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Thomas Piketty: „Kapital und Ideologie“
Jenseits von Kapitalismus und Kommunismus

Der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty zeichnet in seiner wirtschaftspolitischen Weltbetrachtung "Kapital und Ideologie" eine globale Geschichte der Ungleichheit. Daraus speist sich sein Plädoyer für eine Neuregelung von Besitz im Sinne eines partizipativen Sozialismus der Zukunft.

Von Volkmar Mühleis | 24.05.2020
Porträt von Thomas Piketty: Der französische Ökonom warb in den Niederlanden für sein Buch "Kapital und Ideologie".
Der französische Ökonom Thomas Piketty (dpa / picture alliance / Sander Koning)
Die Zeit ideologischer Grabenkämpfe scheint vorbei. 1991 zerfiel die Sowjetunion als Hort kommunistischer Ideale, der Kalte Krieg und das Wettrüsten endeten in der kapitalistischen Globalisierung. Ost und West, Russland und die USA, sind politisch noch Gegenspieler, doch wirtschaftlich gleichermaßen von Milliardären geprägt. Vieles hat sich verschoben: Demokratie und Kapitalismus gehen inzwischen auch getrennte Wege, "links" und "rechts" werden als politische Orientierungsmarken infrage gestellt. In den Geisteswissenschaften wiederum hat man das Unterfangen einer Weltgeschichte schon lange verabschiedet, die große historische Erzählung gilt vielen als passé.
Der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty hält mit seinem neuen Buch "Kapital und Ideologie" fulminant dagegen. Er wagt die Synthese von empirischer Forschung und philosophischer Argumentation, und er versucht sich an einer globalen Geschichte der Ungleichheit. Der Knoten, der alles zusammenhält, besteht aus der Feststellung: "Jede menschliche Gesellschaft muss ihre Ungleichheiten rechtfertigen."
Besitz – ein "natürliches Recht"?
Ungleichheit muss allgemein akzeptiert werden, wenn sie Bestand haben soll, das zeigt die Geschichte sozialer Unruhen, Revolten und Revolutionen. Welcher sinnstiftende Zusammenhang leistet eine solche Akzeptanz? Eine klare Rollenverteilung zum Beispiel: Eine geistige Elite sorgt für die kulturelle Blüte der Gesellschaft, eine kriegerische für ihren Schutz und die arbeitende Bevölkerung für das leibliche Wohl. So hat man es in Europa seit dem christlichen Mittelalter etwa verkündet.
Diese feudale Hierarchie wurde durch die Französische Revolution ins Wanken gebracht, sie band die einstigen Eliten und die Bevölkerung fortan in eine gemeinsame Ordnung, in der nur zwei Dinge unterschieden wurden: ein zentraler Staat, der für kulturelle Sinnstiftung und Schutz sorgt, und eine Bevölkerung, die ihr Land, ihren Besitz pflegt. Piketty spitzt seinen historischen Rückblick auf neuralgische Punkte zu: Die Erklärung der Menschenrechte durch die französischen Revolutionäre spricht vom "natürlichen Recht" des Menschen auf Besitz. Besitz wurde nicht länger als gottgegeben aufgefasst und doch selbst nicht neu überdacht, vielmehr als nun "natürliches Recht" behauptet.
Die Undeutlichkeit an dieser Stelle führte damals zum Durchlass alter Besitzansprüche in neuem Gewand und begründet bis heute in zahlreichen Ländern den privaten Anspruch auf Besitz. Wie aber könnte sich Besitz anders darstellen? Thomas Piketty nennt drei Möglichkeiten. Hier ein Ausschnitt:
"Eine Möglichkeit ist öffentliches Eigentum: Der Zentralstaat, eine Gebietskörperschaft (in Frankreich beispielsweise Region, Departement oder Kommune…) oder eine Behörde, die vom Staat kontrolliert wird (…). Eine andere Möglichkeit ist gesellschaftliches Eigentum: Die Beschäftigten beteiligen sich direkt an der Leitung der Unternehmen und teilen sich die Macht mit den privaten (und staatlichen) Aktionären, möglicherweise lösen sie diese auch ganz ab. Und für die dritte Möglichkeit schlage ich die Bezeichnung Eigentum auf Zeit vor: Die reichsten Privateigentümer übertragen jedes Jahr einen Teil ihres Besitzes der Allgemeinheit, damit das Vermögen zirkuliert und die Konzentration des Privateigentums und der wirtschaftlichen Macht abnimmt. Das kann zum Beispiel in Form einer progressiven Steuer auf Eigentum passieren, die es erlaubt, jedem jungen Erwachsenen eine bestimmte Summe Geld zu schenken."
Erben für alle
Der kommunistischen Auffassung nach musste Privatvermögen unterbunden werden, und nicht weniger ideologisch wendeten sich neoliberale Ökonomen und Unternehmer gegen staatliche Befugnisse, die über den Schutz der Bevölkerung hinausgingen. Es ist kein Wunder, so Piketty, wenn nach vier Jahrzehnten von Privatisierungen einst staatlicher Bereiche die Frage von Schutz heute als politisches Problem im Vordergrund der Debatten steht. Dieses Problem ist ein Erbe neoliberaler Verengung auf die Schutzfunktion des Staates und wurde im Rahmen der Flüchtlingsbewegungen seit 2015 von rechtsradikalen Parteien in Europa dazu genutzt, den vermeintlich schwachen Staat mit nationalistischen Parolen noch zu diffamieren.
Ökonomische Radikalität führte zu politischer Radikalität, und beiden muss abgeholfen werden, so der französische Wirtschaftsexperte. Deshalb schlägt er vor, die drei Möglichkeiten, wie man Besitz nicht allein als natürliches Recht des Einzelnen auffassen kann, zu kombinieren, sprich: Besitz zum Teil als öffentlich zu verstehen, zum Teil als Summe aller Beteiligten einer Produktion und zum Teil als Privateigentum auf Zeit. Die zeitliche Begrenzung des privaten Besitzes würde dabei über zwei gesetzliche Regelungen erfolgen: einen mit dem Einkommen steigenden Steuersatz und einer Revision des Erbschaftsrechts, indem privates Vermögen ebenfalls einer mit dem Besitz ansteigenden Besteuerung unterzogen wird und so im Laufe der Zeit wieder in die öffentlichen Kassen übergeht.
Diese Rückführung erlaubt es nach Piketty, ein Erben für alle zu finanzieren, indem jede Bürgerin und jeder Bürger mit 25 Jahren ein Startkapital ausgezahlt bekommen soll, um selbst in ein eigenes Vorhaben oder eine Unterkunft investieren zu können. Denn, so sein ökonomisches Argument, der Verbleib von Kapital in den Händen weniger steigert nicht die gesellschaftliche Produktivität, wie es historische Langzeitstudien belegen. Und so wie wirtschaftlicher Neoliberalismus politischen Nationalismus provoziert, so also auch die Monopolbildung im Neoliberalismus ökonomische Rezession. Der Autor sucht einen Ausweg aus den Reinheitspostulaten von Kommunismus und Kapitalismus, und er bedient sich stets historischer Nachweise, um die Plausibilität seiner Vorschläge zu bekräftigen.
Diese Bücher von Thomas Piketty sind bisher auf Deutsch erschienen
Diese Bücher von Thomas Piketty sind bisher auf Deutsch erschienen (Buchcover: C.H. Beck Verlag)
Die Lehren der Geschichte
Insofern darf man dieses voluminöse Buch von über 1300 Seiten nicht auf mediale Slogans reduzieren, wie es in der Presse bisweilen geschah. Piketty ist nicht utopischer als es die Vergangenheit bereits war. Bei der Lektüre seines Bestsellers "Das Kapital im 21. Jahrhundert" – der 2013 erschienen war und die weltweite Finanzkrise 2008 im Zeichen einer historisch zunehmenden Tendenz von Ungleichheit zeigte –, konnte noch der Eindruck entstehen, nur Krisen und Kriege führten die Menschen zur Einsicht, nicht die Moral. Der Autor verwehrte sich damals dagegen, und sein neues Buch "Kapital und Ideologie" ist denn auch als Antwort hierauf zu verstehen. So erinnert er an die Debatten in den USA Ende des 19. Jahrhunderts über die Besteuerung von Einkommen, auch im Sinne einer mit dem Vermögen ansteigenden Steuer, zu der sich 1919 der Präsident der American Economic Association, Irving Fisher, äußerte:
"Er sprach das Thema Ungleichheit in seiner Presidential Address an und erklärte seinen Kollegen kurz und bündig, dass die zunehmende Vermögenskonzentration dabei sei, zum größten ökonomischen Problem Amerikas zu werden. Wenn man nicht aufpasse, bestehe die Gefahr, dass Amerika genauso ungleich werde wie das alte Europa (das damals als oligarchisch und als Gegensatz zum Geist der Vereinigten Staaten wahrgenommen wurde)."
Und mit Blick auf Statistiken zum Thema, die 1915 Willford King erhoben hatte, schreibt Piketty weiter: "Kings Zahlen hatten Fisher sehr erschreckt. Feststellungen wie '2 Prozent der Bevölkerung besitzen mehr als 50 Prozent des Reichtums' und 'zwei Drittel der Bevölkerung besitzen fast nichts' bedeuteten in seinen Augen 'eine undemokratische Verteilung des Reichtums' (…), die das Fundament der amerikanischen Gesellschaft bedrohte."
Finanzwesen: Die Erfindung des Geldes
In seinem Essay "The Invention of Money" über die Geschichte des Finanzwesens blickt John Lanchester auf Erfindungen zurück, die die Wirtschaft bis heute prägen – und er dokumentiert die fortwährende Suche nach neuen Formen des Geldes.
Die Geschichte verkehrt sich, das lernen wir aus der Geschichte. Beispiel Schweden: Das Land gehörte im 19. Jahrhundert zu den europäischen Staaten mit der größten sozialökonomischen Ungleichheit und wurde unter dem Druck der Bevölkerung, zu Friedenszeiten zwischen 1909 und 1911, in Richtung sozialdemokratisches Vorzeigeland verändert. Ein anderes Beispiel: Der Neoliberalismus, wie er 1938 in Paris auf einem von Walter Lippmann initiierten Kolloquium formuliert wurde, galt der Verteidigung eines freien Marktes, wie ihn das 19. Jahrhundert bereits in Vollendung gekannt hatte.
Auf die Krise der Wohlfahrtsstaaten in den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts reagierten die USA und Großbritannien unter Ronald Reagan und Margaret Thatcher so gesehen mit der Rückkehr zu alten Rezepten unter neuen Vorzeichen: Den Staat so sehr auf seine Schutzfunktion reduzieren wie im 19. Jahrhundert konnte man nach den sozialen Errungenschaften im Jahrhundert darauf nicht mehr, doch man konnte die Errungenschaften selbst in Märkte verwandeln, und so aus dem Amt für Arbeit von Vater Staat etwa eine Agentur für Ich-AGs machen, um es mit Blick auf Deutschland überspitzt zu sagen.
Deutschland als Vorbild
Apropos Deutschland – es ist in Pikettys Plädoyer für eine Neuregelung von Besitz auf zweifache Weise ein Vorbild: Zum einen wurde in der Weimarer Reichsverfassung mit dem Status von Privatbesitz als natürlichem Recht gebrochen und im Grundgesetz der Bundesrepublik dann gleichfalls das Wohl der Allgemeinheit über das Recht auf Eigentum festgeschrieben. Zum andern wurde in der Bundesrepublik die Mitbestimmung der Angestellten stärker als anderswo ermöglicht. Der Umgang mit Staatsschulden wiederum macht am Beispiel Deutschlands das Verhältnis von Kapital und Ideologie offenkundig:
"Am Ende des Ersten Weltkriegs wollte Frankreich Rache für den Krieg 1870–1871 nehmen und forderte enorme Reparationszahlungen von Deutschland. Die Tatsache ist bestens bekannt, nur vergisst man im Allgemeinen, genau zu sagen, um welche Summen es ging und was sie bedeuteten. Die von Deutschland geforderten Summen waren schlichtweg unvorstellbar. Nach den Entscheidungen des Versailler Vertrags von 1919 und der Reparationskommission, die die Bedingungen 1921 präzisierte, sollte Deutschland 132 Milliarden Goldmark bezahlen, das waren mehr als 250 Prozent des deutschen Nationaleinkommens von 1913 und rund 350 Prozent des deutschen Nationaleinkommens der Jahre 1919–1921 (weil es seit 1913 gesunken war). Dabei handelte es sich ungefähr um die gleiche Größenordnung wie die Schulden, die Haiti 1825 aufgezwungen wurden (um 300 Prozent des Nationaleinkommens) und die Haiti wie eine Eisenkugel am Bein bis 1950 mit sich herumschleppte."
Eine historische Aufnahme zeigt den den britischen Prämierminister Winston Churchill zusammen mit US-Präident Franklin D. Roosevelt  und Joseph Stalin bei der Konferenz in Jalta am 11.02.1945 sitzend. Im Hintergrund stehen zwahlreiche Männer in militärischen Uniformen.
Feature: Deutschland und die Frage der Reparationen
Deutschlands Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg steht außer Frage. Aber wie verhält es sich mit der finanziellen Schuld? Deutschland verweist auf den Zwei-Plus-Vier-Vertrag. Damit seien alle Forderungen abgeschlossen.
Den Deutschen wurde ihre Kriegsschuld 1931 während der weltweiten Wirtschaftskrise erlassen. Die Schulden nach dem Zweiten Weltkrieg wurden für die Bundesrepublik 1953 zum Teil ausgesetzt und 1991 endgültig gestrichen. Lehrreich dazu im Vergleich ist die Geschichte Haitis: 1804 erklärten die einst französischen Sklaven ihre Unabhängigkeit, 1825 war Frankreich bereit ihre Unabhängigkeit anzuerkennen, gegen den Preis von Reparationszahlungen. Haiti musste den Forderungen nachkommen: 125 Jahre zahlten die ersten europäischen Sklaven der Neuzeit, die sich selbst befreit hatten, ihre Schulden vollständig ab, bis 1950.
Steuerflucht trotz Big Data
Es geht hier nicht um einen moralischen Vergleich mit den Kriegsschulden Deutschlands, sondern die Erkenntnis: Wo ein politischer Wille ist, ist auch ein Schuldenerlass. Die Rechtfertigung von Schuldeinforderungen steht über den ökonomischen Berechnungen selbst und ist als solche ideologisch zu begründen. Ideologie wird dabei allgemein als Kohärenz handlungsleitender Grundannahmen verstanden. Der Kern jeder sozialen Ideologie etwa ist eine Vorstellung von Gerechtigkeit und ihrem Verhältnis zur Ungleichheit. In seinem globalen Überblick zeigt Piketty die Einflüsse von feudalen Herrschaftsformen, Sklavenhaltergesellschaften, Kolonialmächten und die Weltwirtschaft bis heute beherrschenden Demokratien auf. Seine Vorschläge sind vor diesem Hintergrund entworfen. So verweist er etwa auf das scheinbare Paradox, dass im Einhergehen von neoliberaler Globalisierung und Digitalisierung die internationale Erfassung steuerrelevanter Daten nach wie vor in den Kinderschuhen steckt:
"Die Statistikbehörden, Finanzverwaltungen und vor allem die politisch Verantwortlichen haben noch immer keine Vorstellung von der internationalen Verteilung der Finanzportfolios und haben sich auch nicht die Mittel verschafft, um die Entwicklung des Finanzvermögens und deren Verteilung wirksam zu erfassen. Um es noch einmal zu betonen: Es mangelt ganz und gar nicht an den technischen Möglichkeiten, sondern es ist eine politische und ideologische Entscheidung (…)."
Die EU im Stresstest globalisierter Turbulenzen
Ob LuxLeaks, SwissLeaks oder Panama Papers, die Enthüllungen über Steuerfluchten sind bekannt. Warum, fragt Piketty, werden in Europa Steuern noch immer über die Selbstangaben der Bevölkerung erfasst, und nicht von den jeweiligen Staaten beziehungsweise ihrer Union? Das Argument, einer womöglich missbräuchlichen Überwachung vorzubeugen, lässt er nicht gelten. Die europäischen Institutionen hätten ihre Rechtsstaatlichkeit längst unter Beweis gestellt. Das Problem sei vielmehr, dass auf EU-Ebene für Beschlüsse in der Steuer-, Haushalts- und Sozialpolitik nur die Einstimmigkeit der Mitgliedsstaaten gilt. National können Länder sich in Steuerparadiese verwandeln – Luxemburg als bestes Beispiel – und in der EU ein Vorgehen dagegen mit ihrer Stimme blockieren. Bereits im eigenen Land aber stünde es jeder Regierung offen, die Steuererfassung zugunsten staatlicher Aufsicht zu reformieren. Darüber hinaus meint der Ökonom:
"Ganz allgemein gilt, dass nichts die dazu entschlossenen Länder hindert, bi- oder multilaterale Verträge zu schließen, solange diese ihre sonstigen Verpflichtungen nicht beeinträchtigen. Da die hier zur Diskussion gestellten fiskalpolitischen Befugnisse nicht zu den Befugnissen der Europäischen Union zählen, kann der Demokratisierungsvertrag verabschiedet werden, ohne geltende Regeln zu verletzen."
Hans-Dietrich Genscher (links) und Theo Waigel (rechts) unterzeichnen am 7. Februar 1992 den Vertrag zur Wirtschafts- und Währungsunion der Europäischen Gemeinschaft in Maastricht (Niederlande). 
Maastrichter Verträge: Vom Wirtschaftsverbund zur politischen Union
Der Gipfel von Maastricht am 9. und 10. Dezember 1991 war ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Europäischen Union. Die Staats- und Regierungschefs der damaligen Europäischen Gemeinschaft vereinbarten eine neue Qualität der Zusammenarbeit.
Die Europäische Union unterliegt intern wie extern dem Stresstest globalisierter Turbulenzen. Das Versäumnis des Maastricht-Vertrags von 1992 müsse, so Piketty, endlich behoben werden, sprich: dass eine gemeinsame Währung auch einer gemeinsamen Finanz- und Steuerpolitik bedürfe. Das von den Mitgliedsstaaten zugestandene Budget der EU beträgt um die ein Prozent des europäischen Bruttosozialprodukts. Unabhängig von Pikettys Buch gab sein Fachkollege Jean Pisani-Ferry anlässlich der Coronakrise zu bedenken, dass die finanziellen Mittel der EU für solche Extremsituationen viel zu schmal bemessen sind. Ob Klimaschutz, Verteidigung oder Seuchengefahr – die Europäische Union muss handlungsfähiger werden.
Konkret bedeutet das für Thomas Piketty: Die großen Länder der Union müssen die fehlende Steuerkoordination selbst auf den Weg bringen und de facto abverlangen; und die drei Möglichkeiten von Besitz – öffentlich, teilhabend und privat auf Zeit – müssen gleichermaßen verwirklicht werden, so dass ein Erben für alle die Produktivität steigert, das Vertrauen in gerechte Verteilung und damit auch in die Demokratie. Das sind nur zwei der Forderungen, mit denen er zum Abschluss seines Buches das Bild eines, wie er es nennt, partizipativen Sozialismus der Zukunft zeichnet und damit seine eigene Position ideologisch begründet.
Der Fehler des sowjetischen Kommunismus war die Doktrin einer kollektivierten Planwirtschaft. Und der Niedergang sozialdemokratischer Parteien in Europa hängt in der Darstellung Pikettys mit zwei Dingen zusammen: Sie sind im Rahmen der Bildungsoffensive seit den 70er-Jahren zu Parteien der Diplomierten und Studierten geworden und haben die Arbeiterschicht als Wähler vielfach verloren; und sie haben entgegen ihres Credos der Internationalität sich nicht selbst international vernetzt, während die New Economy der Globalisierung das massiv tat.
Die Hochzeit privater Reichtümer war das 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg. Dann holten die sozialen Bewegungen auf und gewannen nach den Katastrophen der Weltkriege an Oberwasser, die Zeit der sozialen Marktwirtschaft und Wohlfahrtsstaaten begann, bis in die 70er-Jahre. Der neoliberale Gegenwind habe sich vor allem durch die beiden Gründe für den Niedergang der Sozialdemokratie in Europa entwickeln können, mit einem hemmungslosen Aufschwung seit dem Fall der Mauer und der Sowjetunion.
Es sei an der Zeit, Europa für eine soziale Vision zu öffnen, einen marktwirtschaftlichen, dezentralistischen Sozialismus dreier Formen von Besitz der langfristigen Umverteilung. Man mag diese Position als unrealistisch abtun. Unrealistisch ist aber nur eins: Das alles so bleibt wie es ist.
Thomas Piketty: "Kapital und Ideologie"
aus dem Französischen von André Hansen, Enrico Heinemann, Stefan Lorenzer, Ursel Schäfer und Nastasja S. Dresler
mit 158 Grafiken und 11 Tabellen
C.H. Beck Verlag, München. 1312 Seiten, 39,95 Euro.