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Thüringen
"Der Begriff parlamentsunwürdig muss gestrichen werden"

Rot-Rot-Grün in Thüringen will die "Parlamentsunwürdigkeit" von Ex-Stasi-Spitzeln abschaffen. Es sei richtig, dass der Begriff falle, sagte Stephan Hilsberg, Mitbegründer der Ost-SPD, im DLF. Aber Ex-Stasi-Spitzel sollten trotzdem nicht Teil des Landtages sein.

Stephan Hilsberg im Gespräch mit Christine Heuer | 02.04.2015
    Stephan Hilsberg, Mitbegründer der ostdeutschen SPD
    Stephan Hilsberg, Mitbegründer der ostdeutschen SPD (picture alliance / dpa / Foto: Karlheinz Schindler)
    "Leute, die Menschen aus niedrigen Beweggründen ans Messer geliefert haben, ohne dass die sich wehren konnten, gehören schlicht und einfach nicht ins Parlament", sagte Hilsberg. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) setze diesen Grundsatz schon seit zehn Jahren außer Kraft. Deshalb sieht Hilsberg in den aktuellen Plänen, den Begriff "parlamentsunwürdig" abzuschaffen, auch den Versuch der Linkspartei, die Vergangenheit zu verharmlosen. Gleichwohl befürwortet er die Abschaffung: "Einen Tugendapostel hier zu spielen ist eine Rolle, die ein Parlament sich nicht anmaßen sollte". Wichtiger sei die Aufklärung solcher Fälle von ehemaliger Stasi-Mitarbeit, "damit die Öffentlichkeit weiß, mit wem sie es da zu tun hat".
    Mit der Bezeichnung "parlamentsunwürdig" hat die Stasi-Kommission des Thüringer Landtags den Linkspartei-Abgeordneten Frank Kuschel belegt, weil er als Spitzel für die Stasi tätig war.

    Das Interview in voller Länge:
    Christine Heuer: "Parlamentsunwürdig", das ist mehr als ein Misstrauensvotum. Das ist eine klare Absage eines Parlaments an Abgeordnete. Im Thüringer Landtag sitzt derzeit ein Abgeordneter der Linkspartei, dem eine Parlamentskommission bescheinigt hat, parlamentsunwürdig zu sein. Frank Kuschel hatte als Stasi-Mitarbeiter in der DDR Ausreisewillige drangsaliert. Deshalb gilt er als parlamentsunwürdig. Die von der Linkspartei geführte rot-rot-grüne Landesregierung möchte die Möglichkeit, Abgeordnete mit diesem Verdikt zu belegen, jetzt aber abschaffen. Und ich möchte darüber sprechen mit Stephan Hilsberg, der nach der Wende Gründungsmitglied der neuen DDR-SPD war. Guten Morgen, Herr Hilsberg.
    Stephan Hilsberg: Guten Morgen, Frau Heuer.
    Heuer: Rot-Rot-Grün in Thüringen möchte die Parlamentsunwürdigkeit, die Möglichkeit dieses Verdikts für ehemalige Stasi-Spitzel abschaffen. Wie finden Sie das?
    Hilsberg: Na ja, da sind für meine Begriffe zwei Aspekte wichtig. Das eine ist: Ich glaube schon, dass ein solcher Begriff "Parlamentsunwürdig" nicht von einem Parlament als Ganzes verhangen werden sollte. Es geht bei der Frage, ob jemand, der Mitarbeiter der Stasi war, im Parlament ist, in erster Linie um die Aufklärung, damit die Öffentlichkeit weiß, mit wem sie es da zu tun hat, dass die konspirativen Strukturen aus der ehemaligen DDR mit dem Staatssicherheitsdienst nicht in den modernen Parlamenten weiterwirken, und es geht auch um etwas ganz Wichtiges, nämlich dass Leute, die aus niedrigen Beweggründen andere Menschen ans Messer geliefert haben, ohne dass die sich wehren konnten, schlicht und einfach nicht ins Parlament gehören.
    Aber das ist das eine. Nur das mit dem Begriff "Parlamentsunwürdig" zu versehen, also sozusagen einen Tugendapostel hier zu spielen, das ist eine Rolle, die sich ein Parlament nicht anmaßen sollte. Es sollte ganz bewusst sich zurückhalten auf die entsprechende Aufklärung und den Rest den Parteien und Wählern überlassen, und dass insofern der Begriff "Parlamentsunwürdig" in Thüringen fällt, das ist eigentlich richtig.
    Der eigentliche Skandal in Thüringen ist ein ganz anderer, nämlich dass dieser Grundsatz, dass Leute, die aus niedrigen Beweggründen andere Menschen ans Messer geliefert haben, die bei der Staatssicherheit waren, nicht ins Parlament gehören, dass dieser Grundsatz von Bodo Ramelow, dem Linken-Ministerpräsidenten in Thüringen, ja im Grunde genommen schon seit zehn Jahren außer Kraft gesetzt wurde.
    "Dass ein Parlament über die eigenen Leute ein Urteil fällt, ist erlaubt und ist sogar notwendig"
    Heuer: Aber, Herr Hilsberg, auch von den Wählern, denn die haben ja Frank Kuschel, den ich in der Anmoderation erwähnt habe, gewählt und die wählen den ja immer wieder.
    Hilsberg: Ja natürlich, das ist richtig. Das ist ja auch nicht der Punkt. Wichtig ist, dass man das weiß, um was es hier geht, und die Wähler der Linkspartei - wie viel sind das? 29 Prozent, abzüglich der Wahlbeteiligung, dann haben wir vielleicht 13 Prozent der Wähler -, die sind der Meinung, auch Stasi-Leute sollten im Parlament sitzen. Das ist eigentlich kein Problem, das darf dann schon sein. Nur muss es bekannt sein, das ist schon richtig.
    Heuer: Aber Sie sind dagegen, dass das Parlament diese Parlamentsunwürdigkeit aussprechen darf. Ich habe mich auch gefragt: Ist das in der Gewaltenteilung eigentlich überhaupt erlaubt, dass ein Parlament über die eigenen Leute ein Urteil fällt?
    Hilsberg: Dass ein Parlament über die eigenen Leute ein Urteil fällt, ist erlaubt und ist sogar notwendig. Deshalb gibt es ja die Institution der Untersuchungsausschüsse. Aber die Institution des Abgeordnetenmandats ist so wichtig - das steht ja in Artikel 38 des Grundgesetzes drin -, dass das Parlament zurecht nicht das Recht besitzt, jemandem sozusagen eine Parlamentswürdigkeit zu bescheinigen oder nicht. Das entscheidet in der Tat der Wähler, und eine solche Entscheidung ist auch immer anzuerkennen und zu respektieren, ganz gleich, ob ich das richtig finde, diese Wahlentscheidung richtig finde oder nicht. Deshalb sollte sich das Parlament zumindest bei solchen moralischen Bewertungen zurückhalten und deshalb ist es schon richtig, dass der Begriff "Parlamentsunwürdig" fällt.
    Heuer: Frank Kuschel, der ehemalige Stasi-Mitarbeiter, der als parlamentsunwürdig gilt in Erfurt, der nennt heute die DDR einen Unrechtsstaat, ganz klar, und seine IM-Tätigkeit einen schweren Fehler. Ist so jemand wirklich begrifflich oder auch inhaltlich parlamentsunwürdig?
    Hilsberg: Na ja, ich habe das ein bisschen anders gelesen. Frank Kuschel zeigt keine wirkliche Reue in dem Sinne, dass ihm sein Wirken damals auch gegenüber den Opfern leid tut, sondern er sagt, das sei ein politischer Fehler gewesen, in dem Sinne, dass es aus heutigen politischen Gesichtspunkten nicht richtig war. Auf der anderen Seite bekennt er sich hundertprozentig dazu. Er sagt, er sei extrem ehrgeizig gewesen, er wollte in diesem Staat nach vorne kommen. Er hat bedauert, dass er nicht Bürgermeister bleiben konnte, damals zur Zeit der friedlichen Revolution. Dem war der Ehrgeiz immer sehr viel wichtiger und das politische Fortkommen als das Schicksal der Leute, mit denen er zu tun hatte, und er hat als entsprechender Beauftragter in seiner Stadt Ilmenau sozusagen die Ausreisewilligen erpresserisch behandelt, er hat darüber regelmäßig Berichte geschrieben und die haben den Leuten schon geschadet. Und dass er da den Leuten persönlich geschadet hat, da habe ich bis jetzt kein Wort des Bedauerns gefunden. Ich finde auch bei ihm keine wirkliche Reue. Ein politischer Fehler ist etwas anderes als menschliche Reue empfinden.
    Heuer: Herr Hilsberg, erleben wir damit jetzt das, was die Gegner von Rot-Rot-Grün in Thüringen, zu denen Sie ja gehören, immer befürchtet haben, nämlich eine krasse Verharmlosung der Vergangenheit?
    Hilsberg: Ja, das ist richtig. Hier wird etwas normalisiert, was nicht normal ist, und das ist auch sehr bedauerlich. Dass die Linkspartei so etwas tut, hat mit ihrer Identität als ehemalige SED zu tun. Die bekennt sich schlicht und einfach zu dem Staatswesen und zu dem Diktaturwesen, was der DDR-Sozialismus gewesen ist. Aber die friedliche Revolution hat neue Kriterien ausgerichtet und die hat gesagt, Leute, die für dieses System verantwortlich tätig waren und die bei der Staatssicherheit waren und Menschen geschadet haben, gehören nicht in Parlamente, weil ein Parlament immer auch so etwas wie eine Vorbildfunktion hat und weil es ein anderes menschliches, eben ein demokratisches System repräsentiert, und das tut man nicht, wenn man politisch verantwortlich war und für die Stasi verantwortlich war.
    Heuer: Aber die SPD in Thüringen macht da ja mit, denn sie hat sich für diese Regierung entschieden.
    Hilsberg: Das ist das Problem.
    Hilsberg: SPD "macht für meine Begriffe einen Fehler"
    Heuer: Die SPD macht aus Ihrer Sicht, das sagen Sie nach wie vor, einen Fehler?
    Hilsberg: Sie macht für meine Begriffe einen Fehler. Es ist ja nicht ihr Kriterium, was Bodo Ramelow da anlegt. Das betrifft übrigens die Grüne-Partei ganz genauso. Sondern das macht Bodo Ramelow, weil er auf diese Leute nicht verzichten will und weil er im Grunde genommen sie voll akzeptieren lassen will in unserer Zeit und in unserer Gesellschaft, und es wäre Sache der SPD und der Grünen gewesen, bei den Koalitionsverhandlungen darauf hinzuweisen und zu sagen, das ist eine Sache, die gehen wir nicht mit. Das haben sie seinerzeit nicht getan. Es ist auch klar, warum sie das nicht getan haben: Sie wollten unbedingt eine rot-rot-grüne Koalition, die Ablösung der CDU, und haben dadurch immer in Kauf genommen, dass in der Linkspartei zwei Leute sitzen - das ist ja nicht nur Frank Kuschel, sondern das ist auch Ina Leukefeld -, die bei der Staatssicherheit waren und von deren Zustimmung die Stabilität der ganzen Koalition abhängt.
    Heuer: Herr Hilsberg, wir haben ungefähr 30 Sekunden noch. Sagen Sie doch mal kurz: Was empfehlen Sie Ihrer Partei in Thüringen? Soll die austreten aus dieser Regierung?
    Hilsberg: Sie sollte das bewusst zum Thema machen. Der Begriff "Parlamentsunwürdig" muss gestrichen werden. Aber die Forderung, dass solche Leute nicht ins Parlament gehören, die gehört auf die Tagesordnung. Und man sollte dem Vorschlag von Herrn Dietrich, dem Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, entsprechen und eine ganz klare Überprüfung auch für die Systemverantwortlichen in CDU und in der ehemaligen SED, also der Linkspartei, da auch eine Aufklärung durchzuführen, eine stärkere als bisher, der sollte man nachkommen und endlich anfangen, wirklich aufzuklären und nicht nur den Begriff "Parlamentsunwürdig" zu streichen.
    Heuer: Stephan Hilsberg, Gründungsmitglied nach der Wende der neuen DDR-SPD. Ich danke Ihnen fürs Gespräch, Herr Hilsberg.
    Hilsberg: Bitte schön! Ich bedanke mich ebenfalls.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.