etwas kostet. DIW-Präsident Fratzscher warnt deshalb:
"Die Gefahr ist groß, dass es zu Mitnahmeeffekten kommt, dass die Unternehmen sagen, schön, gebt mir mal das Geld. Wir würden die Leute eh beschäftigen und bezahlen, aber wenn ihr, Staat, das Geld bezahlt, ist das gut. Also man muss schon aufpassen, wie es ausgestaltet wird."
"Wir lechzen nicht nach Lohnkostensubventionen, sondern wir lechzen nach Fachkräften. Wir lechzen nach Leuten auch im unteren Tarifbereich. Subvention ist nicht der Antrieb unternehmerischen Handelns. Wer das denkt, der schätzt Arbeitgeber falsch ein und wird wahrscheinlich als Unternehmer auch nicht dauerhaft erfolgreich sein."
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg wird die Umsetzung des Programms wissenschaftlich begleiten. Und für den DIW-Präsidenten Marcel Fratzscher ist das Teilhabechancen-Gesetz per se ein Erfolg. 150.000 Menschen werde wieder eine soziale Teilhabe ermöglicht.
Doch zunächst müssen die Jobcenter insgesamt 150.000 Langzeitarbeitslose finden, die die Kriterien des Programms erfüllen – und die passenden Jobs dazu. Dafür werden die sogenannten Betriebsakquisiteure der Jobcenter in Unternehmen, Verwaltungen und Verbände geschickt. Beides muss zusammenpassen – Jobanforderungen der Arbeitgeber und Kompetenzen der Arbeitnehmer. Das ist das größte Problem.