Donnerstag, 18. April 2024

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Terrorbekämpfung
Ex-Geheimdienstchef: "Wir können nicht in jeden Kopf schauen"

Der frühere Geheimdienstchef Hansjörg Geiger hat vor Panikmache nach den Attentaten in Orlando und nahe Paris gewarnt. Der Rechtsstaat sei stark und wehrhaft, sagte er im Deutschlandfunk. Um rechtzeitig Gefährder ins Visier zu nehmen, sei aber auch die Unterstützung der Bevölkerung und der Familie nötig. Eine Art "Schutzhaft" zur Vorbeugung lehnte Geiger ab.

Hansjörg Geiger im Gespräch mit Dirk Müller | 15.06.2016
    Hansjörg Geiger, ehemaliger Chef der deutschen Geheimdienste, zunächst des Bundesamts für Verfassungsschutz, dann des Bundesnachrichtendienstes.
    Hansjörg Geiger war früher sowohl Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz als auch des Bundesnachrichtendienstes. (imago / teutopress)
    Geiger betonte mit Blick auf die jüngsten Anschläge: "Wir verlieren nicht die Kontrolle, der Staat ist wehrhaft." Die Sicherheitsbehörden seien gut aufgestellt. Die Unterstützung vonseiten der Politik könne aber manchmal noch stärker sein. Zudem gebe es auch keine absolute Sicherheit, das könne kein Staat garantieren. Zudem sei es auch nicht möglich, einzeln handelne Täter in den Griff zu bekommen. "Wir müssen uns einfach klarmachen, dass wir nicht in jeden Kopf hineinschauen können."
    Der frühere Präsident des Verfassungsschutzes und des Bundesnachrichtendienstes betonte, besonders starke Gefährder würden bereits jetzt rund um die Uhr bewacht. Das sei sehr personalintensiv, weshalb der Bereich verstärkt werden müsse. Nötig sei auch die Unterstützung der Bevölkerung, der Familie sowie der muslimischen Gemeinschaft. Geiger betonte, eine Art "Schutzhaft" - wie es sie im Dritten Reich gab - von möglichen Attentätern zur Vermeidung einer Straftat komme in einem Rechtsstaat wie Deutschland nicht infrage.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk Müller: Thomas de Maizière ruft die Bevölkerung zu mehr Wachsamkeit auf, und das gilt auch für die eigene Familie, sagt der Bundesinnenminister. - Am Telefon ist nun Hansjörg Geiger, viele Jahre Verfassungsschutzpräsident in Deutschland. Er war auch Chef des Bundesnachrichtendienstes und anschließend Staatssekretär im Justizministerium. Guten Morgen!
    Hansjörg Geiger: Guten Morgen, Herr Müller.
    Müller: Herr Geiger, verlieren wir so langsam die Kontrolle?
    Geiger: Nein, die verlieren wir nicht. Die verlieren wir nicht! Wir sehen zwar schreckliche terroristische Anschläge. Diese sind Gott sei Dank bisher Einzelfälle. Wir verlieren nicht die Kontrolle. Der Staat ist wehrhaft. Wir haben ein Grundgesetz, das sich zur wehrhaften Demokratie bekennt. Wir haben gut aufgestellte Sicherheitsbehörden und wir haben auch ein breites gesetzliches Instrumentarium, das in der letzten Zeit nachgeschärft worden ist, in den letzten Jahren nachgeschärft worden ist. Wir sind nicht wehrlos!
    Müller: Das sagen die Franzosen und die Amerikaner auch. Trotzdem passiert es.
    "Es gibt nicht die absolute Sicherheit"
    Geiger: Ja! Ich glaube, eines muss einem klar sein. Insbesondere in einem Rechtsstaat, aber in jedem Staat gibt es das und - man kann es immer wiederholen, auch wenn es schrecklich klingt - nicht die absolute Sicherheit. Selbst in Hochzeiten der Sowjetunion konnte ein Deutscher mit einem kleinen Flugzeug auf dem Roten Platz in Moskau landen. Das muss man sich klar machen. Es gibt die absolute Sicherheit nicht. Nicht einmal eine Diktatur kann dies sichern.
    Müller: Warum betonen Sie das, Herr Geiger, insbesondere in einem Rechtsstaat? Ist der weniger wehrhaft als ein Unrechtsstaat?
    Geiger: Nein! Ich betone, dass kein Staat die absolute Sicherheit garantieren kann. Darüber müssen wir uns im Klaren sein. Und wir müssen auch eines klar machen: Wir haben einen Rechtsstaat, der auch Rechte zu verteidigen hat. Es gibt diesen berühmten Spruch eines berühmten amerikanischen Präsidenten: Wer alles für die Sicherheit gibt, verliert alles, nämlich er verliert die Freiheit. Das Bundesverfassungsgericht hat das ja häufig gesagt. Wir können absolute Sicherheit sowieso nicht erreichen, aber sie wäre dann nur um den Preis der Aufgabe der Freiheit zu erhalten, und das ist das, was unseren Staat ja ausmacht. Wir wollen nicht eine Diktatur. Das würden vielleicht manche auch von den Terroristen wünschen, dass wir unsere Freiheitsrechte, die Rechte des Bürgers aufgeben. Das wollen wir aber nicht.
    Müller: Zu der Verteidigung der Rechte des Bürgers gehört dann auch, dass es das Recht der Gefährder gibt, sich weiter zu radikalisieren, bevor etwas passiert?
    "Wir haben bereits das Strafrecht in den Vorfeldbereich verlagert"
    Geiger: Ja. Es gibt zwar kein Recht, Straftaten zu begehen oder sich auf Straftaten vorzubereiten, und wir haben hier ja auch inzwischen, wie ich sagte, bereits das Strafrecht in den Vorfeldbereich verlagert, wie man das nennt. Wir haben inzwischen schon die Strafbarkeit, wenn man sich vorbereitet, wenn man sich Waffen besorgt für eine solche Straftat, wenn man ins Ausland reist, um dort Straftaten zu begehen und andere auszubilden. Wir haben das vorverlagert mit der Folge, dass die Sicherheitsbehörden bereits im Rahmen dieser Vorbereitungshandlungen ihr breites Instrumentarium an polizeilichen und Sicherheitsmaßnahmen wie die Rasterfahndung, verdeckte Ermittler einzusetzen und so weiter einsetzen kann. Wir sind da nicht wehrlos. Wir haben gute Chancen und deswegen müssen wir gleichwohl - - Man muss den kühlen Kopf bewahren, glaube ich. Das ist wichtig. Das ist natürlich leicht zu sagen, wenn wir gerade wieder lesen oder hören und darüber nachdenken, was wir gestern erlebt haben aus Frankreich, wo ein Polizeibeamter und dessen Lebensgefährtin einfach niedergestochen worden sind. Da ist die Gefahr, dass die Emotionen in unserem Kopf reagieren. Wir brauchen wie gesagt den kühlen Kopf.
    Müller: Sie sagen, Herr Geiger, versuchen wir das mit dem kühlen Kopf dennoch mal weiterzudrehen. Es gibt diese Instrumentarien, die sind besser geworden in vielen Ländern, auch in den USA, in Frankreich, aber auch in Deutschland. Man kann beobachten, wir haben mehr Möglichkeiten einzudringen vielleicht in diese Szene. Bei allen Attentaten, die wir jetzt hier aufgezählt haben, in den vergangenen Monaten - und das gilt auch für Orlando, das gilt jetzt auch für Paris beziehungsweise in der Nähe von Paris, was gestern passiert ist -, waren die Attentäter immer bekannt. Sie hatten sogar zum Teil Haftstrafen abgesessen. Man kannte das Gefährdungspotenzial und musste dann offenbar doch abwarten, bis es passiert. Warum?
    "Wir wollen nicht das, was wir im Dritten Reich 'Schutzhaft' genannt haben"
    Geiger: Ja, das ist wirklich ein "Problem", eine Folge des Rechtsstaates, was wir in Deutschland nicht haben wollen. Das muss man auch ganz klar allen Bürgern sagen. Wir wollen nicht das, was wir im Dritten Reich "Schutzhaft" genannt haben, wo die Gestapo Leute, von denen sie gedacht haben, die sind gegen den Staat, sie einfach einsperren konnte. Und wir wollen auch nicht das, was wir als das Guantanamo-Phänomen bezeichnen, was in Guantanamo passiert, wo Menschen, von denen die US-Behörden glauben, dass sie schwerste terroristische Straftaten begehen werden, festgehalten werden, ohne gerichtliches Urteil. Das ist in einem Rechtsstaat nicht möglich. Das Bundesverfassungsgericht, das ja unsere Verfassung auslegt, sagt immer wieder, es ist eine Abwägung vorzunehmen. Der Staat hat die Aufgabe, terroristischen Bestrebungen mit den erforderlichen Mitteln entgegenzutreten, aber mit den rechtsstaatlichen Mitteln entgegenzutreten. Der Staat hat die Balance zu wahren, auf der einen Seite zwischen der Sicherheit der Gesamtbevölkerung, aber auch mit dem Schutz der Freiheitsrechte des einzelnen Bürgers. Wir haben im Artikel II. Grundgesetz den ganz klaren Satz, die Freiheit der Person ist unverletzlich, und wenn ein Straftäter seine Strafe verbüßt hat, dann muss er freigelassen werden, es sei denn, es sind die Voraussetzungen einer Sicherungsverwahrung gegeben, und das war in all diesen Fällen nicht der Fall.
    Müller: Das wäre ja ein Punkt, über den man diskutieren könnte. Aber Sie haben jetzt sehr juristisch, staatsrechtlich auch argumentiert. Herr Geiger, das ist Ihr gutes Recht. Sie waren aber auch Chef der Geheimdienste. Sie waren Präsident des Bundesverfassungsschutzes. Sie waren Chef des Bundesnachrichtendienstes. Wie frustrierend ist das für die Sicherheitsbehörden, ganz, ganz, ganz viel zu wissen und doch dann letztendlich nichts machen zu können?
    Geiger: Es ist sicher schwierig, wenn man weiß, was weiß man schon, wenn man jedenfalls ahnt, dass eine Person schwere Straftaten begehen wird, und diese Person nicht von der Straße wegnehmen kann, wie man umgangssprachlich sagt. Das ist schwierig. Andererseits - und wir haben auch hier Möglichkeiten - in besonderen Fällen werden besonders starke Gefährder, wie man das nennt, rund um die Uhr bewacht. Das erfordert einen Riesenaufwand.
    Müller: Fehlt auch oft das Personal zu, haben wir gelesen.
    "Wir brauchen die Unterstützung des nächsten Lebensumfeldes"
    Geiger: Bei besonders hohen Gefährdern wird das gleichwohl gemacht, aber das ist natürlich extrem personalintensiv. Das wissen wir alle. Eine der Maßnahmen wird, wenn diese terroristische Gefährdungslage weiter anhält, sicher sein, dass wir in diesem Bereich die Polizei, die Sicherheitskräfte weiter verstärken werden müssen, weil der Aufwand hoch ist. Andererseits müssen wir die Gesellschaft, müssen wir unsere Bürger schützen und müssen versuchen, Gefährder, wie diese genannt werden, auch weiter von Straftaten abzuhalten, sie unter Kontrolle zu bringen.
    Müller: Wenn das ein Problem ist? Sie sagen, die hohen Gefährder, die ganz hohen Gefährder, die gefährlich sind, vermeintlich, die werden beobachtet, die anderen dann nicht, die mittleren Gefährder, die genauso gefährlich sein könnten. Ist das das große Dilemma?
    Geiger: Ich glaube, wir müssen uns klar machen, dass wir nicht in jeden Kopf hineinschauen können. Denken Sie zum Beispiel an den Anschlag, den ein Deutscher begangen hat in Frankfurt am Main, der in einen Bus gestiegen ist mit amerikanischen Soldaten, die noch unbewaffnet waren nach der Ankunft, und einige erschossen hat, zwei erschossen hat, bis seine Pistole Ladehemmung hatte. Das ist ein einsamer Wolf, wie man das nennt, der sich selbst radikalisiert hat. Solche Personen werden wir, das müssen wir uns klar machen, nicht in den Griff bekommen. Aber andererseits - und hier gilt der Satz von de Maizière -, wir brauchen hier die Unterstützung der Bevölkerung. Wir brauchen auch die Unterstützung der Familien. Wir brauchen die Unterstützung des nächsten Lebensumfeldes. Wenn Eltern den Eindruck haben, ihr Sohn, ihre Tochter radikalisiert sich plötzlich, verändert sich plötzlich, dann müssen wir die Leute bitten, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen, um dann zu versuchen, auf die Person einzuwirken. Und da brauchen wir übrigens auch eines, was ganz entscheidend wichtig ist. Ich glaube, gerade wenn das islamistische Gewalttäter sind, brauchen wir auch die Unterstützung der muslimischen Community, die aus religiösen Gründen auf einen jungen Mann, eine junge Frau, die sich zu radikalisieren beginnt, einwirkt, um deutlich zu machen, dass der Islam genau das nicht will, nicht verlangt.
    Müller: Herr Geiger, gehen wir noch mal auf die politische Ebene ein. Sie haben in einem Interview jüngst ein bisschen die Problematik geschildert zwischen den Geheimdiensten, BND, alle, die beteiligt sind, und der Politik. Ist das nach wie vor so, dass Sie es als unglaublich schwierig, als mühsam einstufen, dass die Politik nicht in jeder Frage hinter den Geheimdiensten steht?
    "Die Politik steht nicht immer hinter den Nachrichtendiensten"
    Geiger: Ja. Ich habe in dem Interview das deutlich gemacht, dass die Politik nicht immer hinter den Nachrichtendiensten steht. Und man muss eigentlich hinter Sicherheitsbehörden dann stehen, auch wenn es schwierig wird, wenn Situationen zu bewältigen sind, wo Sicherheitsbehörden vielleicht massiv in der Kritik sind, ob jetzt berechtigt oder unberechtigt. Da müssen auch die Mitarbeiter in Sicherheitsbehörden ganz generell, die Polizei, die Mitarbeiter in Nachrichtendiensten den Eindruck haben, dass man ihnen nicht die "Sünden" verzeiht, dass man aber sie unterstützt, Probleme zu klären und zu besseren Lösungen zu kommen.
    Müller: Das gilt auch für die Koalition im Moment in der aktuellen Situation, nicht genügend Unterstützung für die Sicherheitsbehörden?
    Geiger: Das ist jetzt eine schwierige Frage.
    Müller: Sagen Sie ruhig, was Sie dazu meinen.
    "Die Unterstützung für die Nachrichtendienste kann sicher stärker sein"
    Geiger: Die Unterstützung für die Nachrichtendienste und für die Polizeibehörden kann sicher noch stärker sein. Wir sehen manchmal, dass man sich abwendet. Wenn Sie einzelne Interview-Äußerungen hören, dann wird Kritik viel leichter geäußert, als dass man sagt, man will versuchen, die Situation so zu verbessern, oder vor allen Dingen, wenn Kritik vielleicht unberechtigt ist, auch mal einer unfairen Kritik entgegenzutreten. Das würde sicher den Nachrichtendiensten gut tun.
    Müller: Auch de Maizière könnte das tun?
    Geiger: Auch de Maizière könnte das tun, wobei beim Bundesinnenminister sehe ich hier eigentlich noch die deutlichsten Äußerungen, wie wir ja gerade auch wieder in letzter Zeit gehört haben, zu Sicherheitsbehörden.
    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Hansjörg Geiger. Herr Geiger, wir sind leider am Ende des Gesprächs, weil die Nachrichten hier im Deutschlandfunk warten. Ich danke ganz herzlich, dass Sie Zeit für uns gefunden haben. - Hansjörg Geiger war viele Jahre Chef des Bundesnachrichtendienstes und auch Präsident des Bundesverfassungsschutzes. Danke ganz herzlich, Ihnen noch einen schönen Tag.
    Geiger: Ich danke auch. Auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.