Lia Thomas ist 22 Jahre, bricht im Schwimmen an ihrer Universität in Pennsylvania einen Rekord nach dem anderen. Gefeiert wird sie dafür von der medialen Öffentlichkeit aber nicht, weil die 22-Jährige als transgender Athletin erst seit dieser Saison in der Frauen-Kategorie an den Start geht. "Wir haben schon damit gerechnet, dass es einen gewissen Widerstand geben wird – aber nicht in dem Ausmaß, wie es jetzt passiert ist", sagt Thomas in einem Podcast-Interview.
Ihre Bestzeiten in dieser Saison sind weit entfernt von den Zeiten, die sie vor einigen Jahren noch in der Männer-Klasse aufgestellt hat. Trotzdem ist sie sehr viel schneller als ihre Mitstreiterinnen. Der Aufschrei ist riesig – vor allem konservative TV-Analysten und Politiker*innen beschweren sich über die vermeintlich unfaire Tatsache, dass Thomas in der Frauen-Klasse starten darf – obwohl sie die Vorgaben der NCAA, der Organisation, die in Amerika für den College-Sport zuständig ist, erfüllt.
"Ich nehme auch täglich weiterhin Medikamente, die mein Testosteronlevel niedrig halten. Das ist Teil der Hormontherapie, um meine Geschlechtsangleichung weiter voranzutreiben. Das ist ein stetiger Prozess, es gibt keinen eindeutigen Endpunkt einer medizinischen Geschlechtsangleichung", sagt Lia Thomas. Thomas‘ Zeiten werden sich also im Laufe der Zeit denen ihrer Konkurrentinnen anpassen. Neue Rekorde wird sie wohl vorerst nicht brechen.
Trotzdem sieht sich jetzt auch die NCAA dazu gezwungen, das eigene Regelwerk anzupassen: Anstatt wie bisher mindestens ein Jahr Hormontherapie als Startvoraussetzung vorzuschreiben, obliegt es jetzt den nationalen Sportverbänden der jeweiligen Sportarten, eigene Richtwerte für ihre Sportart festzulegen, die vom College-Verband dann übernommen werden. Orientiert hat sich die NCAA dabei an den neuen Leitlinien des Internationalen Olympischen Komitees, die nach den Winterspielen in Peking in Kraft treten sollen.
IOC: Zehn-Punkte-Papier für weniger Diskriminierung
Zehn Punkte beinhaltet das im November veröffentlichte IOC-Papier, das explizit betont, es sei nur ein Rahmenwerk, an dem sich die internationalen Sportverbände bei der Gestaltung der eigenen Vorschriften orientieren sollen. Der Fokus des IOC liegt dabei auf Fairness, Inklusion und Nicht-Diskriminierung.
"Ich bin der Meinung, dass es durchaus positiv ist, dass das IOC sich für mehr Inklusion einsetzt", sagt Joanna Harper. Die Wissenschaftlerin forscht schon lange über transgender Athletinnen, war auch 2015 maßgeblich an dem IOC-Konzeptpapier beteiligt, das nach den Olympischen Winterspielen ad acta gelegt werden soll. Darin werden sportartenübergreifend klare Testosteron-Richtwerte für transgender und intergeschlechtliche Athlet*innen vorgeschrieben.
Von solchen Richtwerten ist im neuen Rahmenpapier des IOC nichts mehr zu lesen. Stattdessen wird klar betont, dass jede Athletin ein Recht auf Selbstbestimmung und Privatsphäre hat. Keine Sportlerin sollte aufgrund von nicht verifizierten und nur scheinbaren Wettbewerbsvorteilen aufgrund geschlechtlicher oder körperlicher Auffälligkeiten ausgeschlossen werden. Bis wissenschaftlich fundierte Beweise das Gegenteil beweisen, solle die Annahme gelten, dass transgender und intersexuelle Athletinnen keinen unfairen Vorteil hätten.
"Sie strengen sich wirklich an, eine Atmosphäre zu schaffen, die so inklusiv wie möglich ist. Und das ist eine gute Sache", sagt Joanna Harper – die aber genau diesen Punkt im IOC-Framework kritisiert. "Trans-Frauen und biologische, also cisgender, Frauen, sind zwei unterschiedliche Bevölkerungsgruppen. Und es wird immer Unterschiede zwischen Bevölkerungsgruppen geben. Und jedes Mal, wenn es Unterschiede gibt, wird eine dieser Gruppen eine Art Vorteil haben. Das ist einfach ein Fakt. Vor allem transgender Frauen sind im Durchschnitt größer, breiter und stärker als Cis-Frauen, auch nach der Hormontherapie. Und das ist in vielen Sportarten ein Vorteil. Und es ist eindeutig falsch, zu behaupten, dass trans* Frauen keinen Vorteil hätten, weil sie das offensichtlich haben."
Vorwurf an das IOC: wissenschaftliche Fakten übergangen
Ähnlich wie Joanna Harper sehen das auch rund 40 medizinische Expertinnen und Experten, Wissenschaftler*innen und weitere Sportfunktionäre, die in einer eigenen Stellungnahme darauf hinweisen, dass das neue IOC-Framework zu sehr aus einer Menschenrechtsperspektive verfasst wurde, ohne dabei jegliche wissenschaftliche Fakten mit einzubeziehen.
„Die Entscheidung vom IOC ist sicher an den Medizinern vorbei getroffen worden“, meint Jürgen Steinacker. Er leitet die Medizinische Kommission im Weltruderverband, beschäftigt sich seit Jahren intensiv mit transgender und intersex Athletinnen, und hat die Stellungnahme der medizinischen Expert*innen mitunterzeichnet. Wie Joanna Harper findet auch er lobende Worte für viele Punkte des neuen IOC-Papiers, wie beispielsweise das Recht auf körperliche Unversehrtheit und Privatsphäre. Aber: "Es gibt biologische Differenzen. Und da, wo sie wichtig und notwendig sind, müssen wir sie beachten. Und da fehlt halt in der IOC-Stellungnahme jeglicher Blick dafür."
"Das IOC lässt hier Führungswille vermissen", findet Joanna Harper. "Es könnte zum Beispiel immer noch vorschlagen, dass jeder Sportverband einzelne Lösungen finden muss, aber sie könnten dabei auch Hilfestellung leisten. Und das wäre aus meiner Sicht, als Grundlage festzuhalten: Transgender Frauen sollten als ersten Schritt in jedem Sport dazu aufgefordert sein, ein bestimmtes Testosteronlevel zu halten. Idealerweise im üblichen Bereich von Cis-Frauen."
Nach den Olympischen Spielen in Peking obliegt es aber den einzelnen Sportfachverbänden, eigene Regularien für transgender und intergeschlechtliche Athletinnen aufzustellen. "Wir Fachverbände müssen für uns diese Hausaufgaben machen", sagt Jürgen Steinacker vom Weltruderverband. "In der Sportart müssen wir nachweisen, ob es signifikante Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt. Wenn die signifikant sind, dann müssen wir eine Regel finden. Und ich glaube schon, dass wir da pro-aktiv agieren müssen."
Von Rudern bis Rugby: Weltverbände mit unterschiedlichen Regelungen
Das IOC betont, dass durch dieses Papier lediglich der erste Rahmen gesteckt wurde, man will die Verbände beim Findungsprozess begleiten. Bei einigen Weltverbänden wurde dieser Prozess schon vor einigen Jahren angestoßen, mit ersten Ergebnissen: Der Weltruderverband von Jürgen Steinacker hat klare Testosteron-Richtwerte für transgender Frauen festgelegt und eine Experten-Panel eingerichtet, das bei intergeschlechtlichen Athletinnen im Einzelfall entscheidet – dabei aber keine Therapieempfehlungen ausspricht. "Das wollen wir nicht. Das ist jedermanns individuelle Entscheidung. Und es gibt genügend Spezialisten, die man empfehlen kann. Wir wollen uns da aber nicht einmischen."
Auch der Leichtathletikweltverband hat nach den Fällen von intergeschlechtlichen Athletinnen wie der Südafrikanerin Caster Semenya inzwischen sein Regelwerk angepasst. Regularien, die auch vor dem Sportgerichtshof CAS bestand hatten. Einen anderen Weg geht der Welt-Rugbyverband, der aufgrund von wissenschaftlichen Studien zur umstrittenen Entscheidung gekommen ist, trans* Frauen aus Sicherheitsgründen von der Teilnahme in der Frauen-Klasse auszuschließen. Sieht so also die inklusive Zukunft aus, die das IOC sich wünscht?
Schwimmerin Lia Thomas darf weiter in Frauen-Klasse starten
"Es gibt jetzt drei Wege, die eingeschlagen werden können", meint Wissenschaftlerin Joanna Harper. "Die Sportverbände könnten sagen: Wir können trans* Frauen keine Einschränkungen vorschreiben, bis wir nicht wissenschaftlich fundierte Beweise haben. Ich glaube, dass das nur wenige Verbände machen werden. Ich glaube, dass der Großteil an Sportverbänden einfach die Regularien übernehmen wird, die der Leichtathletik-Weltverband ausgearbeitet hat. Aber es wird bestimmt auch ein paar Verbände geben, die das Modell vom Rugby-Verband übernehmen und trans* Frauen von der Frauen-Kategorie ausschließen werden."
Der Internationale und auch der US-Schwimmverband haben noch keine spezifischen Regelungen für trans* oder intergeschlechtliche Athlet*innen festgelegt. Das bedeutet, dass Lia Thomas wohl weiter für ihre Universität in der Frauen-Klasse an den Start gehen darf. Auch sie findet, "dass die neuen IOC-Richtlinien sehr gut sind und es schaffen, Inklusion zu fördern und gleichzeitig die Privatsphäre zu respektieren ohne irgendjemanden dazu zu zwingen, sich unwohl zu fühlen".