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Thomas Mulitzers "Tau"
Abrechnung mit einem Heimatort

Der Österreicher Thomas Mulitzer reagiert in seinem Debüt "Tau" auf das 1963 erschienene Werk "Frost" von Thomas Bernhards erstem Roman: Wieder kommt ein junger Mann in den Gebirgsort Weng - dieses Mal aber, um sich auf die Spuren von Autor Thomas Bernhard zu begeben.

Von Christoph Schröder | 12.01.2018
    Ausblick von Weng im Gesäuse über das Ennstal auf die Berge, Nationalpark Gesäuse, Steiermark, Österreich, Europa iblrmm03642598.jpg Outlook from Weng in Gesaeuse above the Ennstal on the Mountains National Park Gesaeuse Styria Austria Europe iblrmm03642598 JPG
    Ausblick von Weng - dort spielt der Roman "Tau" von Thomas Mulitzer (imago stock&people)
    Thomas Bernhard ist ein Autor, an dem sich in den vergangenen 50 Jahren so viele deutschsprachige Autoren abgearbeitet haben dürften wie an keinem anderen. Seine hypotaktischen Satzgirlanden, sein Beschimpfungseifer und seine manische Todessehnsucht waren schon zu Bernhards Lebzeiten eine sowohl reizvolle, nicht selten aber auch allzu willkürlich anmutende Projektionsfläche für literarische Produktionen.
    Thomas Militzer Buch "Tau" und der Autor Thomas Bernhard
    Thomas Militzer Buch "Tau" ist eine Auseinandersetzung mit "Frost" von Thomas Bernhard (Kremayr & Scheriau Verlag / pa / dpa / Votava)
    Thomas Mulitzer hat dagegen einen höchst plausiblen Grund für die Beschäftigung mit Thomas Bernhards "Frost": Mulitzer ist nicht nur in der Gemeinde Goldegg im Pongau, zu der der Ort Weng gehört, aufgewachsen – noch dazu betrieben seine Großeltern dort ein Gasthaus und dürften somit unfreiwillig als Vorlagen gedient haben für Bernhards Beschreibungen eines im Großen und Ganzen schwachsinnigen, kleinwüchsigen Menschenschlags im Ort.
    Die erzählerische Anlage von "Tau" hat Mulitzer mit der von "Frost" parallel geführt. Auch "Tau" setzt ein mit der Beschreibung der Ankunft eines jungen Mannes im Innergebirg, wie der Landstrich genannt wird. Allein: Mulitzers Erzähler ist ein Germanist, der von seinem Professor auf Recherche in Sachen Thomas Bernhard nach Weng geschickt wurde. Und so wird die Ankunft des Erzählers - naturgemäß, muss man sagen - von Überlegungen über das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit begleitet:
    "Das Schreiben muss auch mit außergeistigen Tatsachen rechnen und mit lästigen Möglichkeiten wie der Realität. Mein Vorhaben, das Überschneiden des Lebensweges meiner Großeltern mit jenem eines lungenkranken Literaten zu erfassen, zwingt mich zu dazu, mich mit solchen Tatsachen und Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Meine elfenbeinerne Umgebung zu verlassen und aufs Forschungsfeld zu wandern."
    Der Ich-Erzähler kommt bei seinem Großvater unter, der als Witwer in Weng lebt. Die Gastwirtschaft, die er mit seiner Frau geführt hat, ist längst geschlossen. Nach und nach taucht der Erzähler in den Kosmos des Innergebirgs ein. Die Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend im Innergebirg, die er durch seinen Wegzug glaubte, hinter sich gelassen zu haben, überlagern sich mit den Erzählungen über den Autor, der vor mehr als fünf Jahrzehnten vor Ort Stoff für sein Buch gesammelt hat, und mit den Geschichten aus dem Roman selbst. Wie "Frost" ist auch "Tau" in 27 Tagebucheinträge unterteilt.
    Bernhard-Aficionados dürften einen großen Spaß daran haben, die zahlreichen Anspielungen, indirekten Zitate und strukturellen Analogien zwischen den beiden Texten zu rekonstruieren. "Tau" liest sich allerdings nicht wie ein verkopftes germanistisches Experiment. Mulitzer erzählt recht rasant, handfest und weiß den Übervater Bernhard an seiner Seite, wenn es darum geht, Figuren und Szenen aus dem Dorfleben auf möglichst deftige Art und Weise zu beschreiben:
    "Ein Trinkspruch folgte dem nächsten. Der Schnapsbrenner schaute ganz rührselig zur Truppe hinüber und sehnte sich nach seiner eigenen Jugend, als die Leber und der Magen noch keine Probleme machten und der Schnaps noch nicht einfach durch den Körper hindurchlief, von der Speiseröhre ohne große Umwege in die Unterhose. Sein Gesöff würde Generationen von Wengern prägen. Verminderte Gehirnleistung und alkoholgeschädigte Kinder – die verseuchte DNA trägt seine Handschrift."
    Exkurse über die nationalsozialistische Vergangenheit von Weng
    "Tau" ist ohne Frage ein unterhaltsames Buch, wenn auch kein in jeder Hinsicht gelungener Roman. Zu aufdringlich erscheint da zum einen das Bedürfnis des Autors nach einer Abrechnung mit den Verhältnissen in seinem Heimatort. Wer schon einmal in Goldegg war und weiß, dass ein dort gebürtiger und ansässiger Hotelier mit Thomas Bernhard-Festivals und Autorenstipendien dem Dorf die Präsenz einer durchaus nicht uneitlen Kulturschickeria beschert hat, liest die eher grob gezeichneten satirischen Schlüsselromanpassagen eher gelangweilt als amüsiert. Dass weder Ben Becker noch Thomas Glavinic, die hier nur notdürftig kaschiert ihre Auftritte haben, sonderlich angenehme Menschen sein dürften, ist keine Neuigkeit.
    Seltsam unmotiviert wirken auch Mulitzers zugegeben packend erzählten Exkurse über die nationalsozialistische Vergangenheit von Goldegg und Weng. "Tau" wirkt in vielen Passagen so, als arbeite Mulitzer sich an Themen ab und als gerate ihm dabei die Struktur seines Romans ein wenig außer Kontrolle. Stattdessen wird die unselige Kette von Nationalsozialismus, Geschichtsverdrängung und Provinzhölle schlicht noch einmal als Bernhard’scher Topos reaktiviert. Höchst ambivalent und auch ungeklärt schließlich erscheint auch das Verhältnis des Ich-Erzählers zu Leben und Werk seines Forschungsgegenstandes. Wer war dieser Autor, der sich da in Weng herumgetrieben, an den Wirtshaustischen gelauscht und die Einheimischen genau beobachtet hat? Bruchstücke von Erzählungen und Andeutungen im Dorf legen den Verdacht nahe, dass jener Autor – der Name Bernhard kommt im Roman nicht ein einziges Mal vor – dem Protagonisten näher ist, als dieser es wahrhaben möchte.
    Das Paradox, dass da einer posthum verehrt wird, der dadurch berühmt geworden ist, dass er die Menschen, von denen er nun verehrt wird, beschimpft hat, wird von Mulitzer aufgenommen: Er lässt Figuren auftreten, die im Bernhard’schen Jargon dessen Selbstinszenierung aufgreifen und verstärken:
    "Seine Krankheit sei vor allem eine Seelenkrankheit gewesen, sie habe zuallererst seine Lunge und seinen Körper befallen, aber auch vor seiner Seele nicht Halt gemacht. Am Ende sei jede Krankheit eine Seelenkrankheit, eine Krankheit, an der man selbst schuld sei."
    Ohne befriedigendes Ergebnis der Recherche
    "Tau" ist tatsächlich ein klassisches Debüt. Nicht ohne Grund hat Mulitzer seinem Roman ein Bernhard-Zitat vorangestellt: "In das erste Buch, da schreibt man alles hinein." Und so nimmt auch Mulitzer einen ganze Reihe von Erzählfäden und Motiven auf: Familienbande, Katholizismus, Politik, Alkoholismus, Geltungssucht, Bigotterie – und immer wieder den Tod. Manche seiner Figuren sind so grob überzeichnet, dass sie selbst für eine Satire zu klischeehaft geraten sind. Und auch Mulitzers Verhältnis zu seinem Ich-Erzähler flackert permanent zwischen Identifikation und ironischer Distanz.
    Wenn der Erzähler am Ende sein Verhältnis zu seiner Herkunft auslotet, darf man sich nicht sicher sein, ob das Pathos, das darin mitschwingt, mehr ist als nur eine Karikatur des Bernhard’schen Übertreibungsgestus:
    "Ich musste es akzeptieren: Ich war Wenger, Gebirgler mit Haut und Haar. Ob ich wollte oder nicht. Mein Vaterland war das Innergebirg – der Rest der Welt existierte für mich nicht. Meine Heimat lag im Schatten der Berge hinter dem Wald, und als ich fortgezogen war, war ein Teil von mir zurückgeblieben. Ein Fuß am Gaspedal, der andere noch zwischen Tür und Angel. In fernen Städten verfluchte ich mein schlechtes Blut und zehrte dennoch von den Gedanken an zu Hause."
    Wie Bernhards Medizinstudent verlässt auch Mulitzers Ich-Erzähler am Ende das Innergebirg ohne befriedigendes Ergebnis der Recherche. Aber beide gehen in dem unguten Gefühl, dass sie mit der Landschaft, der sie entfliehen, noch nicht fertig sind.