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Thomas Hürlimann: "Abendspaziergang mit dem Kater"
Buch eines Überlebenden

"Abendspaziergang mit dem Kater" versammelt Essays, Geschichten und Erinnerungstexte des Schriftstellers Thomas Hürlimann. In verschiedenen Jahrzehnten entstanden, eröffnen sie einen anregenden Zugang zum Werk des Schweizer Autors. Gleichzeitig ist das Buch eine Annäherung an den Tod.

Von Ulrich Rüdenauer | 21.12.2020
Preisträger Thomas Hürlimann anlässlich der Preisverleihung Ludwig-Mülheims-Preis für religiöse Dramatik 2011 im Saal des Deutschen Theaters in Berlin
Thomas Hürlimann - die Grausamkeit des Erlebten in Literatur verwandeln (imago images / Lars Reimann)
"Abendspaziergang mit dem Kater" ist das Buch eines Davongekommenen. Pathetisch würde man sagen: eines Auferstandenen. Lazarus im Gewand eines Schweizer Schriftstellers. Lazarus ist ein Heiliger ohne Eigenschaften. Ohne sein Zutun wurde er nach vier Tagen im dunklen Grab von Jesus ins Diesseits zurückgeholt und in späteren Jahrhunderten zu einer Projektionsfläche für alle möglichen Künstler. Thomas Hürlimann widmet ihm einen essayistischen Text. Er sieht in Lazarus die Symbolfigur der Hochtechnologie-Medizin, die den Greisen im Winter ihres Lebens dank eingebautem Defibrillator zu einem zweiten Frühling verhilft.
"In der Leere dieser Gestalt wird die Leere einer Zukunft sichtbar, die alle Grenzen verwischt, die Grenze zwischen Jugend und Alter, zwischen Leben und Tod."
Thomas Hürlimann selbst hatte sich nach seiner Krebsdiagnose natürlich dieser Hightech-Medizin anvertraut. Sie hat ihn nicht nur einmal gerettet. Operationen und Zusammenbrüche, schmerzhafte Harnverhalte und Blasenkatheter – all das musste der Autor in den letzten Jahren über sich ergehen lassen, und immer wieder ist er dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen. Ja, zurückgeholt worden in den Lauf der Zeit wie Lazarus.
"Reise ins eigene Innere"
Hürlimann schildert diese Passionsgeschichte, die er am eigenen Leib erfährt, auf sehr offene und eindrückliche Weise – und er zeigt, was die Literatur vermag: die Grausamkeit des Erlebten in eine Geschichte zu verwandeln, die nicht nur etwas Trostreiches annimmt, sondern sogar humoristische Züge trägt. Seine "Reise ins eigene Innere", seine Odyssee durch das Krankenhaussystem der Schweiz und Berlins erzählt er mit dem Gestus eines Restaurant- oder Weinkritikers. Die Krankheit hat ihn zum Kenner gemacht. Also verteilt er Sterne wie im Guide Michelin.
"Mein Zimmer war eine Betonkammer, dafür gibt’s einen Stern Abzug, die Pflege hingegen war ausgezeichnet. Mütterliche Frauen – in meiner Vorstellung waren sie direkt der Käserei in der Vehfreude entsprungen – haben uns aussterbende Schweizer Knaben liebevoll betreut. Kardiologie Inselspital Bern: **."
So viel Distanz zum eigenen Leid und Leib muss man erst einmal aufbringen: Das ist neben der stilistischen Feinheit von Hürlimanns Texten vielleicht die größte Gabe dieses Autors – die eigene Geschichte so ins Literarische zu drehen, dass am Ende zwar die biografische Dringlichkeit spürbar bleibt, aber kein Gefühl der Scham oder Indiskretion entsteht.
In seinen Romanen und Erzählungen durfte man diesen Übergang immer wieder beobachten. Und auch in dem Sammelband "Abendspaziergang mit dem Kater" stellt er dieses Talent einige Male unter Beweis: Wenn er beispielsweise von seinem Vater, dem Schweizer Bundesrat Hans Hürlimann, und seinem Aufstieg und Fall berichtet. Oder die katholische Herkunft erkundet und dabei ein Porträt seiner selbst als junger Autor und vom Marxismus infizierter Rebell liefert. Immer wieder verschwimmen das Literarische und das Historische, die Fiktion und die Familiengeschichte – etwa bei einem Besuch im polnischen Przemysl, wo er nach den jüdischen Wurzeln der Mutter sucht und lauter Gestalten über den Weg läuft, die aus Schwejks "bravem Soldaten" entsprungen scheinen. Oder wenn er die Trauerrede auf seinen jung verstorbenen Bruder Matthias aufnimmt in den Band; so nah und so dicht ist das Erzählte dann, dass man eine Ahnung davon bekommt, wie prägend dieses Ereignis für das eigene Leben und Schreiben gewesen sein muss:
"Am 7. Dezember schreibt Matthias morgens um vier, in kaum mehr lesbarer Schrift: 'Bin auf der Suche nach dem Geheimnis. Es muss ja nicht die Wiederkunft des ewig Gleichen sein. Annäherung an den Tod.'"
Buchcover: Thomas Hürlimann: „Abendspaziergang mit dem Kater“
Buchcover: Thomas Hürlimann: „Abendspaziergang mit dem Kater“ (Foto: Gerda Bergs / Deutschlandradio, Buchcover: S. Fischer Verlag)
Annäherung an den Tod
"Abendspaziergang mit dem Kater" ist eine Annäherung an den Tod, wenngleich die darin versammelten Texte sowohl in ihrer Form als auch in den Entstehungsimpulsen unterschiedlicher kaum sein könnten: Es gibt tatsächlich parodistische Geschichten; eine wunderbar kluge Ahnenforschung zum literarischen Übervater Gottfried Keller; es gibt kritische Texte, die den Marxisten zum konservativen Bewahrer einer jüdisch-christlichen Kultur verwandelt zeigen; es gibt ironische Betrachtungen eines Politischen über die Schweiz und solche über den wunderlichen Wunsch, ein Schreibender zu sein:
"Seit ich 13 war, führte ich die Existenz eines Dichters, aber ich musste 30 werden, bis es mir gelang, auf der Bühne und in einem Verlag, erst noch einem neugegründeten, zu landen."
Im Dezember wird Thomas Hürlimann 70 Jahre alt und blickt man zurück auf sein Werk, so fällt besonders dem Tierfreund ein Detail ins Auge: Immer streifen Katzen durch seine Geschichten wie sie es auch in den Büchern der von Hürlimann verehrten Romantiker getan haben. In seinem letzten großen Roman "Heimkehr" gab es einen Kater, der sprechen konnte. Nur bei E.T.A. Hoffmann oder Michail Bulgakow hatte solch ein philosophisches Katzenvieh einen prominenteren Auftritt. In seinem neuen Buch taucht der Kater in kleinen Episoden auf, die Übergänge schaffen zwischen den verschiedenen Kapiteln und Themen. Dieser alte Kater ist auf den Dichter nicht angewiesen; aber umso enger ist die Verwandtschaft zwischen den beiden, umso treuer das Verhältnis. Bis das Tier sich eines Tages davon macht, wahrscheinlich um seinen menschlichen Gefährten nicht mit dem eigenen Dahinsiechen zu behelligen:
"Viele Jahre später traf ich zufällig den Förster und erfuhr von ihm, dass er im Frühling nach meinem Wegzug oben im Bergwald ein Häufchen abgenagter Knochen entdeckt habe. Vielleicht, ein schönes Vielleicht, war der Kater zum Sterben an den Fuß des Felsens gekrochen, wo er seinerzeit, auf einem unserer frühen Gänge, die allererste, winzige, hellgrüne Knospe entdeckt hatte."
Auch hier ist er wieder, der Tod, der dem Verfasser in diesem Buch häufig über die Schulter blickt. Das "schöne Vielleicht" aber, das Thomas Hürlimann so nebenhin einflicht, vermag ihm sogar etwas von seiner Unbarmherzigkeit zu nehmen.
Thomas Hürlimann: "Abendspaziergang mit dem Kater"
S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 303 Seiten, 24 Euro.