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Thomas Wüpper
"Betriebsstörung. Das Chaos bei der Bahn"

Wer auf die Deutsche Bahn eindrischt, schlägt den Sack und meint den Esel – davon ist Thomas Wüpper überzeugt. Denn für Pleiten und Pannen der Bahn sei die Politik mindestens ebenso verantwortlich. Wüpper zieht Bilanz und listet auf, was man besser machen könnte.

Von Michael Kuhlmann | 25.11.2019
Das Buchcover "Betriebsstörung. Das Chaos bei der Bahn" vor einem HIntergrundbild: Eine Menschenmenge auf dem Bahnsteig der S-Bahn U4 in München.
Eine Menschenmenge auf dem Bahnsteig der S-Bahn in München (Ch. Links Verlag / Hintergrundbild: imago stock&people / Robin Droemer)
Die Deutsche Bahn AG – bei jedem Cocktail-Empfang und in jeder Kneipe gibt sie mit ihren Pannen ein Gesprächsthema her. Thomas Wüpper hält aber nichts davon, nur auf die DB einzudreschen. Vorgaben bekomme die Bahn schließlich von der Politik. Und deren Wirken hat der Bundesrechnungshof gerade in diesem Jahr wieder unter die Lupe genommen. Wüpper schreibt:
"Das Fazit des Sonderberichtes vom Januar 2019 ist eindeutig: Der Staat hat bei der Bahn versagt, die Kernziele der Reform wurden verfehlt. Der Konzern verliere Marktanteile, habe große Qualitätsprobleme und Schulden – und viel Geld im Ausland verschleudert."
Die Bahn in politischen Fesseln
Wüpper zeigt, wie die Politik die Bahn über Jahrzehnte finanziell vernachlässigte: aus Geiz und Desinteresse. Und die Folgen? Der Autor erinnert an den 57 Kilometer langen Gotthard-Basistunnel, der den Güterverkehr durch die Schweiz enorm beschleunigt. Das Nadelöhr liegt auf deutscher Seite: in Gestalt der hoffnungslos überlasteten Rheintalbahn von Karlsruhe nach Basel. Die Bilanz:
"Während die Schweizer trotz schwieriger Gegebenheiten in den Alpen ein faszinierendes Jahrhundertbauwerk geschaffen haben, haben es die Deutsche Bahn als Bauherr und die Politik in mehr als dreißig Jahren nicht fertiggebracht, auf ebener Strecke zwei zusätzliche Gleise zu legen."
Und den Geschwindigkeitsrekord zwischen den Metropolen Berlin und Dresden hält immer noch ein Dampf-Stromlinienzug von 1939. Auf Rekorde aber kommt es Wüpper gar nicht an. Er fragt, ob man mit teuren Neubaustrecken die Reisezeiten wirklich effektiv verkürzen könne. Gerade in einem so dichtbesiedelten Land wie Deutschland.
In unserem Nachbarland Frankreich fährt man von Paris nach Bordeaux – das entspricht der Entfernung von Köln nach München – in zwei Stunden. Der deutsche ICE braucht für die Distanz mehr als doppelt so lang: Er fährt durch mehr Kurven und muss öfter halten. Hochgeschwindigkeitsverkehr stößt in Deutschland also an Grenzen. Und so deutet Wüpper an, dass hierzulande das Reisetempo effektiver erhöht, wer in schnellen Nahverkehr investiert.
Profit oder Gemeinwohl?
Auch unabhängig von Prestigeprojekten sieht Wüpper die Deutsche Bahn auch 25 Jahre nach der Reform noch in einem Kernwiderspruch:
"Einerseits soll der Konzern für den Staat als Eigentümer Gewinne erzielen. Andererseits hat der Staat aber gemäß der Verfassung eine weitreichende Fürsorgepflicht: dahin gehend, dass die Verkehrsangebote auf der Schiene den Bedürfnissen der Menschen entsprechen."
Gemeinwohl oder Gewinnmaximierung – vor dieser Entscheidung kneift die Politik bis heute. Klar, dass der Autor für Gemeinwohlorientierung plädiert. Und für das Gemeinwohl habe gerade die Bahnreform Mitte der 90er Jahre Schattenseiten mit sich gebracht, erklärt Wüpper. Die könne man studieren, sobald Claus Weselsky und seine GDL wieder mal einen Lokführerstreik ausriefen.
"Den Schlamassel hat den Fahrgästen aber nicht Weselsky, sondern die Politik eingebrockt. Seit der Bahnreform dürfen Lokführer streiken. Zuvor waren sie aus gutem Grund Beamte und damit zum Dienst verpflichtet. Der Staat sorgte für gute Löhne und Arbeitsbedingungen, dafür fuhren die Züge zuverlässig. Gelungene Daseinsvorsorge für Mitarbeiter wie Bahnkunden. Kein billiges System, aber es funktionierte."
Es funktionierte in der Tat – selbst auf Strecken, die bis an die Grenze ausgelastet waren.
Fataler Sparzwang
Erst in den 90ern änderte sich das, als die Politik mehr denn je auf die Kosten drückte. Auch im 21. Jahrhundert wurde die Bahn zum Sparen verdonnert: darunter litten besonders Gleise, Weichen, Signalanlagen. Und hier, bei der Infrastruktur, setzt Wüpper mit seinem Reformplädoyer an: Das Schienennetz müsse endlich heraus aus dem DB-Konzern und von einer bundeseigenen Gesellschaft übernommen werden. Ohne Profitzwang. Denn:
"Eine gemeinnützige Netzgesellschaft in Bundesbesitz könnte alle Interessengruppen fair beteiligen: Regional- und Güterbahnen, Verkehrsverbünde, Fahrgast-, Verkehrs- und Umweltverbünde, Bundesländer und Kommunen sowie Arbeitnehmervertreter. Und die Festlegung von Trassenpreisen würde nicht mehr von den Gewinninteressen einer Netz AG bestimmt, sondern allein vom Interesse, möglichst viel attraktiven, preisgünstigen und klimaschonenden Schienenverkehr zu schaffen."
Die Politik ist am Zug
Das kostet viel Geld. Ohne neue Schulden wird es also nicht gehen – denn bei Wartung und Instandhaltung sind enorme Rückstände aufgelaufen. Erst wenn das Netz wieder intakt und die Finanzflüsse transparent wären, ließen sich Wüppers weitere Ideen umsetzen: faire Konkurrenz der Bahnunternehmen, billigere Fahrkarten, einheitliche Taktfahrpläne für die ganze Republik, vernetzte Angebote von Haustür zu Haustür, schließlich ein Fahrschein per Smartphone für alle Verkehrsmittel.
Solche Ideen sind nicht neu; Thomas Wüppers Verdienst ist es aber, die politischen Missgriffe und die unternehmerischen Fehlentscheidungen ebenso griffig zusammenzufassen wie die Reformmöglichkeiten, und das alles in äußerst lesbarer Form. Wüpper punktet mit seinem großen Hintergrundwissen, dessen Quellen er allerdings öfter verschweigt – um seine Informanten zu schützen. Diese 250 Seiten sind eine erhellende und letztlich doch ermutigende Lektüre – nicht nur, wenn man das nächste Mal wieder in einem überfüllten ICE auf dem Gangboden sitzt.
Thomas Wüpper: "Betriebsstörung. Das Chaos bei der Bahn und die überfällige Verkehrswende",
Ch. Links Verlag, 264 Seiten, 15 Euro.