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Tereza Semotamová: "Im Schrank"
"Das Leben ist nicht nachhaltig"

Warum nicht einmal die Perspektive wechseln und den Sommer im Schrank verbringen? Die Prager Hörspielautorin Tereza Semotamová machte aus einer Schnapsidee ernst. Sie entwickelte daraus ihren Debütroman, der ironisch mit der Gesellschaft außerhalb des Möbels ins Gericht geht.

Von Katrin Hillgruber | 03.07.2019
Zu sehen ist die Autorin Tereza Semotamová und ihr Roman "Im Schrank".
Tereza Semotamová hat mit "Im Schrank" eins der erfolgreichsten tschechischen Debüts der vergangenen Jahre vorgelegt (Autorenfoto: Richard Klíčník/ Buchcover: Verlag Voland & Quist)
Der tschechische Schriftsteller Bohumil Hrabal definierte seinen Beruf folgendermaßen: Es gelte, der Wirklichkeit die Hefepilze der Phantasie zuzusetzen. Der Umstand, dass in ihrem näheren Prager Umfeld ein Schrank ausrangiert werden sollte, inspirierte Hrabals Landsfrau Tereza Semotamová dazu, eine veritable Pilzkultur der Phantasie anzulegen. Als Ergebnis liegt nun ihr erstaunlicher Roman "Im Schrank" vor, eines der erfolgreichsten tschechischen Debüts der letzten Jahre.
"Warum wie jeder Depp zwischen vier Betonwänden leben? […] Zum ersten Mal sitze ich in meinem Schrank. Ich bin begeistert von diesem Schmuckstück der Möbelkunst, made in Poland, dabei haben die schwedischen Designer und die scharfen polnischen Jungs mit den einfachen Werkzeugen, angeführt von einem Nachkommen der Sudetendeutschen, sicherlich ordentlich die Sau rausgelassen. Doch offensichtlich ahnten nicht einmal die Designer selbst, was sie da entworfen haben und wofür man den Schrank auch noch nutzen kann."
Existenzkrise im Schrank
Ein Versteck im Schrank: Das klingt nach Verwechslungskomödie, nach dem Liebhaber im Schrank oder nach dem Film "Die Marx Brothers im Kaufhaus", in dem ein Schrankbett mit dem darauf probeliegenden Kunden plötzlich zuschnappt. Doch Tereza Semotamovás Protagonistin Hana hat sehr viel ernstere Gründe dafür, in einem leeren Möbelstück Quartier zu beziehen. Denn die junge Frau um die Dreißig befindet sich einer tiefen Existenzkrise, wie die Autorin erläutert:
"Meine Protagonistin ist sehr unsicher gerade und hat Angst zu handeln. Wenn man wohnen will, muss man handeln, und zwar eine Wohnung suchen, und da ist sie unfähig gerade in ihrer Situation. Sie redet mit ihrer Schwester. Und die Schwester sagt, sie hat einen Schrank, den sie nicht mehr will. Und ob sich meine Heldin auskennt mit dieser Situation, wenn man einen Schrank abgeben will, kostenlos. Und die hat so ein paar Ratschläge, aber eigentlich fällt ihr ein: Wow, super Idee, ich könnte da wohnen, also den Schrank wegziehen und einfach wohnen. Aber dann ist die Frage, wohin. Aber da lässt sie den Zufall irgendwie funktionieren und zieht mithilfe eines Nachbarn den Schrank in den Hinterhof der Schwester."
Die gelernte Bildhauerin Hana ist gerade aus Deutschland nach Prag zurückgekommen. Dort hat sie in einer ungenannten Stadt mit einem Mann zusammengelebt – eine schwierige Beziehung, die ausführlich rekapituliert wird. Sie endete mit dem plötzlichen Tod des Freundes. Seitdem nennt Hana ihn nur "die Leiche", was viel über den trockenen bis sarkastischen Humor der Autorin aussagt.
"Das bin eigentlich ich in meiner Heldin. Wir sind schon ziemlich ähnlich, und ich bin schon eine scharfe Beobachterin. Manchmal ist es auch unpraktisch, weil man sieht zu viel und man analysiert zu viel und irgendwann ist es den anderen zu viel und mir selbst auch. Aber das ist schon meine Art zu leben."
"Hibernation" als Ziel
Ihren Eltern gaukelt Hana am Telefon vor, einen sicheren Job bei einer Bank in Aussicht zu haben. Die heirats- und fortpflanzungswilligen Altersgenossinnen um sie herum sind ihr ein Graus, abschätzig spricht sie vom "Karnickeln". Zugleich taucht immer wieder das Thema Hibernation, Winterschlaf, auf. Hana denkt über Schildkröten mit vermindertem Energielevel nach, aber auch ein Baby in seinem Wagen erinnert sie an diesen Zustand, der wie ein passiver Protest gegen unsere Leistungsgesellschaft wirkt.
"Winterschlaf, Hibernation, ist für mich eine Metapher für jemanden, der nicht handeln kann. Das ist ein Mensch, der Probleme mit sich selbst hat, aber auch mit den anderen. Der kann nicht handeln und braucht Zeit, bis er sich bisschen entwickelt, so dass er handeln kann. Ich habe auch einen Text geschrieben, der so heißt, ,Winterschlaf'. Ist dann mein Dauerthema, würde ich sagen. Es geht eigentlich um Sommerschlaf. Aber mal schauen, weil den Winter kann man in diesem Schrank auf jeden Fall nicht verbringen. Das ist schon am Anfang klar, weil der Schrank hat Löcher. Das ist nicht nachhaltig, aber das Leben ist nicht nachhaltig, muss man sagen."
Ausgeprägte Beobachtungsgabe
Trägt die originelle Idee des Rückzugs von den Zumutungen des Lebens in den Schrank einen Roman von knapp dreihundert Seiten? Diese Frage stellt sich beim Lesen durchaus. Die Antwort lautet: Ja! Denn Tereza Semotamovás ausgeprägte Beobachtungsgabe, ihre Phantasie und Belesenheit sorgen für ständige Abwechslung. Zitate aus der tschechischen Literatur, aus Volksliedern und Kinderfilmen durchziehen den Text. So spielt die Autorin etwa auf Bohumil Hrabals Novelle "Der sanfte Barbar" an, in der es um die Prager Outsider-Bohème der fünfziger Jahre geht und in deren Tradition "Im Schrank" in gewisser Weise steht. Dankenswerterweise hat die versierte Übersetzerin Martina Lisa für die deutsche Ausgabe ein Glossar erstellt.
"Auf jeden Fall sehe ich mich als Teil der tschechischen Literaturtradition, aber es ist unbewusst. Ich glaube, bei mir ist es immer Stream of Consciousness, und irgendwie kommen da Dinge von anderen Werke, und es müssen auch keine besonders guten Werke sein. Also in dem Sinne, Philosophie, aber auch Popkultur. Und ich mag halt diese Intertextualität im Sinne von Jelinek, die kopiert auch. Ich finde, alles, was man schreibt, ist ein großer Fluss."
Tereza Semotamová hat über das deutsche Hörspiel der 1950er Jahre promoviert und arbeitet selbst für das Radio. So hat für sie der titelgebende Schauplatz ihres Romans selbstredend radiophone Qualitäten:
"Für mich war das ein Gefühl, dass man in dem Schrank sitzt und umgeben ist eigentlich von Natur, sagen wir, im Hinterhof. Und da hört man schon ganz, ganz viel bei mir zu Hause, wo ich wohne. Wenn man auf dem Balkon sitzt, dann hört man im Sommer ganz viele Geräusche von den anderen, die man nicht so gut kennt. Eigentlich will man die manchmal gar nicht kennen, aber man hört schon kleine Hörspiele, die oft sehr geräuschvoll sind."
"Gehirn als Zementfabrik"
Die etwas tollpatschige, dann wieder patente Einzelgängerin Hana stolpert von einer tragikomischen Situation in die nächste. Sie findet jedoch Verbündete wie den vietnamesischen Betreiber eines Schnellimbisses und dessen Katze. Bei ihm kann sie zumindest frühstücken und die Toilette benutzen. Hana arbeitet als Fotomodell und scheitert kläglich als Kutscherin für Prag-Touristen. Schließlich kann sie sich sogar eine Reise nach London gönnen, wo sie ein Freudenhaus für Frauen besucht – eine hochkomische Szene, die sich vom melancholischen Grundton abhebt, vom "Gehirn als Zementfabrik", wie es heißt.
Der Herbst zieht herauf und der flapsig-traurige Roman "Im Schrank" bleibt ohne rechten Schluss. Doch mit Tereza Semotamová manifestiert sich mit Aplomb eine neue, eigenwillige Stimme der in dieser Hinsicht so reich gesegneten tschechischen Literatur.
"Der Zug durchquert schon die Landschaft hinter der Hauptstadt, und ich fahre weiter in die Fremde. Ach, diese tschechische Trödellandschaft, wie ich sie liebe. Alles ist irgendwie kaputt, unrenoviert und klafft auseinander, die Menschen, die Gärten, die Ministerien, das große Ganze. Doch diese ewige Rumpelkammer bedeutet für mich auch Recht auf ein Leben, wie es eben ist."
Tereza Semotamová: "Im Schrank"
Aus dem Tschechischen von Martina Lisa
Verlag Voland & Quist, Dresden und Leipzig. 288 Seiten, 22 Euro.