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Terroranschlag von Nizza
"Sicherheitsbehörden nehmen Gefährdungsbewertungen vor"

Als eine "perfide Tatwaffe" bezeichnet Rainer Wendt von der Deutschen Polizeigewerkschaft den bei dem Anschlag von Nizza eingesetzten Lkw. Grundsätzlich ändere sich dadurch aber nichts an der Strategie der deutschen Sicherheitsbehörden, sagte er im DLF. Natürlich würden die Gefährder beobachtet. Es sei aber auch eine Illusion, zu glauben, dass man jeden Anschlag verhindern könne.

Rainer Wendt im Gespräch mit Thielko Grieß | 15.07.2016
    Rainer Wendt, Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft
    Rainer Wendt, Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft (dpa / picture alliance)
    Thielko Grieß: Ich bin verbunden mit dem Vorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt. Herr Wendt, guten Tag.
    Rainer Wendt: Guten Tag. Hallo!
    Grieß: Ein Lkw als Tatwaffe, war dieses Szenario in düsteren Annahmen, die Sie sich vielleicht gelegentlich machen, enthalten?
    Wendt: Ja, selbstverständlich. Wir wissen, dass der Islamische Staat, der sogenannte, die Attentäter immer wieder aufruft, alle Möglichkeiten zu nutzen, um möglichst viele sogenannte weiche Ziele zu treffen. Und da ist auch die Nutzung von Fahrzeugen einbegriffen. Insofern ist so etwas immer wieder vorstellbar.
    Grieß: Ist das für Sie ein Hinweis darauf, dass der Islamische Staat dahinter steckt? Das muss ich immer wieder fragen heute Mittag, weil das noch nicht offiziell so klar ist.
    Wendt: Ja, es ist bislang noch nicht so ganz klar. Zumindest ist noch keine offizielle Bestätigung da. Aber es deutet vieles darauf hin, dass es sich hier um einen dschihadistischen Anschlag handelt. Und zumindest soll der Täter ja Allahu aktbar gerufen haben und es gibt andere Hinweise offensichtlich darauf. Aber eine Bestätigung, da haben Sie Recht, das gibt es noch nicht.
    Grieß: Dieser LKW ist ja zunächst fast zwei Kilometer gefahren auf dieser Straße und hat dabei zunächst einmal ja noch niemanden umgebracht. Und ist dann erst gegen Ende in eine Menschenmenge gefahren, mit großer Geschwindigkeit, hat dort die Menschen überrollt, und das bei diesem Fest. Hätte der nicht früher gestoppt werden müssen?
    Wendt: Man sollte den französischen Behörden auf gar keinen Fall Vorwürfe machen. Die Kolleginnen und Kollegen dort sind in diesem Jahr im Dauereinsatz und einen solchen Lkw einfach mal zu stoppen, ist schon eine große Herausforderung. Man muss sich ja vorstellen, welche Energie dahinter steckt. Das ist schon eine sehr perfide Tatwaffe. Und damit auf unschuldige Menschen loszugehen und so viele Opfer zu produzieren, das war offensichtlich nicht zu verhindern. Er ist ja dann gestoppt und auch erschossen worden.
    Grieß: Wie geht das überhaupt, so ein Fahrzeug noch zu stoppen?
    Wendt: Das kann man mit normalen Mitteln gar nicht machen. Man sieht ja, man müsste praktisch ein anderes Fahrzeug dagegensetzen. Das ist ja so nicht verfügbar. Man kann natürlich auf den Täter schießen, aber damit ist das Fahrzeug noch lange nicht gestoppt.
    Grieß: Das war eine Veranstaltung im öffentlichen Raum. Die Straße war abgesperrt. Das war unter freiem Himmel. Das Wetter war gut. Was bedeutet das für Veranstaltungen dieser Art, die ja in Deutschland jetzt am kommenden Wochenende auch stattfinden? Nehmen wir die Stadt Köln, aus der wir ja senden hier im Deutschlandfunk: Kölner Lichter, ein Feuerwerk auf dem Rhein etwa. Was bedeutet das nun für solche Veranstaltungen?
    Wendt: Das bedeutet vor allen Dingen nichts Neues, denn die deutschen Sicherheitsbehörden, wie im Übrigen die französischen auch, nehmen vor solchen Veranstaltungen selbstverständlich Gefährdungsbewertungen vor. Wir schauen natürlich ganz genau hin, wo sind bekannte Gefährder und welche Aktivitäten entfalten sie möglicherweise, wird etwas ausbaldowert, viel telefoniert, viel kommuniziert, treffen die sich mit irgendjemandem und bereiten möglicherweise etwas vor. Aber Sie haben ja an dem Anschlag von Nizza gesehen: Gegen diejenigen, die wir gar nicht auf dem Schirm haben, weil wir sie gar nicht kennen, sind wir natürlich einigermaßen machtlos.
    Grieß: Ihr Rat lautet nicht, die Veranstaltungen müssen abgesagt werden?
    Wendt: Veranstaltungen in Deutschland sollen weiterhin stattfinden
    Wendt: Nein, auf gar keinen Fall! Natürlich wird die eine oder andere Veranstaltung - wir wissen jetzt, dass Berlin das deutsch-französische Fest abgesagt hat. Das ist angesichts dieser Situation nur verständlich. Aber grundsätzlich solche Veranstaltungen sollen stattfinden und die Menschen müssen dort auch hingehen. Wenn wir sie absagen oder die Menschen fern bleiben, dann haben die Terroristen ihr Ziel erreicht. Und genau das wollen wir nicht.
    Grieß: Wir wissen nicht, zurzeit jedenfalls nicht, ob der Attentäter in Frankreich zu den bekannten Gefährdern gehört hat. Gleichwohl, Sie haben Sie angesprochen: Auch in Deutschland gibt es etliche Hundert, die bekannt sind. Wie funktioniert das jetzt? Bekommen die heute alle Besuch von Polizisten und denen wird vermittelt, Leute, wir haben euch im Auge?
    Wendt: Nein, nicht alle. Für jeden einzelnen wird ja eine gesonderte Gefährdungsbewertung vorgenommen und aufgrund der Erkenntnisse, die wir haben, auch von den Nachrichtendiensten, auch von ausländischen Nachrichtendiensten, wird die Beobachtungsintensität festgelegt. Und ob jetzt Gefährderansprachen stattfinden, hängt von der jeweiligen Situation ab. Das entscheiden die Behörden vor Ort.
    Grieß: Es gibt aus Israel, einem Land, das mit Terror und Gewalt jahrzehntelange Erfahrung hat, die Erfahrung, dass man öffentliche Räume einhegt, einbetoniert im Prinzip, auch indem man dicke, starke Poller zum Beispiel baut. Auch da hat es ja Angriffe gegeben mit Autos, mit Lkw. Ich werde Sie nicht fragen, ob man jeden öffentlichen Raum in Deutschland so zubetonieren sollte. Aber ist es denkbar, solche Überlegungen mal anzustellen?
    Wendt: Nun, das findet ja alles statt. Wer in Berlin ist beispielsweise, sieht solche Poller vor den Botschaften. Vor der britischen Botschaft, da ist die ganze Wilhelmstraße gesperrt. Die amerikanische Botschaft. Da kann man auch mit einem Fahrzeug nicht den Zaun durchbrechen, weil man vorher von solchen Dingen aufgehalten wird. Aber das ist natürlich nicht mobil verwendbar, nicht für jede Großveranstaltung. Insofern ist das für Deutschland eigentlich unvorstellbar, dass vieles darüber hinaus noch gemacht werden kann. Bei öffentlichen Veranstaltungen, wo viele Menschen sind, kann man nicht auf einmal solche Dinge aufbauen. Man müsste mit Betonbarrieren dort arbeiten, aber das würde ja den Charakter jeder Veranstaltung erheblich beeinflussen. Und deshalb ist das nicht vorstellbar. Wir müssen tatsächlich auch mit dieser Gefahr leben und dürfen uns nicht der Illusion hingeben, wir könnten jeden Terroranschlag immer verhindern.
    Grieß: Aber gibt es etwas anderes, was man von anderen Ländern, etwa Israel, lernen könnte?
    Wendt: Ja, ganz sicherlich. Die israelische Öffentlichkeit ist sehr aufmerksam und beobachtet auch ihre Umwelt. Wir sind darauf angewiesen, dass man beispielsweise aus dem Umfeld von Moschee-Vereinen und anderen, auch in Schulen und überall dort, wo Menschen sich radikalisieren können und wo Menschen ihr Verhalten ändern, sind wir darauf angewiesen, von aufmerksamen Menschen darauf aufmerksam gemacht zu werden. Denn die Polizei und auch die anderen Behörden verfügen über Präventionskonzepte, über Deradikalisierungskonzepte. Wir müssen nur darauf aufmerksam gemacht werden, das kann die Polizei nicht alles selber herausfinden.
    Grieß: Ein Appell von Rainer Wendt, dem Vorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft. Herr Wendt, danke!
    Wendt: Gerne! - Tschüss!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.